Urs Triviall

Der Vorfall


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Gedanken

      Die Fremde ließ mich in Ruhe. Seltsamerweise war das aber genau das, was mich unruhig machte. Hatte mein energisches Gebrüll wirklich dazu geführt, dass sie die Lust verloren hatte, mich zu behelligen? Ich will nicht sagen, dass mir plötzlich etwas fehlte. Aber irgendwie war eine Rechnung offen geblieben. Zumindest hätte ich gern gewusst, wieso eine fremde Frau auf die Idee gekommen war, sich als meine Frau auszugeben und mich auf so unverschämte Weise zu kontaktieren. Es hätte ihr ja klar sein müssen, dass sich mit dieser Art teuflischen Charmes keine Beziehung herstellen lässt. Man macht zwar absolut auf sich aufmerksam, erzeugt aber nur Ablehnung. So doof kann eigentlich keine Frau sein.

      Doch was ist die Alternative? Schon wenn ich die Frage stellte, wurde mir mulmig. Denn es keimte da ein Gedanke, dessen Entstehen ich eigentlich hätte unterbinden müssen. Der Gedanke, dass sich da tatsächlich so etwas wie meine Frau am anderen Ende der außerirdischen Leitung befinden könnte. Ein grundsätzlich völlig abwegiger Gedanke! Zweifellos!

      Jedoch ein Gedanke mit Entfaltungsvermögen. Weil nämlich zur Zeit auf dieser Erde mit Hilfe der modernen elektronischen Technik Dinge möglich werden, die früher einfach undenkbar waren. Neuerdings zum Beispiel plant man, eine elektronische Verbindung zum menschlichen Gehirn zu schaffen. Noch wird an Schweinen experimentiert. Das Instrument, das - wie es heißt - Informationen zwischen menschlichen Neuronen und einem Smartphone übertragen können wird, hat einen Durchmesser von 23 Millimetern. Es muß in den Kopf implantiert und mittels feinster Drähte mit Nervenzellen verbunden werden. Wenn es funktioniert – und daran arbeitet die elektronische Forschung beharrlich -, kann es neurologische Signale lesen und auch senden. Ein Minicomputer mit sensationeller Perspektive also. Er wird für die Behandlung von Schmerzen, Sehstörungen und Hörverlust eingesetzt werden können, auch bei Schlaflosigkeit, Gehirnschäden oder bei Verletzungen des Rückenmarks. Mit Hilfe dieser Technologie wird es wahrscheinlich sogar möglich werden, verletztes Nervengewebe zu überbrücken und damit zu erreichen, dass behinderte Menschen wieder zu laufen vermögen. Und weil der Phantasie keine Grenzen gesetzt sind, träumen Wissenschaftler und Unternehmer bereits davon, mit Hilfe dieser Technologie ihre Gedanken auszutauschen, ohne sie aussprechen zu müssen. Auch hofft man, eines nicht allzu fernen Tages Gedanken unmittelbar auf Speicher zu übertragen oder auf Roboter, die man auf diese Weise steuert. Gruselig das alles.

      Noch gruseliger ist die Vorstellung, dass künftig Autos autonom auf den Straßen verkehren. Auch hier sind Wissenschaft und Wirtschaft international im Wettbewerb. Damit alles seine Ordnung hat, wurde für das selbstfahrende Auto ein Levelsystem eingeführt. Beim ersten Level ist noch alles wie gehabt. Der Fahrer ist der Herr der Dinge und fährt sein Auto. Beim zweiten Level handelt es sich um sogenanntes teilautomatisiertes Fahren. Der Fahrer muss sein Fahrzeug zwar beherrschen, aber sein PKW kann manche Aufgaben zeitweilig selbst ausführen, zum Beispiel auf der Autobahn die Spur halten, bremsen und beschleunigen. Beim dritten Level, der Stufe der Hochautomatisierung, kann das Auto bestimmte Aufgaben für einen kurzen Zeitraum selbstständig und ohne Eingriff des Fahrers bewälti-gen. Der PKW überholt, ordnet sich wieder in die Spur ein, bremst, beschleunigt – je nachdem es die Verkehrssituation erfordert. Das wird wohl auf Autobahnen bald real werden. Der Fahrer kann dann zum Beispiel Zeitung lesen oder sich mit seinen Kindern auf dem Rücksitz beschäftigen. Das vierte Level, das vollautomatisierte Fahren, ist noch Zukunftsmusik. Der Fahrer wird die Führung seines Autos komplett abgeben können und zum Passagier werden. Das Fahrzeug bewältigt bestimmte Strecken, vornehmlich Autobahn und Parkhaus, völlig selbstständig. Das wohl Wichtigste bei diesem Level: Das System erkennt seine Grenzen, und zwar so rechtzeitig, dass es regelkonform einen sicheren Zustand erreichen kann. Beim fünften Level schließlich, beim autonomen Fahren, bewältigt die Technik im Auto alle Verkehrssituationen selbstständig. Himmel hilf, was da so alles auf uns zukommt.

      Warum zum Teufel soll es nicht auch im Jenseits Fortschritte in der Forschung geben? Der Gedanke ist abwegig, ich weiß. Aber denkbar. Und ich dachte ihn damals. Und nachdem ich ihn gedacht hatte, war ich geneigt, die Anrufe der Fremden anders zu bewerten. Aber sie kamen nicht mehr. Die Irre schwieg. Und ich war es zufrieden.

