Heinrich Pingel

Grenzgänger


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wurde.

      Doch zurück zur Gegenwart. Wir entscheiden uns für die harte Tour und folgen dem direkten Grenzverlauf: auf einem kleinen Steg über den Grenzbach und die Fahrräder über zwei Haine hinweg- bzw. durchgeschoben. Dort stoßen wir zum ersten Mal auf die DDR-KFZ-Sperre mit Betonteilen, die gerade noch zu erkennen ist.

      Die ersten 25 km nach Mödlareuth

      Dann unsere erste Fahrt auf dem ehemaligen Kolonnenweg, ausgelegt mit löchrigen Betonplatten, alles sehr holprig. Es macht sich bezahlt, dass wir Trekkingräder mit breiten Reifen haben. Dazu habe ich auch noch eine gute Federgabel vorn und unter dem Sattel ein Federparallelogramm.

      Nach ca. einer Stunde Ende Gelände: das Gras ist so hoch, dass es sich in der Kettenschaltung meines Fahrrads festsetzt und an ein Weiterfahren nicht mehr zu denken ist.

      Es fängt ja gut an!

      Über Stoppelfelder nach Posseck

      Mit vereinten Kräften befreien wir die Zahnritzel von den Gräsern. Dann geht die Fahrt weiter über das gerade abgeerntete Feld kilometerweit, holpernd weiter Richtung Posseck, einem ehemaligen Grenzort auf DDR-Seite.

      An einer Gasstation, wenige Meter von dem früheren Grenzverlauf entfernt, treffen wir auf zwei Monteure, die sich in der Mittagspause ein bisschen sonnen. Sie berichten von ihren Erfahrungen vom November 1989. Sie fuhren mit dem Trabbi nach Hof, wo alle Straßen verstopft waren. Sie hätten sich an den vollen Schaufenstern die Nasen plattgedrückt. Nein, heute gebe es keine großen Unterschiede mehr zwischen Bayern und Sachsen, Fachkräfte würden überall gesucht. Im Vogtland gibt es anscheinend nur 6 Prozent Arbeitslosigkeit. Hat sich in den letzten drei Jahrzehnten seit dem Fall der Mauer in der ehemaligen DDR doch alles normalisiert und verbessert?

      Mödlareuth – „Little Berlin“

      Nach den vorherigen Erfahrungen mit dem Kolonnenweg folgen wir ab Posseck meist den Landstraßen der Grenztour 3. Es geht durch kleine Orte, wir treffen auf freundliche Leute, die Antwort geben, wenn man nach dem Weg fragt. Aber so langsam wird es anstrengend. Kurze, wohltuende Pause auf einer Bank am Waldrand mit Blick auf eine schöne Kirche (St. Clara, Heinersgrün) Danach wird es richtig schön proppenheiß, aber der Akku bringt den E-Motor in Schwung und wir kommen die Hügel gut hoch.

      Über Münchenreuth geht es nach Mödlareuth – die Amerikaner nannten es „Little Berlin“ -, dem ehemals zweigeteilten Ort, der Vorbild für die ZDF-Serie „Tannbach“ war.

      Gespräch mit einem ehemaligen Grenzsoldaten, der 1964 ein paar Monate Dienst bei den DDR-Grenztruppen abgeleistet hat. Alles sei relativ easy gewesen. Ja, es habe sogar Kontakte zwischen West und Ost gegeben. Eine West-Frau aus Mödlareuth, die Bierflaschen trug, wurde von DDR-Grenzern angesprochen, sie solle doch mal ein paar Bier rüberbringen. Die Flaschen seien doch leer, antwortete sie. „ Dann bring uns nachher auf dem Rückweg doch ein paar volle mit.“ Gesagt, getan. Kein Problem. – Kleiner (inoffizieller) innerdeutscher Grenzverkehr.

