Urs Triviall

Der Vorfall


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die meine Frau sein wollte, neu sortieren. So plante ich ein möglichst kurzes Gespräch mit Frau Runge; ging daher auch nicht zum Bäcker, sondern stellte demonstrativ nur zwei Gläser und eine Flasche Stilles Wasser auf den Tisch. Das Wetter war leidlich, die Temperatur im Rahmen – Gemütlichkeit würde nicht aufkommen. Und wenn, müsste ich dagegen steuern.

      Frau Runge, stellte ich sofort fest, war eine schöne Frau! So auffallend attraktiv hatte ich sie gar nicht in Erinnerung. Als ich ihr mein Gartentor öffnete, überkam mich sofort eine stille Sehnsucht. Ich hatte mein Leben lang immer wieder überrascht registriert, dass mein Wahrnehmungssystem in Sachen Weiblichkeit von aufregender Sensibilität war. Es konnte mir widerfahren, dass ich auf der Straße eine Frau sah und sofort erotische Regungen hatte, ein Verlangen und Begehren, das lästig sein konnte, weil es stets Wünsche provozierte, die nicht erfüllbar waren. Mit dem Alter war dieser erotische Mechanismus gewissermaßen eingerostet, aber jetzt schien er wieder mobil zu sein und drängte erst einmal alle übrige Welt in den Hintergrund.

      Die Besucherin hatte mein Aufmerken offenbar registriert. Ich sah heimliche Genugtuung und wachsende Zuversicht.

      „Guten Tag, junge Frau,“ sagte ich.

      „Ich grüße Sie und bedanke mich sehr!“ sagte sie ergeben und trat ein. Ich geleitete sie zur Terrasse. Vor mir her lief federnden Schrittes ein Weib in den besten Jahren. Ihr kurzes Kleid gab den Blick frei auf ihre energischen Waden, die mir partout etwas zu mächtig geraten schienen. Ich amüsierte mich über meine noch immer funktionierende Neigung, Vorzüge und Nachteile des anderen Geschlechts spontan zu analysieren und schöne Anblicke mehr oder weniger zu genießen. Schon waren wir auf der Terrasse angekommen und mein Gast nahm resolut Platz, packte hurtig ein Notebook vor sich hin und schaute mich erwartungsvoll an.

      „Oh, gleich zur Sache!“ sagte ich respektvoll und durchaus zugleich darum bemüht, die Besuchszeit knapp zu halten. Der kurze kleine Trip in erotische Gefilde war ohnehin vorbei. Wie sie nun so saß, schien sie mir denn doch etwas zu korpulent geraten. In der Wissenschaft war sie ohne Zweifel besser aufgehoben als auf der Bühne.

      „Ja,“ sagte sie gedehnt und fragte, „kann ich gleich zu meiner wichtigsten Frage kommen? Sie brennt mir auf der Zunge.“

      „Aber bitte,“ entgegnete ich und setzte mich. „Vorher aber ein bisschen Wasser, falls die Frage etwas umfangreich sein sollte“, fügte ich augenzwinkernd hinzu und goss ihr Wasser ins Glas.

      „Danke, sehr aufmerksam“, reagierte sie und nahm einen Schluck. Dann holte sie betont theatralisch Luft und fragte: „Kann es sein, dass Sie Ihre Methode eigentlich nicht zu Ende gedacht haben?“

      Ich war überrascht, denn sie traf voll ins Schwarze.

      „Ja!“ sagte ich ehrlich, wie ich nun einmal bin.

      Bestätigt durch meine Antwort holte sie erneut tief Luft und fuhr fort. „Sie projizieren Hegels Negation der Negation auf die Schauspielkunst, bleiben aber bei der Hälfte stehen. Sie untersuchen die erste Negation, die von der Improvisation zur Fixation, wie sie diese Phase zu Recht nennen. Aber Sie untersuchen nicht die zweite Phase, die von der Fixation zur Improvisation auf höherer Ebene, die ja möglicherweise und überhaupt die wichtigste ist.“

      „Stimmt!“ meinte ich beeindruckt. Sie hatte tatsächlich einen wunden Punkt getroffen. Ich hatte, als ich damals schrieb, Neuland betreten, nämlich eine bislang nicht übliche Sicht aufs Schauspielen als Arbeit. Diese Arbeit, stellte ich fest, hatte sich in der Geschichte des Bühnenspiels von der Improvisation, dem antiken Mimus, der ursprünglich ohne geschriebenen Text ablief, hin entwickelt zu fixiertem Spiel. Weil nämlich einst der aufgeschriebene, also nicht mehr spontan auf der Bühne erfundene Text mit lebendiger Handlung versehen werden musste. Die Untersuchung dieser höchst komplexen Problematik hatte meine ganze Aufmerksamkeit erfordert und ich war einfach nicht dazu gekommen, meine eigene Überlegung bis zu Ende zu denken. Also zu untersuchen, was geschieht, wenn der Schauspieler sein letztlich eingeübtes und festgelegtes Handeln Abend für Abend wiederholen muss. Er fängt dann bewusst oder auch unbewusst an, sich im Rahmen des Festgelegten frei zu bewegen, also auf höherer artifizieller Ebene zu improvisieren, und zwar nun Details und Feinheiten seines Bühnenhandelns solo oder mit Partnern. Frau Runge hatte da in der Tat meine Untersuchungen weiter gedacht. Und ich war gern bereit, ihr das zu bestätigen. Was ihr selbstverständlich sehr genehm war. Euphorisiert tippte sie sich irgendetwas in ihren Leptop. Ohne meine Zustimmung dankend zu kommentieren fuhr sie fort:

