Urs Triviall

Der Vorfall


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gar nicht, ob ich das alles so genau brauche, aber ich behaupte nun mal nicht gern etwas, was nicht stimmt. Bei aller Freiheit in der Literatur.“

      Ich beschloss, ihre literarischen Absichten nicht noch weiter zu hinterfragen. Das wäre ganz und gar unersprießlich gewesen, hätte mir nur Zeit gekostet. Zumal ich das Gefühl nicht los wurde, dass Simone hier etwas wichtig machte, was im Grunde eine Banalität gewesen war. Ich konnte mich auch absolut nicht erinnern, dass sich Vickert damals öfter für einige Tage frei genommen hätte. So sagte ich denn gedehnt und gewissermaßen als Schlußwort: „Ja, die Wahrheit, ein kostbares Gut!“

      Sie begriff sofort meinen Untertext, sagte pathetisch „Wir werden sie hüten!“ und erhob sich.

      „Noch zum Teich?“ fragte ich, um einen zu abrupten Abschied zu verhindern.

      „Erst einmal Dank für Speise und Trank. Auch für die Information. Hilft mir wirklich sehr. Den Teich schenken wir uns, ja?“

      „Kein Problem.“

      Sie verharrte noch einmal auf der Terrasse, schaute sich um und sagte: „Hast dich hier in eine richtige Idylle zurückgezogen. Schön!“ Dann ging sie los. An der Gartentür blieb sie stehen, drehte sich noch einmal zu mir um und fragte mich überraschend: „Hätt` ich fast vergessen: Darf ich dich zitieren?“

      „Mich zitieren? Wieso?“

      „Wenn deine Anmerkungen ein wichtiger Drehpunkt werden sollten.“

      „Gott, wenn es sein muss. In meinem Alter kann es mir eigentlich schnuppe sein.“

      „Nun kotteriere mal nicht mit deinem Alter“, meinte sie so gut gelaunt, wie sie gekommen war. „Lass es dir gut gehen! Servus!“, fügte sie an und stieg in ihr schmuckes Auto.

      Ich schaute mit zwiespältigen Gefühlen hinterher. War die Story um Horch und Guck wirklich so wichtig? Oder war sie nur vorgeschoben, um an mich heranzukommen? Andererseits: Nahm ich mich etwa viel zu wichtig? Ich tröstete mich damit, dass ich zu solchen Überlegungen gewiss nie geraten wäre, hätte es diese Stalkerin nicht gegeben. Mithin: in punkto Simone war ich ganz und gar nicht weiter gekommen. Die Wahrscheinlichkeit, dass sie die mysteriöse Anruferin war, hatte sich zwar verringert, aber die Vermutung war nicht ausgeräumt.

      Unvorstellbare Verhältnisse

      Ich beschloss, die Begegnung mit der ehemaligen Kollegin sozusagen zu den Akten zu legen, zwar zur Akte ‚Jenseits‘, aber ganz weit hinten, oder unten, jedenfalls nicht zu alsbaldiger neuerlicher Bearbeitung. Wirklich aktuell, vor allem bewegender war, was diese angebliche Petra im letzten Telefonat gesagt hatte. Sie hatte behauptet, dass Brecht vorbei gekommen sei. Das war eine Bemerkung, die mich nicht losließ.

      Schon die Umstände waren seltsam. Sie hatte mit mir telefoniert, also mit der Erde, also über eine unvorstellbare Entfernung, und dann war ihr auf einmal ein vorbeikommender Dichter wichtiger gewesen. Das kränkte mich. Angeblich lag ihr viel an dieser neuerdings möglichen Kommunikation mit mir. Doch ihr Verhalten passte nicht dazu.

      Nun gut, ich bin nicht bemerkenswert für die Weltgeschichte, aber Brecht schon. Und im Jenseits sind höchstwahrscheinlich für uns Menschen unvorstellbare Verhältnisse. Auf Erden kommt wahrhaftig nicht so ohne weiteres ein prominenter, gar berühmter Dichter vorbei. Dort drüben jedoch scheint es ganz selbstverständlich zu sein.

      Woraus sich aufregende Fragen ergaben: Spielen Phantasie und Dichtkunst außerhalb des Universums so etwas wie eine führende Rolle? Schon beeindruckend, dass sich die wahrhaft Großen wie Aischylos oder Goethe angeblich mit allen anderen Dichtern gemeinsam an einen Tisch setzen. So jedenfalls lassen sich Petras Andeutungen auslegen. Möglicherweise sind sogar die Poeten anderer Erden dabei. Sie alle finden sich offenbar im Jenseits ein, wenn sie ihre jeweilige irdische Zeit hinter sich gebracht haben, und sie verlieren sich dort nicht, geben sich nicht auf, sondern bleiben aktiv. Bilden sie gar ein poetisches Gremium unterschiedlicher Zivilisationen? Vereint zu ihrer eigentlichen Mission? Und worin könnte die bestehen?

