Heinrich Pingel

Grenzgänger


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politische Theateraufführungen mit Otto Buchholz aus Herford, der uns immer und immer wieder in unseren Gesprächen begleitet.

      Dietrich hat zahlreiche zeitgenössische Dokumente gesammelt. Fotos aus den 70er Jahren. Zeitungsberichte von der Öffnung der Grenze. Wir sprechen über die Zeit vor 1989 (Probleme mit den US-Truppen, die durch den Hof fahren wollten, um die Grenze zu kontrollieren). Die Bewohner der Kommune haben kurzerhand mal Barrikaden aufgestellt. Auseinandersetzung mit den Ämtern und dem Bürgermeister. „ Kein Wunder, dass wir manchmal einen auf die Fresse bekommen haben, so wie wir uns manchmal verhalten haben .“

      Angelika und Dietrich Schütze mit uns auf dem Wildberghof bei Tettau

      Der restliche Tag ist relativ schnell erzählt: Fahrt talabwärts zuerst durch den Wald, dann durch ein schönes Tal nach Pressig. Unterwegs eine alte NVA-Kaserne, die nun als Paint-Ball-Eldorado mit allerlei DDR-Militaria ausgerüstet ist. NVA-Fahne, die kopfüber aufgehängt ist. Ostalgie der Jugend?

      Es regnet und regnet. Wir quälen uns den Berg zu dem thüringischen Sonneberg hoch und dann wieder runter. Dors‘ Brille beschlägt und es wird so langsam auf der Straße gefährlich. Ich empfinde den Regen zunächst als Befreiung nach all den Tagen der Hitze. Wir kommen nach Sonneberg, eigentlich gießt es so, dass es Regenberg heißen müsste.

      In einer Bäckereifiliale unterhalten wir uns sehr nett mit der Verkäuferin, die uns erstmal Kaffee, Bratwürste und Kuchen anbietet. „ Wer Arbeit will, bekommt welche. “ Die Tochter hat BWL mit Schwerpunkt Personal studiert, in Bayern gearbeitet und freut sich jetzt nach der Babypause, dass sie im thüringischen Sonneberg in einem neuen Betrieb anfangen kann. Eine Frage der Mentalität!? – Die Antwort: „ Ja

      Ehemalige DDR-Grenzkaserne.

      Jetzt Paintball-Gelände mit DDR-Emblemen und -Militärfahrzeugen

      Wir entscheiden uns heute nach km 192 insgesamt und nur knapp zwei Stunden Fahrzeit schnell eine trockene Unterkunft zu besorgen und beziehen kleine Einzelzimmer im Hotel zur Schönen Aussicht . Was schön sein soll beim Blick auf die befahrene Straße, ist mir schleierhaft. Beide verfallen wir kurz nach Mittag erst einmal in eine Art Komaschlaf und setzen uns am Nachmittag zusammen und versuchen – vergeblich – die von mir schon mal angefangenen Blogs bei VAKANTIO und JIMDO zum Laufen zu bringen. Wir, besser gesagt Dors, entscheidet sich für einen Blog, der bei wordpress.org gehostet wird.

      Abends dann ein Rostbrätl in einer urigen Thüringer Kneipe. Denise, die sehr junge Bedienung, spricht uns mit „ Du“ an, Dors ist ein wenig pikiert, es erinnert ihn an seine Kindheit im Ruhrpott. Wir sprechen über mein „ Du“ ’, wenn ich hier während der Reise mit fremden Leuten, vor allem Männern, spreche. Es ist Teil des „Erbes“ aus alten Zeiten auf dem Bau, als Bier- und Fernfahrer. Es folgen sehr persönliche Gespräche über die Siebziger Jahre, Beziehungen in der DDR etc.

      Ergänzung:

      Hans Wenzel, Wissenschaftler aus Berlin, den ich während meiner Zeit von 2013 bis 2015 in Moldawien an der Akademie der Wissenschaften kennengelernt habe, hat mir freundlicherweise noch ein E-Mail mit eigenen Erinnerungen geschickt. Er ist in Sonneberg geboren und beschreibt auch das Schicksal seines Vaters, des Leiters der dortigen Sternwarte, nach der Wende. Ich zitiere mit seinem Einverständnis aus seiner E-Mail vom 16.08.18 an mich:

      „ Ich bin in Sonneberg aufgewachsen (geboren 1960), wo noch immer mein Vater lebt. Ich kenne daher das dortige Grenzgebiet sehr gut, sowohl aus DDR-Zeiten (natürlich nur die Thüringer Seite) als auch danach. Die Klößerei in Ketschenbach ist mir sehr gut bekannt! Es gibt auch in Sonneberg eine Ausgabestelle der Klößerei ….