      Was indessen nicht verhinderte, dass ich hin und wieder dennoch darüber nachdachte. Und irgendwann schien es mir selbstverständlich, die Anruferin, sollte sie sich denn doch noch einmal melden, erst einmal ausreden zu lassen. Mit meiner verständlichen Empörung hatte ich bisher verhindert, mehr von dieser seltsamen Person zu erfahren. Offenbar hatte sie ein merkliches Mitteilungsbedürfnis. Warum sollte ich mir nicht einfach einmal anhören, was sie alles mitzuteilen hatte. Es war dies gewiss in der Summe ein erbärmliches Schauermärchen. Aber anhören könnte ich es mir schon. Aus Neugier. Warum auch immer. Jedenfalls nicht mehr brüsk ablehnen.

      So begab es sich denn, dass ich auf einen Anruf der Fremden regelrecht wartete. Ich kam mir blöd vor, aber ich wartete. Ich fand mich saublöd, aber ich wartete. Ich hielt mich für superblöd, aber ich wartete. Mein Leben hatte einen anderen Zuschnitt bekommen.

      Echte Wunder

      Ich suchte Erbauung und Erholung in der Natur. Was ich auf Grund meines Alters schon aufgegeben hatte, setzte ich noch einmal auf die Tagesordnung. Ich mühte mich, meinen schönen Naturgarten wenigstens notdürftig zu betreuen. Was ob meiner körperlichen Hinfälligkeit ganz und gar nicht leicht fiel, auch täglich nur für kurze Zeit möglich war, mich dennoch erfreulich ablenkte.

      Vor allem an meinem kleinen Fischteich wurde ich aktiv. Viel zu viel Fadenalgen hatten sich breit gemacht, sich obendrein innig mit der Wasserpest vermengt, deren Stengel bis zu 3 m lang werden können. Dadurch war der Raum für meine Fische arg eingeschränkt, vor allem für meine beiden Kois, die beide immerhin schon eine beachtliche Größe von mindestens einem halben Meter erreicht haben. Ich zerrte das Pflanzengemenge aus dem Teich, startete eine mühevolle Geduldsprobe, nämlich die Fadenalgen von der Wasserpest zu trennen und Letztere wieder in den Teich zurück zu geben. Die Fische dankten es mir, indem sie die frei werdenden Räume sofort inspizierten.

      Auch die Seerose hatte eine Pflege nötig. Als ich eingriff, bat ich die Pflanze in gewissem Sinne um Vergebung, denn sie hatte nur getan, was ihr eigen war, nämlich sich auszubreiten. Eine in die Jahre gekommene Seerose beansprucht sehr viel Platz, weit mehr als ihr in meinem Teich zu Verfügung steht. Also entfernte ich viele Blätter, die unterm Wasser an langen Stielen hängen und als ein dichtes Gewirr den Fischen Platz wegnehmen.

      Schließlich musste das höchst expansive Schilf reduziert werden. Was gar nicht so einfach ist. Die einzelnen Triebe sind im Teich fest im Wurzelwerk verankert, und sie herauszuziehen gelingt eigentlich nur, wenn sie im Frühjahr noch relativ lose sind. Sobald sie ihre normale Größe erreicht haben, kann man sie nur mit Gewalt herauszerren. Und dann hat man in der Regel auch allerhand Wurzel mit am Stengel. Ich war jedenfalls sehr schnell erschöpft und vertagte die Aktion.

      Vielleicht hätte ich mir mehr Zeit nehmen sollen für geruhsame Schläfchen auf einer Liege im Grünen mit erbaulichem Blick auf Tannen, Fichten, Walnußbaum und Linde. Was wir vor Jahrzehnten gepflanzt haben, ist mittlerweile stattlich herangewachsen und ergibt eine zauberhafte Naturkulisse. Ich hätte sie viel mehr genießen sollen. Aber abgesehen davon, dass ich aus gesundheitlichen Gründen die Sonne meiden muss, hatte ich dazu im Moment ohnehin wenig Neigung. Mir fehlte einfach die innere Ruhe, die man braucht, um auf Müßiggang zu schalten. Die meiste Zeit verbrachte ich damit, meine Homepage auf HTML5 umzubauen und bei Google auf einen Spitzenplatz zu bringen.

      Als ich mich eines Tages bei angenehmem Wetter denn doch einmal auf eine Liege legte, um an der frischen Luft ein wenig zu ruhen, fand ich keinen Schlaf; denn ob nun gewollt oder nicht kreisten meine Gedanken im Nu erneut um diese mysteriöse Fremde. Es konnte einfach nicht sein, dass irgendwer aus solch gigantischer Entfernung, also zumindest vom Rande des Weltalls, ausgerechnet bei mir anrief. Alle Vernunft in mir sträubte sich gegen eine solche Wahrscheinlichkeit.

      Schon stand ich auf und eilte zum Computer. Wie war das noch mit den Entfernungen im Weltall? Geht es da nicht um Lichtjahre? Also um die Strecke, die das Licht in einem Jahr zurücklegt? Ich habe das wirklich nicht auf dem Schirm. Also Google gucken. Und siehe da: Es sind 9,46 Billionen Kilometer. Unvorstellbar! Solche Strecke