Heinrich Pingel

Grenzgänger


Скачать книгу

      Vom Dreiländereck Bayern – Sachsen - Tschechien durch den Frankenwald bis in die Rhön

      Anreise (17.07.2018): Von Hof nach Raitschin

      km: 1- 19

      Endlich!!!

      Es kann beginnen. Nach monatelangen Vorbereitungen, dem Studium vieler Bücher über das Grüne Band, die ehemalige deutsch-deutsche Grenze. Der schwere Autounfall mit gebrochenem Brustbein Ende März auf der A 10 bei Berlin war noch einmal ein Wink mit dem Zaunpfahl. Schiebe im 70. Lebensjahr (mehr als sechs Jahrzehnte nach der Flucht mit meinem Vater von Ost nach West) nicht mehr so viel vor dir her, was du vielleicht noch machen, erleben möchtest! Wer weiß, wie lange es dir noch gegönnt ist …

      Mit meinem Freund und früheren Kollegen Dors Prokob treffe ich mich morgens um 9 Uhr am Bahnhof in Karlsruhe. Ungläubig schauen wir uns an. Wollen wir es wirklich wagen? Zwei Typen, auf die Siebzig zuschleudernd, begeben sich auf große Fahrt. Standes- und altersgemäß mit dem Elektro-Bike wollen wir zum Startpunkt unserer Radtour: das Grüne Band am Dreiländereck Bayern-Tschechien-Sachsen.

      Die Fahrräder kommen hinten auf den Bike-Träger und es kann losgehen. Ein bisschen Abenteuer-Feeling ist auch dabei. Der A 5, A 6 und A 9 folgend, ist unser erstes Ziel heute das bayrische Hof. An der Autobahnkirche Himmelkron legen wir einen Zwischenstopp ein. Ganz ohne spirituelle Unterstützung geht es nun auch nicht. Die Christophorus-Kirche ist ein beeindruckender sakraler Bau, man kommt sich verloren vor, winzig, aber der Blick richtet sich nach oben ….wie so oft, wenn ich eine katholische oder orthodoxe Kirche betrete, zünde ich drei Kerzen an ….und verweile einen Augenblick in Stille …, 1399 Kilometer an der ehemaligen deutsch-deutschen Grenze: das ist ein langer Weg.

      Es ist Mittag und schon relativ heiß. Das Auto kommt in den Schatten und wir wenden uns profaneren Dingen zu. Hotel „Opel : Leberknödelsuppe und Pfirsich-Maracuja-Torte. Schmeckt alles nicht besonders. Hatten uns mehr davon versprochen. In Hof suchen wir den Bahnhof. In der Bahnhofstraße stellt Dors sein Auto ab, damit er mit dem Zug nach einigen Tagen wieder an den Ausgangspunkt unseres Unternehmens zurückkehren kann. Die Fahrräder, das ganze Gepäck wird abgeladen, auf dem Bürgersteig verstreut …, die Passanten schauen ungläubig zu. Und tatsächlich: Wir bekommen alles in unseren Packtaschen unter. Das Zelt, die Liegematratze und der Schlafsack dürfen natürlich auch nicht fehlen, man weiß ja nie. Ein freundlicher älterer Herr kommt gerade von einem Nachmittag mit Flüchtlingskindern und fragt uns, wohin wir denn wollen. Gaststätte „Eisteich“, antworte ich. Diese Gaststätte ist unser erstes Ziel, denn sie repräsentiert den Anfang von Allem. Hier ist der Ausgangspunkt des Grünen Bandes (www.bund.net/gruenes-band). Hier haben sich Anfang Dezember 1989 Naturschützer aus Ost und West auf Einladung des BUND-Aktivisten und promovierten Geoökologen Kai Frobel getroffen und das Grüne Band aus der Taufe gehoben. 28 Umweltschützer aus der DDR wurden eingeladen, ca. 400 Naturschützer aus Ost und West kamen. Unglaublich, wie groß muss die Begeisterung kurz nach dem Fall der Mauer und der Öffnung der Grenzen gewesen sein?

      Das Grüne Band, eine Erinnerungslandschaft im wahrsten Sinne des Wortes, für die Besucher, vor allem aber für mich, ehemaliger Flücht-lingsjunge aus dem thüringischen Eichsfeld. Für jeden etwas: eine Kombination vor allem aus oft noch unzerstörter Natur, aber auch als Denkmal der deutschen Teilung. Die von Tschechien bis an die Ostsee verlaufende Trennungslinie, die mehr als 40 Jahre Bestand hatte und die sich im November/Dezember 1989 im Nu auflöste, unvorstellbar in den langen Jahrzehnten der deutschen Teilung.

      Unsere ersten Kilometer mit dem Fahrrad, alles etwas ungewohnt. Kurz darauf stehen wir vor der geschlossenen Gaststätte: Hier soll alles angefangen haben? Irgendwie unwahr. Ich komme mir verloren vor. Angesichts der Bedeutung des Grünen Bandes, der Grenze zwischen Ost und West, ist hier alles etwas unspektakulär. Nach dieser ersten, leichten Enttäuschung kann es nun endlich losgehen: Entlang der Saale fahren wir über Landstraßen nach Regnitzlosau, dann weiter nach Raitschin.

