Urs Triviall

Der Vorfall


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sehr gefreut und mehrmals mit ihm gesprochen.“

      Einmal mehr machte ich mir bewusst: Die Redaktion der Zeitung war über das Ereignis hinweg gegangen als sei es gewöhnlicher Alltag, hatte einen absolut grotesken, ja abnormen Vorgang zwar vorsorglich gemeldet, aber gleichzeitig zur Bedeutungslosigkeit bagatellisiert. Hatte sie eine Anweisung von oben? Oder hatte sie eigenständig so entschieden?

      Auch nach Tagen stand kein weiterer Beitrag in der Zeitung. Echter Journalismus, fand ich, hätte längst für ein ausführliches Interview mit dieser Frau sorgen müssen. Das hätte die Zeitung von heute auf morgen weltbekannt gemacht. Aber sie scheuten offenbar das Risiko. Zu fatal wäre gewesen, wenn dann früher oder später unwiderlegbar herausgekommen wäre, dass diese Frau einfach gelogen hatte. Nur ich wusste, dass das nicht der Fall gewesen war. Sollte ich einen Leserbrief schreiben? Nein doch! Welch dummer Gedanke. Auf keinen Fall an die Öffentlichkeit gehen. Es war überhaupt nicht zu erwarten, irgendein Verständnis zu finden. Im Gegenteil, ich hätte mit einem freundlichen Irrenarzt rechnen können.

      Ich schlief wieder einmal sehr unruhig. Und als das Telefon weit nach Mitternacht klingelte, war ich just hellwach. Ich griff zum Hörer und sah, da war keine Nummer auf dem Display. Die Jenseitserin!

      „Ja, bitte!“ sagte ich.

      „Entschuldige!“ bat die Stimme, „ich hätte längst wieder anrufen müssen. Aber hier geht alles drunter und drüber.“

      „Und hier ist Mitternacht!“

      „Ach du lieber Himmel! Entschuldige, entschuldige! Ich ruf später wieder an!“

      „Moment!“ rief ich entschlossen. Die Gelegenheit schien mir günstig, endgültig Klarheit zu schaffen. „Hören Sie! Wie war das mit unserer Hochzeit? Welche Gäste hatten wir?“

      „Was ist los?“

      „Ich frage Sie, wie das mit unserer Hochzeit war. Welche Gäste hatten wir?“

      „Aber Dad! Das weißt du doch genau!“

      „Natürlich! Aber ich will es von Ihnen wissen!“

      „Dad, wir hatten keine Gäste!“

      „Keine?“

      „Nein doch! Wir mussten schnell zurück zu unserem Sohn. Der lag in Windeln in seinem Körbchen, und die Wirtin war bereit gewesen, ab und zu nachzusehen.“

      Heiliger Bimbam! Das waren mehrere stimmige Details in einem Satz. Ich gab mich geschlagen. „Schatz“, hauchte ich ins Telefon, „du scheinst es wirklich zu sein.“

      „Ich bin es!“

      „Dass es so etwas gibt!“ murmelte ich, noch immer ungläubig, aber mich den Fakten beugend.

      „Pass auf,“ sagte sie, „schlaf du dich jetzt erst einmal aus. Nur noch so viel: Ich freue mich auf dich! Habe viel zu erzählen. Gute Nacht!“

      Stille! Das Jenseits schwieg. Und ich fand natürlich keine Ruhe. Ich hatte mit gewehrt, ja, ich hatte das Unmögliche nicht für möglich halten wollen, und musste zugeben, die Beweise waren unwiderlegbar, dass da am anderen Ende der Leitung meine Frau sprach, in welchem Zustand auch immer. Es könnte ihr wacher Geist sein. Das wäre noch eine Erklärung. Aber wahrscheinlich war es nicht. Es konnte nach menschlichem Ermessen einfach nicht wahrscheinlich sein.

      An Schlaf war nicht zu denken. Es waren quälende Stunden. Völlig unausgeschlafen registrierte ich den erwachenden Tag. Ich trat ans Fenster, blickte verschlafen hinaus und sah, wie doch tatsächlich in eben diesem Moment ein Graureiher auf der Wiese landete. Er verharrte einen Moment, dann stolzierte er gravitätisch zum Teich. Sollte ich ihn gewähren lassen? War das alles noch von irgendeiner Bedeutung? Waren irdische Angelegenheiten überhaupt von Belang? Jetzt, zu einer Zeit, in der ich Kontakt mit dem Jenseits aufgenommen hatte und mehr oder weniger bereit war, auch anzuerkennen, was ich da erlebte? Ich beschloss, Petra beim nächsten Mal sozusagen eine letzte klärende Frage zu stellen. Dann öffnete ich das Fenster und verscheuchte den Reiher.

