Heinrich Pingel

Grenzgänger


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Auch den Naturschützern auf der Ostseite war der Naturreichtum des Grenzbereichs schon früh bewusst. Doch sie konnten, anders als ihre westdeutschen Kolleg*innen, nicht direkt bis an die Grenzanlagen.

      Aber die Natur hat schon damals über Grenzen hinweg verbunden: Über Briefwechsel wurde ausgetauscht, welche Vögel man beobachtet hatte und welche Flugbewegungen es gab. Als dann 1989 die Grenze fiel, ergriff der BUND sofort die Gelegenheit und lud Natur- und Umweltschützer aus Ost und West zum ersten gesamtdeutschen Naturschutztreffen ins oberfränkische Hof ein – am 9. Dezember 1989, wenige Wochen nach der Wende. Gekommen sind statt der erwarteten 20 Naturschützer fast 400 aus der ganzen DDR! Außer Frage stand schon damals, dass der Grenzstreifen naturnah bleiben und zum ökologischen Rückgrat Mitteleuropas werden müsse. So verabschiedete die Versammlung die erste Resolution zum Grünen Band Deutschland und hob das erste gesamtdeutsche Naturschutzprojekt aus der Taufe. Festgehalten wurde hier die Schutzidee, der vom heutigen BUND-Artenschutzreferenten Kai Frobel geprägte Name „Grünes Band“ und dass die naturschutzfachlichen Forderungen „keine nachträgliche Rechtfertigung der Grenze“ sind.

      Seit dieser Zeit nimmt sich der BUND des Grünen Bands federführend an, in Zusammenarbeit mit vielen Partnern: Bundes- und Länderbehörden, Kommunen, Kreisen, Verbänden und Stiftungen, Landwirten sowie zahlreichen Aktiven vor Ort. Doch gerade in der Nachwendezeit war das Grüne Band alles andere als ein Selbstläufer! Innerhalb von kurzer Zeit verschwanden auf fast 2.000 Hektar Biotope und Grenzrelikte im Grünen Band und wurden zu Acker umgewandelt. Hinzu kam, dass ab Mitte der 1990er Jahre die Flächen, die im Eigentum der Bundesrepublik lagen, immerhin fast die Hälfte des Grünen Bandes, auf dem freien Grundstücksmarkt verkauft werden konnten. Der BUND forderte damals, diese mit Zweckbestimmung Naturschutz als Teil des Nationalen Naturerbes an die Bundesländer zu übertragen. Es bedurfte 12 Jahre an Hartnäckigkeit, Geduld und Kreativität, bis dies tatsächlich geschah und wurde zu einem Meilenstein für die Sicherung des Grünen Bandes. Im Herbst 2018 konnte ein weiterer großer Erfolg gefeiert werden. Als erstes Bundesland schützte Thüringen seinen gesamten Anteil am Grünen Band (über die Hälfte der Länge des Grünen Bandes Deutschland) zusammenhängend als „Nationales Naturmonument“!

      Trotz aller Erfolge bleibt aber noch viel zu tun. Der BUND setzt sich dafür ein, die Lücken im Grünen Band zu schließen und ökologische Quervernetzungen zu entwickeln. Seit fast 20 Jahren kaufen wir – unterstützt durch viele Spender*innen– Flächen (bisher über 1.000 Hektar) an und setzen dort umfangreiche Naturschutzmaßnahmen um. Dies trägt auch dazu bei, das historische Erbe für die kommenden Generationen zu sichern. Nur dort, wo das Grüne Band als Spur in der Landschaft erfahrbar ist, wird die Erinnerung an eines der prägendsten Kapitel der deutschen Geschichte erhalten.

      Das Grüne Band lässt uns jedoch auch weit über den nationalen Tellerrand hinausblicken. Denn auch in anderen Regionen Europas richtete sich die Aufmerksamkeit schon früh auf die Schätze der Grenznatur entlang des Eisernen Vorhangs. Aus einzelnen Aktivitäten der anliegenden 24 Staaten wurde 2003 eine gemeinsame europäische Initiative zum Grünen Band geformt. Heute schlängelt sich das Grüne Band Europa von der Barentssee bis zum Schwarzen Meer und zur Adria. Es steht für grenzübergreifenden Erhalt des gemeinsamen historischen Erbes und ist zu einem einzigartigen Symbol für zukunftsweisenden und internationalen Naturschutz geworden.

      Wir freuen uns daher außerordentlich, dass die Lebenslinie Grünes Band für viele Menschen in ganz Europa zur Herzensangelegenheit geworden ist. Viele wandernde Botschafter*innen für die Grüne Band-Idee verbinden auf einmalige Weise Natur und Geschichte und treten mit den Menschen vor Ort am Grünen Band in den Dialog. Auch Dr. Heinrich Pingel macht in diesem Buch die besondere Bedeutung des Grünen Bandes als Begegnungsraum von Menschen mit Menschen und mit der Natur deutlich. Ganz nach dem Motto „Grenzen trennen – Natur verbindet“.