      Hof: Gaststätte „Eisteich“ – Gründungsort des Grünen Bandes

      Ich denke mir bei all dem Gepäck: Fahrrad und Beladung werden wohl sicherlich 45 bis 50 Kilo haben: Ein Glück, dass ich ein E-Bike habe. Dors dagegen: „ Das hätte ich noch mit einem guten Rad gepackt, auch ohne eine ‚Elektroschlampe‘ zu sein .“ Nach knapp 20 Kilometern und zweistündiger Fahrt kommen wir im `Gasthof Raitschin´ an und sind positiv überrascht.

      Nach dem Duschen geht‘s in den Biergarten. Im Gegensatz zu Ostwestfalen setzen sich noch andere Gäste an den Tisch dazu. Eine stattliche Dame, die sich mit ihrem Mann und einem weiteren Gast zu uns an den großen Tisch gesetzt hat, ist in Schwesendorf, wenige Kilometer von Raitschin entfernt und direkt an der früheren Grenze liegend, geboren. Im Prinzip ohne Vater groß geworden, erzählt sie von ihrem beruflichen Werdegang. Die 72-Jährige war früher Gold-Malerin in der Porzellan-Industrie bei der Fa. Hutschenreuther in Selb. Sie hat sich, so erzählt sie stolz, als erste Frau in den sechziger Jahren in einem traditionellen Männerberuf behauptet. Eine aktive Gewerkschafterin und Betriebsrätin, ein sehr sozialer und kommunikativer Mensch. Ihr Mann, ein paar Jahre älter, bleibt recht still.

      Wir diskutieren über die Grenze, wie es früher vor 1989 war und wie es heute ist. „ Wir haben heute ein gutes Verhältnis zwischen den Bayern und Sachsen. “ Eheschließungen zwischen Ost und West seien keine Ausnahme. Zugezogene aus der ehemaligen DDR vollkommen integriert. So vergeht der Abend wie im Fluge, ein paar Gläser Williams Christ Birne lösen die Zungen … Werden wir noch andere Menschen treffen, die uns so bereitwillig Auskunft über ihr Leben an der früheren Zonengrenze bzw. DDR-Staatsgrenze West geben werden? Kann es vielleicht sein, dass Menschen in Ost und West die Geschichte der deutschen Teilung, die Ereignisse des Jahres 1989 und vor allem der Nachwendezeit heute, nach drei Jahrzehnten, unterschiedlich bewerten?

      Tag 1 (18.07.2018): Von Raitschin zur Juchhöh

      km: 19 – 55

      Nachts schlafe ich schlecht. Um drei Uhr wache ich auf. Schmerzen im linken Fuß. Zwei Stunden lang geht mir vieles durch den Kopf: Schaffe ich die 1.400 Kilometer entlang des Grünen Bandes bergauf und bergab? Was tue ich mir hier eigentlich an? Wie soll das die nächsten Wochen weitergehen, wenn ich schon nach 20 Kilometern körperliche Probleme bekomme? Was hat mich eigentlich dazu getrieben, diese Reise in die eigene Vergangenheit, Gegenwart und Zukunft zu unternehmen? Nach zwei Stunden ausgefüllt mit Schmerzen und Fragen schlafe ich wieder ein.

      Gutes Frühstück im Gasthaus Raitschin: Ei, frisches Obst, Cappuccino etc. Gegen halb neun voll bepackt losgekommen.

      Wir fahren nach Schwesendorf. Nach weiteren, wenigen Kilometern gelangen wir zum Dreiländereck (tschechisch: Trijmezi) mit einer Staatsgrenze -Tafel, tschechischen Hoheitsschildern und Wappen ( Ceska Republika ), deutschem Fähnlein, das jemand in der Mitte kreisrund ausgeschnitten und an einen Baum geklemmt hat. Grenzsteine von 1844, mit einem nachgemalten „D“ darauf. Geschichtsfälschung? Die tschechische Seite ist dagegen sehr gut mit Informationstafeln und Ähnlichem ausgestattet.

      Start: Dreiländereck Tschechien- Bayern – Sachsen

      Hier beginnt also der deutsche Teil des so genannten Eisernen Vorhangs, der sich von Nord nach Südost durch ganz Europa zog. Deutsche Teilung auf 1.400 km. Ein Ergebnis des Überfalls Nazi-Deutschlands auf Polen im September 1939, des 2. Weltkrieges mit ca. 50 Millionen Toten und der Beschlüsse der Alliierten Siegermächte, dokumentiert im Potsdamer Abkommen Anfang August 1945. Die Aufteilung Deutschlands in vier Besatzungszonen, der Kalte Krieg in den ersten Nachkriegsjahren, der in die Gründung der Bundesrepublik Deutschland am 23. Mai 1949 und der Deutschen Demokratischen Republik am 7. Oktober desselben Jahres mündete. Eine Grenze, die in den 50er Jahren immer undurchlässiger wurde, bis dann am 13. August 1961 mit dem Bau der