      „Mein Problem ist jetzt, diese von uns gefundende Grundstruktur des Arbeitsprozesses in Bezug auf den Regisseur zu untersuchen. Die Frage ist: Analysiere ich erst einmal die Arbeitsweise jedes einzelnen Regisseurs und prüfe erst dann, ob sie übereinstimmt mit der von Ihnen gefundenen und von mir übernommenen Maxime, oder lege ich diese Maxime a priori wie eine Art Schablone darüber.“

      „So ungefähr“, meinte ich.

      „Und etwas eindeutiger?“ fragte sie.

      „Fällt mir schwer. Wenn ich überlege, wie ich vorgehen würde, dann muss ich sagen, dass ich erst einmal versuchen würde, die Arbeisweise jedes einzelnen Regisseurs zu untersuchen. Und dann würde ich die Ergebnisse mit meinen Erkundungen vergleichen. Fatal wäre es, wenn sich kaum Übereinstimmung ergeben würde. Was ich freilich nicht annehme.“

      „Ich neige auch zu diesem Herangehen,“ sagte sie.

      In dem Moment schrillte das Telefon. Ich entschuldigte mich, ging ins Haus, nahm den Hörer und sah sofort am Display, dass es die Jenseitserin sein musste.

      „Keine Zeit im Moment, rufen Sie später noch einmal an,“ rief ich ins Mikrophon und legte auf. Meine Besucherin hatte meine brüske Reaktion natürlich gehört und empfing mich mit großen Augen.

      „Ich störe doch hoffentlich nicht?“ stellte sie fest.

      „Keineswegs,“ antwortete ich karg und setzte mich wieder. Aber der Faden unseres Diskurses war gerissen.

      „Ja,“ meinte sie nach kurzer Zwangspause, „eigentlich habe ich ja erfahren, was mir am Herzen lag und was ich erhofft hatte. Habe ich dann nur noch eine, zugegeben, unbescheidene Frage.“

      „Bitte!“

      „Könnte ich Ihnen mein Manuskript zu gegebener Zeit einmal vorlegen?“

      Mit dieser Frage brachte sie mich in arge Verlegenheit. Ich hatte im Moment und wahrscheinlich auch in naher Zukunft überhaupt keine Lust, mich mit eine Dissertation zu beschäftigen. Andererseits war die Aussicht, dass sich eine junge Wissenschaftlerin ausgiebig und gewogen mit meinem wissenschaftlichen Werk befassen würde, äußerst angenehm. Ich konnte nicht nein sagen, wich dennoch erst einmal aus.

      „Wenn es mich dann noch gibt,“ antwortete ich.

      „Herr Professor, natürlich gibt es Sie dann noch!“

      „Einverstanden,“ meinte ich.

      „Dann bedanke ich mich sehr, sehr herzlich und verabschiede mich. Bleiben Sie gesund.“

      Meine Besucherin erhob sich resolut, und ich unternahm nichts, was ihren Aufenthalt verlängert hätte. Nach kurzem Zeremoniell an der Gartentür bestieg sie ihr Auto und fuhr davon.

      Und ich setzte mich ans Telefon und dachte an Kuhschnappel.

      Heiliger Bimbam

      Wie lange ich am Telefon gesessen habe, weiß ich nicht mehr. Ich weiß nur noch, dass ich wieder einmal aberwitzige Spekulationen angestellt habe. Plötzlich hatte ich das Bedürfnis, mir diese seltsame Zeitungsmeldung noch einmal anzusehen. Hatte ich überhaupt gelesen, worüber ich so angestrengt nachdachte? Stand das tatsächlich schwarz auf weiß auf dem Papier? Und vor allem: War es wirklich nur eine kurze Notiz? Hätte es nicht eine Aufmachung auf der ersten Seite sein müssen? Schließlich war die Behauptung der Frau, bei der sie offenbar hartnäckig geblieben war, keine Kleinigkeit, eigentlich viel mehr als beispielsweise ein Unfall auf der Autobahn. Ich schlug die Zeitung noch einmal auf. Und es stand noch immer da, schwarz auf weiß, klein geschrieben ganz unten