      Schon während des Frühstücks griff ich zur Zeitung. Irgendwann, fand ich, müsste sachlich und ausführlich über das supergroteske Phänomen „Rufe aus dem Jenseits“ berichtet werden. Aber die Redaktion hatte ganz andere Aufmerksamkeiten, ganz und gar nicht so grotesk wie mein Problem, aber grotesk genug für den gesunden Menschenverstand. Ausführlich wurde erörtert, ob es nicht endlich an der Zeit sei, das weibliche Geschlecht auch in der Sprache gleichberechtigt anzuerkennen. Die Tendenz war, und sogar die Herausgeber des Dudens hatten sich wohl schon angeschlossen, männliche Namen mit einem Sternchen am Ende zu versehen, um damit auszudrücken, dass auch Frauen damit gemeint seien. Welch Poblem! Sogar Parteien wälzten es hin und her. Ich kam nicht umhin zu konstatieren, dass die menschliche Gesellschaft ganz offensichtlich an einem Scheidepunkt angelangt scheint. Man macht neuerdings zur Sorge, was eigentlich eine nichtige Fragestellung ist, und vermag es so, den wahren Sorgen aus dem Wege zu gehen. Oh bitte, das Jenseits, ist es eine wahre Sorge? Noch ehe ich mir eine Antwort geben konnte, meldete es sich schon wieder.

      „Ja!“, sagte ich.

      „Stör ich?“ fragte sie.

      „Nein, bin gerade fertig mit dem Frühstück.“

      „Schön!“

      „Habe nur noch eine Frage!“ sagte ich bestimmt.

      „Dacht ich mir,“ meinte sie.

      „Was machte unser Sohn, als wir nach unserer Hochzeit wieder bei ihm waren?“

      „Du hast ihn trocken gelegt, und er hat dich in hohem Bogen angepinkelt.“

      Was blieb mir nun? Ich zitterte nicht mehr! Petra hatte mich damals, und ich erinnerte mich gut, vergnügt an die Front geschickt. Und als ich meine Bewährungsprobe als Vater bestanden hatte, waren wir hurtig ins Bett gesprungen.

      „Zufrieden?“ fragte sie jetzt.

      „Ja,“ sagte ich und zitterte wieder.

      „Und wie geht es dir?“

      „Tja, du kennst ja meinen Zustand. Wird sich nicht mehr bessern. Ich schleppe mich so durch die Zeit.“

      „Herz und Nieren.“

      „Und Prostata.“

      „Du lässt aber auch nichts aus.“

      „Man gibt sich Mühe.“

      „Weiß ich auch keinen Trost. Das Leben ist schon schön. Halt es fest, so lange du kannst.“

      „Sehr schwierig ohne dich!“

      „Musst du durch!“

      „Ich muss dir noch den Kuss geben.“

      „Welchen Kuss?“ fragte sie.

      „Als du mich einen Tag vor deinem Tod im Krankenhaus besucht hast und zum Abschied sagtest ‚noch ein Kussel‘. Und ich dir den Kuss aus Sorge, ich könnte dich irgendwie anstecken, nur auf die Wange gegeben habe.“

      „Ja, ich erinnere mich. Das war irgendwie symbolisch für unsere Beziehung. Immer herzlich, immer lieb, aber auch spröde und widersprüchlich.“

      „Kannst du mir verzeihen?“

      „Ja doch!“

      Mir schossen Tränen in die Augen. „Danke!“ sagte ich gerührt und zwang mich, nicht sentimental zu werden. Das hätte ihr nicht behagt. In komplizierten Situationen in unserer Ehe, in der ich geneigt war, rührselig zu werden, hatte sie stets rational und sachlich reagiert und mich damit indirekt zurechtgewiesen. Sie mochte keine wehmütige Sentimentalität und konnte bezaubernd cool sein..

      „Hör mal,“ fuhr sie jetzt fort. „Ehe wir über mich reden, sag mir bitte noch schnell, wie es unseren Kindern geht.“

      „Sie sind gesund. Das ist mir das Wichtigste. Ansonsten läuft es im Moment ganz passabel. Martina ist zur Zeit in San Francisco und inszeniert „Alcina“ von „Händel“. Ihr Chef kommt am Schluß dazu, bastelt noch