Urs Triviall

Der Vorfall


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Wenn ich mich mit diesen Gewächsen verglich, dann, schien mir, war eigentlich gar kein so großer Unterschied. Mein Zustand war ebenso erbarmungswürdig wie der dieser Geschöpfe. Doch wer erbarmte sich meiner? Ich musste selbst zurechtkommen, musste mich aufraffen und mich der widerlichen Situation stellen.

      Da schrillte das Telefon. Die Irre schon wieder! Das kann doch nicht sein! Ich ging nicht hin, blieb hocken, griff erneut zu dem Buch, las die letzten Zeilen: „Ein furchtbar Pestjahr hat’s in London Anno fünfundsechzig gegeben; verschlang’s doch hunderttausend Seelen, ich aber, ich blieb am Leben.“ Ja, am Leben! Am Leben! Mochte es die Jenseitser nun geben oder nicht, sie alle, die großen Dichter wie die kleinen Leute, würden sie tatsächlich als Gespenster irgendwo in den ewigen Jagdgründen wandeln, waren nicht mehr am Leben! Welche Genugtuung. Ich erhob mich und beschloß, meine Pflanzen ordentlich zu gießen.

      Ich hatte das Telefon vergessen, hatte gar nicht mehr wahrgenommen, wie lange es lärmte. Nicht allzu lange, wie mir jetzt schien. Mit verhalten aufkommendem Tatendrang füllte ich die kleine Gießkanne und begann, meine verkümmerten Pflanzen zu wässern. Und kam nicht weit; denn das Telefon meldete sich erneut. Ich hielt ein. Irgendwie war ich jetzt in einer Verfassung, die ich für stabil genug hielt, mich diesem irren Frauenzimmer noch einmal zu stellen. Irgendwann würde der Dame dann schon einmal die Lust vergehen, von mir immer wieder angeblafft zu werden.

      Entschlossen trat ich zum Telefon. „Ja!!“ sagte ich.

      „Hallo!“ rief da jemand fröhlich.

      „Bitte!“ reagierte ich ungeduldig.

      „Ich bin die Simone! Prima, dass es Dich noch gibt!“

      Was war denn das nun wieder? Noch eine Frau? War mir je eine Simone begegnet? Ich konnte mich auf die Schnelle nicht erinnern. Sollte ich auflegen? Ich entschied, erst einmal nicht unhöflich zu sein. Schließlich musste das nicht schon wieder ein Anruf vom Endes des Universums sein.

      „Was wünschen Sie?“ fragte ich ungnädig.

      „Entschuldige!“ bekam ich zur Antwort. „Wir kennen uns von der Schauspielschule.“

      „Ah, ja, jetzt erinnere ich mich! Simone , joi! Was verschafft mir die Ehre?“

      Die Simone , das war eine ziemlich kapriziöse Frau, zwar nicht von umwerfendem Liebreiz, eher spröde und etwas arrogant, aber kommunikationsfreudig und mehr oder weniger offenkundig auf Männer fixiert. Auch mich hatte sie einmal im Visier gehabt, aber ich hatte tapfer widerstanden. Daran musste ich natürlich sofort denken. Steckte sie etwa hinter diesen absurden Anrufen? Versuchte sie es nun sozusagen mit offenem Visier? Nach so langer Zeit? Neue bohrende Fragen.

      „Ich habe ein Anliegen,“ sagte sie. „Mag Dir komisch vorkommen, aber Du bist nun mal am ehesten Kronzeuge.“

      Mir schwante neue Unannehmlichkeit. Ich brauchte Ruhe, nicht neue Aufregung. Aber vielleicht Abwechslung.

      „Worum geht es denn?“ fragte ich.

      „Eine alte Geschichte, nichts fürs Telefon. Ich recherchiere über den Direktor von damals, den Vickert. Und Du hast damals möglicherweise etwas erfahren.“

      „Ich bin kein Freund von alten Geschichten!“

      „Wer ist das schon!“

      „Und es ist nichts fürs Telefon? Ein Staatsgeheimnis?“

      „So schlimm ist es nun auch wieder nicht. Ich bräuchte es für mein neues Buch. Da habe ich eine Episode, wo ich möglichst genau sein möchte.“

      „Aha, nach schön. Was machen wir da?“

      „Ich würde ganz gern mal bei Dir vorbeikommen. So eine Begegnung weckt Erinnerungen, die ich vielleicht auch gebrauchen könnte.“

      Schon wieder keimte mein Verdacht auf. Ich rief mich alten Knochen zwar sofort zur Vernunft, doch der Verdacht blieb. Er war, bei Licht betrachtet, sogar sehr viel wahrscheinlicher als ein mit lebendigen Toten bevölkertes Jenseits.