      Dr. Liana Geidezis

      Leiterin BUND-Fachbereich Grünes Band

      Nürnberg, im Juni 2019

      Einleitung

      Meine Geschichte bewegt mich immer noch. Als ehemaliges DDR-Flüchtlingskind begebe ich mich im Juli 2018 – wenige Monate vor meinem 70. Geburtstag, zehn Jahre nach einer niederschmetternden Diagnose – mit dem E-Bike auf eine Reise in die eigene Vergangenheit entlang des Grünen Bandes, der früheren deutsch-deutschen Grenze. Geboren in Thüringen im katholischen Eichsfeld, als es noch die sowjetische Besatzungszone gab, eingeschult in der jungen DDR und – nach der Flucht mit meinem Vater in den Westen – groß geworden in der Bundesrepublik Deutschland, ziehe ich dabei meine persönliche Bilanz.

      Auf der Fahrt vom Dreiländereck Bayern-Sachsen-Tschechien durch den Frankenwald, den Thüringer Wald, die Rhön, entlang der Werra, durch das Eichsfeld, über den Harz samt Brocken, an der Elbe und malerischen Seen bis hin zur Ostsee werde ich auf Menschen treffen, die diesseits und jenseits der ehemaligen Grenze gelebt haben bzw. noch oder wieder dort leben. In vielen Gesprächen berichten sie mir aus ihrem Blickwinkel von der jahrzehntelangen Teilung Deutschlands und ihrem Leben an der Zonen- bzw. DDR-Staatsgrenze West. So werden Erfahrungen, Wünsche und Hoffnungen vor und nach 1989 sichtbar und natürlich auch die Enttäuschungen. Was ist nahezu 30 Jahre nach dem Fall der Berliner Mauer und der Beseitigung des Stacheldrahts zwischen Ost und West aus den Menschen geworden? Existieren die Mauern und Gräben in den Köpfen immer noch oder schon wieder? Gab es und gibt es unterschiedliche Mentalitäten? Wie gehen die verschiedenen Generationen mit der deutschen Teilung und mit der Wiedervereinigung um?

      Diese Fragen beschäftigen mich. Gleichzeitig sind die mehr als 1.500 Kilometer an der früheren Grenze eine Reise in meine eigene Vergangenheit, aber auch ein Blick in Gegenwart und Zukunft. 1956: Trennung von der in der DDR verbliebenen Mutter und den Brüdern. Dann die ersten Jahre in der Bundesrepublik als Zirkuskind. Später die 60er Jahre als Gymnasiast in einer verstaubten niedersächsischen Kleinstadt. Diese Umstände prägen meine Kindheit und Jugend. Die Reisen per Moped und als Tramper quer durch Europa, die Jahre als Zeitsoldat bei der Bundeswehr, das Studium für das Lehramt, die Arbeit in einer Spedition als Fernfahrer und Lagerarbeiter sowie die politischen Aktivitäten in der zweiten Hälfte der 60er und 70er Jahren lassen mich nach und nach erwachsen werden. In all diesen Jahren halte ich Kontakt zu meiner Verwandtschaft in der DDR und besuche diese, so oft es geht. Nach mehrjährigen Studien- und Forschungsaufenthalten in der Sowjetunion und den USA kehre ich Anfang der 80er Jahre nach Deutschland zurück.

      Die folgenden drei Jahrzehnte in einer ostwestfälischen Kleinstadt sind geprägt durch meine Tätigkeit als Pädagoge und Historiker, das Auf und Ab in der Familie, die Verantwortung für drei Kinder, DDR-Besuche bei der Mutter und den Brüdern vor und nach dem Fall der Berliner Mauer, aber auch durch mein Engagement in zahlreichen europäischen Projekten. Nach und nach wächst in mir die Erkenntnis, dass die Verletzungen und Traumata der Kindheit mich einholen. Als ich eine schockierende Diagnose erhalte, die mich eine Zeit lang aus der Bahn wirft, beginne ich mein Leben neu zu ordnen …

      Auf meiner Reise entlang der alten innerdeutschen Grenze gelange ich wieder in das thüringische Eichsfeld, wo ich mit den guten wie schlechten Kindheitserinnerungen konfrontiert werde. In meinem Geburtsort Heilbad Heiligenstadt suche ich den Gedenkstein für meinen zu DDR-Zeiten von einem Mitglied der SED-Kreisleitung auf der Jagd erschossenen Großvater. Dort verpflichte ich mich, den genaueren Umständen seines Todes nachzugehen …

      Auf dem Weg, einer wochenlangen Fahrradreise durch eine eindrucksvolle Natur, zwischendurch immer wieder konfrontiert mit körperlichen und psychischen Herausforderungen, werden so aus dem Blickwinkel eines ehemaligen Flüchtlingskindes, eines Wanderers zwischen Ost und West, nahezu sieben Jahrzehnte persönlicher und deutsch-deutscher Geschichte gegenwärtig.

      Dieses Buch basiert auf dem während der Reise entstandenen Reiseblog www.grenzgaengertour2018.de, in dem der/die Leser/in durch entsprechende Links weitere Informationen erhalten kann.

      Nicht zuletzt soll mit der vorliegenden Veröffentlichung angesichts eines immer deutlicher werdenden Klimawandels und jährlich neuer Rekordtemperaturen der Blick auf Möglichkeiten des alternativen, naturnahen Reisens mit dem (Elektro-) Fahrrad, auch im fortgeschrittenen Alter, gelegt werden. Das Buch soll ebenso Interesse an der Durchquerung Deutschlands