Urs Triviall

Der Vorfall


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des Festials. Es gefällt ihm sehr, sie haben Erfolg.“

      „War er da nicht schon einmal?“

      „Ja, er ist jetzt schon zum viertel Mal dort.“

      „Verstehe das bitte, aber ich möchte sie nicht anrufen. Da sie meine Kinder sind, könnte ich das zwar, aber ich möchte sie nicht dieser psychischen Belastung aussetzen.“

      „Das ist gut,“ sagte ich sofort.

      „Fast alle hier telefonieren inzwischen mit ihren Verwandten. Und die, die keine mehr auf der Erde haben, sind traurig.“

      „Ist ja irre!“

      „Alles irre – aus menschlicher Sicht. Aber eigentlich ganz normal. Alle Toten landen im Jenseits und finden hier ihre geistige Existenz für die Ewigkeit.“

      „Wie geht das denn?“

      „Frag mich das nicht. Ich weiß es nicht. Aus allen Jahrhunderten geistern hier ehemalige Menschen herum. Eine illustre Gesellschaft. Geist und Seele sind in einer Hülle, die unserer irdischen Gestalt gleichkommt. Körperlose Wesen, sichtbar, aber nicht greifbar. Unser Dasein besteht aus Denken, und da jeder sein Wissen und seine Erfahrung mitbringt, kannst du dir vielleicht vorstellen, was hier los ist. Nicht trinken, essen, schlafen – nur denken.

      „Mir schwirrt der Kopf.“

      „Soll ich erst einmal aufhören.“

      „Aus allen Jahrhunderten?“

      „Ja. Aber die Jahrhunderte bleiben meist unter sich. Man hat sich gegenseitig wenig zu sagen. Die meisten Turbulenzen gibt es in den letzten drei Jahrhunderten. So mit Goethe geht es los. Meist lange Debatten über die Ohnmacht des Humanismus. Um Gott oder Götter geht es auch oft. Das letzte Jahrhundert ist ein absoluter Aufreger.“

      „Was meinst du mit Aufreger?“

      „Da gibt es am meisten zu debattieren, weil alles noch so frisch ist. Das ist ja so: Die große Mehrheit der Jenseitser will ihre Ruhe haben. Sie meinen, sollen die da auf der Erde mal machen, wir haben es hinter uns. Sie dösen vor sich hin und scheinen ewig zu schlafen, obwohl sie gar nicht pennen. Aber die großen Geister, so wie Shakespeare oder Marx zum Bei-spiel, die regen sich immer wieder auf über die sagenhaften Zustände auf der Erde und unternehmen alles, um noch einmal Einfluss zu gewinnen. Durch die Spitzentechnologie auf der Erde wird das nach Jahrtausenden auf einmal möglich. Aber sie selbst können nicht mehr telefonieren, denn sie haben keine Angehörigen mehr auf der Erde. Irgendwas mit den Genen scheint da eine Rolle zu spielen. Nun suchen sie nach Möglichkeiten, die Menschen dennoch zu erreichen und sie aus ihrer Lethargie aufzuscheuchen. Sie bauen auf die, die noch Verwandte auf der Erde haben, die etwas unternehmen könnten.“

      „Das klingt ja nach Verschwörung!“

      „Du sagst es!“

      „Faszinierend! Und sag mal: Sind nicht überall auch Leute von anderen Erden dazwischen?“

      „Selbstverständlich. Es gibt viele Erden.“

      „Und was wollen deren Bewohner?“

      „Keine Ahnung. Kümmert mich auch nicht. Der Zugriff auf die Erde ist schon spannend genug.“

      „Zugriff?“

      „Noch ist es nur Absicht.“

      „Mann, Mann! Jetzt reicht es erst einmal. Schade, dass ich dich nicht anrufen kann.“

      „Macht nichts! Lass es dir gut gehen. Ich melde mich wieder. Tschüss!“

      Wie im Fieber

      Jeder Leser und gewiss auch jede Leserin wird zugeben, dass ich mich lange gegen das Unfassbare gewehrt habe. Mir war etwas widerfahren, was noch nie einem Menschen widerfahren ist. Angeblich hatte ich einen heißen Draht ins Jenseits, an dessen Ende obendrein und groteskerweise meine verstobene Frau sein sollte. Das konnte nicht stimmen, das konnte es nicht geben. Und ich wehrte mich. Nun habe ich mich schließlich denn doch darauf eingelassen. Zwar hegte ich tief in meinem Innern noch immer erhebliche Zweifel, vermutete dies oder jenes, ohne dass ich mir einen Reim hätte darauf machen können, doch letztlich - wie es dem Menschen auf Erden halt beschieden ist - hatte ich mich in mein Schicksal gefügt. Und lebte fortan wie im Fieber.