      Ich könnte viele Grenzerlebnisse berichten. Unvergessen sind für mich die Zugfahrten von Sonneberg nach Saalfeld über Probstzella mit der Dampflok entlang des Todesstreifens, begleitet von Hunden, welche an gespannten Stahlseilen entlang der Grenze liefen, und die gefürchteten Ausweis-Kontrollen durch die „Trapo“ (Transportpolizei, blaue Uniformen). Die Hunde wurden übrigens nach der Wende an Privatpersonen in Ost und West vermittelt, wobei sie nicht immer ein besseres Leben als vorher hatten (meistens wahrscheinlich aber schon).

      Mein Vater war wissenschaftlicher Leiter der Sternwarte Sonneberg-Neufang. Obwohl selbst SED-Mitglied, wurde er von der Stasi überwacht und drangsaliert, weil er einige Entwicklungen in der DDR als überzeugter Kommunist ablehnte.

      Leider musste die Sternwarte nach der Wende auf Empfehlung des Wissenschaftsrates die wissenschaftliche Arbeit fast vollständig einstellen, sodass mein Vater sich arbeitslos melden musste (später arbeitete er noch an einem DFG-Projekt mit, was ein Kollege aus einem Max-Planck-Institut für ihn beantragte).

      Ein typisches Beispiel, dass im Osten nach der Wende viel ohne Sinn und Verstand platt gemacht wurde, aber auch von westdeutscher Solidarität.

      Ich habe eine kurze Biographie meines Vater auf Wikipedia geschrieben: https://de.wikipedia.org/wiki/Wolfgang Wenzel . Ein nicht ganz typisches ostdeutsches Wissenschaftlerleben.“

      Vielen Dank an Hans Wenzel für diese Information und persönlichen Anmerkungen, die auch ein differenziertes Licht auf die Zeit nach 1989 werfen.

      Tag 5 (22.07.2018): Von Sonneberg nach Eisfeld.

      km: 184 – 222

      Der Tag fängt mit Regen an, der Himmel weint: Dors will heute wieder Richtung Heimat. Vor der ‘Schönen Aussicht’ treffen sich die Sonneberger Mittdreißiger, eher wohl Mittvierziger, im durchgestylten Fahrrad-Outfit … Wenn die wüssten.

      Nach dem Frühstück hilft mir Dors noch schnell den Computer bzw. ein paar Programme auf Vordermann zu bringen, damit das ganze Ding schneller läuft. Das Zimmer ist übersät mit Klamotten, die in die beiden Packtaschen und in die Vordertasche passen müssen, dazu noch Zelt, Isomatte und Kamera-Stativ. Voll bepackt wie ein Esel.

      Schnell noch etwas Geld von der Sparkasse geholt. Im Osten wie im Westen Paläste. Die Kommunen haben es ja … Dann zum Bahnhof und Dors verabschiedet. Der Himmel weint, leise tropft es auf den Sattel.

      Im Regen durch Sonneberg, alles relativ gepflegt, kurz vor der Grenze eine syrische (?), junge Familie auf dem Bahnhof, also doch, es gibt sie auch hier im Osten, zum Glück noch keine ausländerfreien Zonen. Im Zug noch ein kurzein Interview mit Dors über seine bisherigen Eindrücke.

      Ketschenbach bei Neustadt b. Coburg: Gaststätte Klößerei

      Männer holen den Sonntagsbraten

      Richtung Neustadt bei Coburg noch ein Gespräch mit zwei Arbeitern, die sonntags (?) an einer Waschanlage Ausbesserungsarbeiten durchführen. Sie kommen aus dem Westen und arbeiten im Osten. Wohl kein Einzelfall, wie sich in den nächsten Tagen herausstellen sollte. Der „Marktkauf“ lässt in einiger Entfernung grüßen: Subvention Ost?

      In Neustadt bei Coburg fällt mir als erstes der türkische Fußballverein auf. Die Häuser machen einen nicht so gepflegten Eindruck wie im thüringischen Sonneberg. Einbildung, Vorurteil? Auf dem Marktplatz ein Gespräch mit einem ca. 55-jährigen Frührentner, der seinen kleinen Hund Gassi führt. „ Schauen Sie sich doch mal den Marktplatz hier an! Nichts mehr los hier, alles runtergekommen .“ Berichtet von seinen Fahrten in den 70er und 80er Jahren zu den Verwandten in die Sperrzone, Treffen in Sonneberg. Die Stasi hörte immer zu.

      Tour de Neustadt, einmal im Kreis gefahren – das einzig Gute war, dass ich durch Zufall an der Kultgaststätte, die ich schon aus der Grünen-Band-Literatur kenne, „Klößerei“, dem Gasthaus „Lindenhof“, vorbeikomme. Die Männer stehen in Schlangen vor dem Ausgabefenster und holen in ihren Kochtöpfen den sonntäglichen Braten und die Klöße. Drinnen ist die