      So fing ich an, abstruses Zeug zu phantasieren. Und zwar Zeug, das sich um immer wirrere Fragen rankte. Was war aus dem Jenseits mit mir zu besprechen? Wenn ich es recht bedachte: Eigentlich nichts. Ich war ein Auslaufmodell, reif für die Gegend, aus der angeblich meine Frau anrief. Worin also könnte irgendein Sinn dieser Anrufe bestehen?

      Schließlich wucherte eine absurd egozentrische Vermutung in meinem Hirn. Sollte Petra etwa den Auftrag haben, und zwar ausdrücklich von den Dichtern, zu mir einen Kontakt zu knüpfen? Weil die Poeten darüber nachdachten, wie sie aus dem Jenseits noch einmal eingreifen könnten? Weil sie hofften, unverdrossen und stur wie sie nun einmal waren, doch noch irgendwie ihre irdischen Ideale zu verwirklichen? Wollten sie sozusagen mit himmlischer Macht dafür sorgen, dass Menschenliebe nicht nur allerorten gepredigt, sondern endlich und überall auf Erden gelebt wird? Seltsame Vorstellungen, seltsame Fragen! Gestellt sozusagen unmittelbar vor der Tür zum Irrenhaus. Leser und Leserinnen werden verstehen, dass ich erhebliche Mühe hatte, in den Alltag zurück zu finden.

      Ich versuchte, meine Hirngespinste bewusst mit positiven Gedanken zu überwinden. Es musste ja nicht unbedingt um so erhabene Absichten gehen. Es wäre erhaben genug, wenn die Anrufe wirklich aus dem Jenseits kämen und ich mit meiner Frau ab und an einen ungewöhnlichen und heimlichen Plausch führen könnte. Sie erzählt mir von ihren jenseitigen Erlebnissen, ich berichte aus meinem vertrackten Alltag. Wäre doch eine famose Abendunterhaltung. Allemal bewegender und höchstwahrscheinlich informativer als alle Fernsehprogramme zusammen genommen. Das Fatale, es gab keinen Anruf mehr.

      So hätte ich denn meine Ruhe finden sollen, wieder das Gleichmaß eines alten Menschen, der keine Zukunft mehr vor sich hat, sondern halt nur noch so etwas wie das Jenseits. Womit jedoch beschäftigte ich mich? Mit dem Diesseits, mit dem Universum. Im Hinblick auf meine Probleme zwischen Jenseits und Diesseits waren vertiefte Kenntnisse gewiss nicht von Schaden.

      Bisher hatte ich mich hartnäckig gesträubt anzuerkennen, was die fürs Weltall zuständigen Wissenschaftler behaupten. Dass es nämlich mit einem sogenannten „Urknall“ seinen Anfang genommen habe. Ich hielt das für einen irren Glauben. Geradezu hanebüchen war es meines Erachtens, einen Ton zum Ausgangspunkt für so ungeheure, dem Menschen nicht vorstellbare materielle Prozesse zu machen! Noch wirrer aber schien mir die Behauptung, das Weltall dehne sich seither rasend und unaufhaltsam aus. Sollten wir nicht eher glauben, dass das Universum unendlich ist, also weder Anfang noch Ende hat, weil ewig sich wandelnd, und zwar nicht im Sinne einer sich ausbreitenden Dimension hin zu einem Ende irgendwann, sondern im Sinne unendlich anhaltender Veränderung?

      Mein fester Glaube in Sachen „Urknall“ geriet nur unmerklich ins Wanken, nachdem ich mich noch einmal und etwas gründlicher mit den unvorstellbaren Verhältnissen beschäftigte. Angefangen haben sie angeblich – wie bereits gesagt – mit dem „Urknall“, dem sogenannten„Big Bang“. Das ist die Benennung für einen vermeintlich einst explodierenden extrem dichten Haufen von Materie, woraus nicht nur unser Sonnensystem entstand, sondern alle Galaxien mit ihren Abermilliarden von Sternen. Geschehen sei die Explosion vor 13,7 Milliarden Jahren! Zu diesem delikaten Ergebnis kommt man aus der Berechnung der Geschwindigkeit des Auseinanderstrebens der Sterne. Was meine Skepsis nährte. Wenn es sich um solch unfassbar gigantische Zeiträume handelt, scheint es mir nach wie vor absurd, von Anfang und Ende zu reden. Solch Gerede – finde ich - kann nur einem menschlichen Hirn entspringen, das keine Ewigkeit duldet, sondern halt Anfang und Ende braucht.

      Daher basteln Wissenschaftler, nachdem sie sich den bombastischen Anfang konstruiert haben, mittlerweile an drei Theorien vom Ende des Universums! Ich musste bei der Beschäftigung mit diesen Auffassungen an den alten Kardinal in Brechts „Leben des Galilei“ denken, der felsenfest daran glaubt, dass die Erde der Mittelpunkt der Welt sei. Auch heute gehen alle Berechnungen über Anfang und Ende des Universums just von der Erde aus. Welche Vermessenheit angesichts der Dimensionen des Weltalls! Aber bitte. Der Mensch sieht sich im Mittelpunkt und benötigt Anfang und Ende.

      Drei Theorien vom Ende also. Die erste, die vom „Big Crunch“, behaupte ich keck, wurde wahrscheinlich nur aufgestellt, um sie