      „Ich kann Dir keinen besonderen Empfang bereiten, aber dann kommst Du eben mal vorbei. Bisschen Kaffee und Kuchen zum Nachmittag,“ sagte ich.

      „Oh, der alte Süßholzraspler!“

      „Ganz ohne Süßholz! Nur mit Zucker.“

      „Kann ich ja bisschen Holz mitbringen.“

      Damit war das Telefonat auf eine Spur gelangt, die mir ganz und gar nicht behagte und mein Misstrauen nährte. Aber ich wollte auch nicht mehr zurück, versprach ein Treffen ja doch mögliche Aufklärung der mysteriösen Anrufe. Würden sie nämlich danach nicht mehr stattfinden, würde das ziemlich zweifelsfrei bedeuten, dass diese Simone die Anruferin gewesen war und nun die Lust verloren hatte, mich zu behelligen.

      „Ja, mach das!“ sagte ich herausfordernd. Weiß der Himmel, warum ich spontan auf einmal so entgegenkommend war.

      Wir vereinbarten einen Termin.

      Horch und Guck

      Als der Termin heranrückte, war ich aufgeregter als mir lieb war. Vor allem, weil es seit Simones Anruf keinen mehr aus dem sogenannten Jenseits gegeben hatte. Da schien ein Zusammenhang zu bestehen. Jedenfalls drängte sich solch Gedanke auf. Denn das Argument, irgendetwas über den ehemaligen Direktor der Schauspielschule erfahren zu wollen, war äußerst befremdlich und schien mir sehr weit hergeholt.

      Simone war nur kurze Zeit an der Schule beschäftigt gewesen. Wir vermuteten damals, dass sie von Horch und Guck eingesetzt wurde, weil die Schule den Oberen nicht genau genug auf der Parteilinie gewesen war. Das wiederum konnte mit dem Direktor zusammenhängen, dem man offenbar irgendwarum misstraute. Was wollte Simone erkunden? Hoffte sie, nach Jahrzehnten von mir gewissere Auskunft zu bekommen?

      Am Tage des voraussichtlich schwierigen Treffens war ausgesprochen schönes Sommerwetter und ich deckte den Tisch auf der Terrasse. Beim Bäcker hatte ich Streusel- und Quarkkuchen geholt, auch zwei Stück Erdbeertorte. Den Kaffee hatte ich besonders stark gemacht. In Erwartung des Gastes setzte ich mich an den Tisch und genoss in Ruhe den Blick in meinen schönen Garten. Da schrillte das Telefon.

      Das geschah nun wirklich absolut ungelegen. Ich eilte zum Apparat und sah das leere Display. Nein, just solchen Anruf konnte ich jetzt nicht gebrauchen. Und um alle Überraschung in den kommenden Minuten auszuschließen, zog ich vorsorglich den Stecker des Telefons aus der Buchse. Das Jenseits musste warten, schließlich war es eine ewige Einrichtung und hatte viel Zeit. Überrascht stellte ich fest, dass ich mit der leidigen Sache doch recht souverän umgegangen war, so als sei es selbstverständlich, von jenseits des Universums angerufen zu werden. Aber ich hatte keine Muse, über meine spontane Reaktion zu meditieren. Schon wieder schrillte eine Glocke. Diesmal die vom Gartentor.

      Davor stand eine stattliche Frau. Ins Auge fiel sofort ein stramm gebündelter Dutt, der eine energische und vor allem selbstbewusste Persönlichkeit ahnen ließ. Und die Kleidung, ein schnittiger dunkelblauer Jeans-Anzug, verlieh dieser Persönlichkeit obendrein etwas Forsches, fast Militantes. Ich muss gestehen, dass mich Simones Erscheinung sofort beeindruckte. Das hing gewiss auch damit zusammen, dass ich seit Jahren kaum noch Kontakt mit irgendeiner fremden Frau gehabt hatte.

      „Hallo!“ rief ich gewollt fröhlich und öffnete die Gartentür.

      „Schön guten Tag, mein Lieber“, sagte Simone demonstrativ gut gelaunt und trat ein.

      Ich konnte mir nicht versagen, mit einem Kompliment zu reagieren.

      „Welch geheimnisvolle Überraschung!“

      Ich wies den Weg zur Terrasse und ließ der höchst ungewöhnlichen Besucherin den Vortritt.

      „Nichts Geheimnisvolles, ganz und gar nicht!“ erwiderte sie und ging lockeren Schrittes voran. Simone betrat die Terrasse, drehte sich um und begutachtete die Aussicht.

      „Schön! Schön hast du es hier!“ Sie breitete die Arme aus und dehnte sich genießerich, so als habe sie