      Am meisten erregte mich die Vermutung, meine Frau könnte nicht nur aus eigenem Interesse anrufen, sondern von einer fremden Macht dazu angehalten werden. Wenn alle Menschen ins Jenseits kommen, dann ja auch alle irdischen Schurken. Und welche Möglichkeiten sich denen dort eröffnen, hat meine liebe Petra wahrscheinlich noch gar nicht mitbekommen. Sie sucht offenbar die Nähe der großen Geister. Einen Blick für Schurken hat sie nicht. Hitler würde sie natürlich erkennen, höchstwahrscheinlich auch andere Kriegsverbrecher, wie zum Beispiel USA-Präsident Lyndon B. Johnson, den Giftkrieger gegen Vietnm. Aber Terroristen wie zum Beispiel Bin Laden und diese Kaliber?

      Das Problem ist, mutmaßte ich: Die Unredlichen, die Gauner, die notorischen Lügner und Kriegstreiber aller Zeiten gehören nicht zur Sorte dösender Jenseitser, sondern sinnen unentwegt auf erneuten Einfluss - im Jenseits wie auf der Erde. Könnte Petra unter deren Einfluss stehen, ohne es zu ahnen? Zugegeben, ich ging bei meinen Überlegungen von irdischen Verhältnissen und Erfahrungen aus. Das Jenseits ist höchstwahrscheinlich auch in dieser Hinsicht ganz anders gestrickt. Ich hoffte, dass der Zugriff auf die Erde, von dem Petra sprach, dem Wohl und Gedeihen der Menschen dienen werde. Wenn die Redlichen aus allen Jahrhunderten sich zusammenschließen würden, dann hätte das Gute vielleicht eine Chance. Trotz aller Entfernung.

      Wie gesagt, ich lebte im Fieber, dürstete geradezu danach, von Petra Auskunft zu bekommen. Leider hatte sie es mit ihren Anrufen nicht so eilig. Tagelang saß ich in der Nähe des Telefons, doch es schwieg. Und auch in den Nächten fand ich wieder keine Ruhe. Meine Erregung eskalierte durch eine Meldung aus den USA. Da hieß es aus angeblich gut informierten Regierungskreisen, bei den neuerdings hier und da aufgetretenen befremdlichen Erkrankungen, bei denen Bürger behaupten, Kontakt mit dem Jenseits zu haben, handle es sich um ein Virus, das offenbar aus China eingeschleppt worden sei. Allerdings bestünde ganz und gar keine Gewissheit. Das stand ohne Kommentar in meiner Zeitung. Ich wusste sofort, dass die Amerikaner mit ihrer Beschuldigung in die Irre gingen. Und ich wusste zugleich, dass der Zugriff auf die Erde, von der meine Frau gesprochen hatte, offenkundig bereits in vollem Gange war.

      Als Petra endlich wieder anrief und ich sie fragte, meinte sie, das seien alles zunächst rein private Anrufe. Es sei noch viel zu diskutieren und abzuklären. Man wolle sich so einig wie möglich sein. Und da alle mitreden, Kompetente und Inkompetente, sei es sehr schwer, Übereinstimmung zu finden. Am weitesten seien sie bei den Themen sozialer Fortschritt und Abrüstung, das Thema Demokratie oder Tyrannis sei sehr zäh, das Thema Religion schier unerschöpflich und wahrscheinlich unlösbar und das Thema Erderwärmung noch nicht einmal auf irgendeiner Tagesordnung.

      Das waren unvermutet höchst interessante Auskünfte. Petra hatte mir ganz nebenbei eine Menge Stoff zum Nachdenken serviert. Ich hakte allerdings nicht nach, sondern ging erst einmal zu dem Thema über, das mich aktuell beunruhigte, nämlich die Möglichkeit, dass meine liebe Frau irgendwelchen jenseitigen Schurken sozusagen die Drecksarbeit machen könnte. Sie lachte ihr herzhaftes Lachen und sagte:

      „Mein Lieber, deine irdische Sorge ist zwar verständlich, aber völlig überflüssig. Mit Hitler lasse ich mich nicht ein, so sehr der sich auch bemühen mag, geläutert daher zu kommen.“

      „Es muss ja nun wirklich nicht gleich Hitler sein!“

      „An wen denkst du?“

      „Na, es gibt doch genug Schurken!“

      „Nun sag schon!“

      „Na, sagen wir mal Pinochet oder Pol Pot.“

      „Ach, du lieber Himmel.“

      „Entschuldige, entschuldige vielmals. Ich merke schon, bin auf der falschen Spur.“

      „Mein lieber Mann, du bist außerhalb