      Später ergibt sich eine Diskussion mit einer Frau auf dem Museumsgelände. Die Entwicklung und die Ereignisse nach der Wende beschämen sie. Zuerst fand sie Arbeit im schwäbischen Backnang, weil die eigene Lederfabrik in Hirschberg stillgelegt worden war. Nach zwei Jahren im Westen war allerdings auch in Backnang Schluss. Viele Leute wussten zu DDR-Zeiten, wie es im Westen aussah, aber sie hätten sich blenden lassen. Damals hätten sie geschimpft und heute wieder. „ Andererseits: Die Politiker hören ja nicht auf uns!“ Sie hat große Zweifel, wenn sie betrachtet, wie der NSU-Prozess in München verläuft.

      In der Gaststätte „Grenzgänger“ auf der thüringischen Seite genießen wir leckeren Kuchen und Radler. Dors ist froh, dass er seinen, sorry, den Akku seines Fahrrades aufladen kann.

      Beim Besuch des Museums auf der bayrischen Seite sehen wir eine Filmdoku und viele alte Fahrzeuge, die beiderseits der Grenze zum Einsatz kamen. Eine Freianlage mit Beton-Mauer und Grenztürmen sowie dem Sperrzaun haben wir vorher auf der DDR-Seite besichtigt.

      Grenzmuseum Mödlareuth

      Gegen Ende des Nachmittags geht es weiter zum Gasthaus „Juchhöh“. Dort werden wir durch die Wirtsleute freundlich empfangen. Beim Unterstellen der Fahrräder gibt es einen ersten Austausch mit dem Wirt: Er habe kein Mitleid mit den Leuten, die an der Grenze umgekommen sind. Alle zweihundert Meter hätten ja entsprechende Warnschilder gestanden! Ich bin sprachlos angesichts der mehreren hundert Toten, die bei Fluchtversuchen aus der DDR in den Westen an der Grenze umgekommen sind.

      Wir erhalten zwei einfache Zimmer und zum Abendbrot einen gut schmeckende Strammen Max, obwohl die Küche eigentlich geschlossen ist.

      Unser Gasthaus war faktisch das Freizeitzentrum für die Reservisten der Nationalen Volksarmee (NVA), die in der Nachbarschaft in einer öden Kaserne untergebracht waren. Der Wirt war auch eine Zeit lang im Einsatz dort und konnte offenbar den nachfolgenden Jahrgängen in seiner Kneipe in den dienstfreien Stunden attraktive Zerstreuung bieten. Die holprig gereimten Gruß-Devotionalien ganzer Kompanien an den Wänden aus den Siebziger und Achtziger Jahren bezeugen dies.

      Im Zimmer, einfach, aber sauber, erstmal Wäsche gewaschen. Schwertransporter und große Laster donnern im Affentempo am Haus und meinem Fenster vorbei. Starke Geräuschbelästigung. Schlimmer als auf einem Autobahnparkplatz. Egal, um kurz vor zehn geht es ins Bett. Total kaputt und geschafft.

      Tag 2 (19.07.2018): Von Juchhöh bis Nordhalben

      km: 55 – 92

      Die Nacht im Gasthaus „Juchhöh“ habe ich besser geschlafen als die erste Nacht in Raitschin, trotz starker Geräuschkulisse: Schwerlasttransporter, die auf der Straße vorbeigebrettert sind.

      Sehr gutes Frühstück von den Wirtsleuten zubereitet. Der Wirt zeigt uns das Fotoalbum eines ehemaligen Offiziers der DDR-Grenztruppen mit Fotos der Bauarbeiten des Autobahnübergangs 1985-1987. Die west-deutsche Baufirma HOCHTIEF hat mitgebaut.

      Start um 8.30 Uhr nach Hirschberg. Serpentinen mit vielen Kanalschächten. Genau wie zwischen Kassel und Landwehrhagen. Erinnerung an meine Bundeswehrzeit Ende der Sechziger Jahre in Kassel. Habe damals keine Sicherheitsstufe bei der Bundeswehr wegen meiner DDR-Verwandtschaft Ersten Grades bekommen.

      Hirschberg: ehemalige Lederwarenstadt. Fast das ganze Fabrikareal wurde nach 1990 platt gemacht. Nazikunst aus 1937 in Form von drei überlebensgroßen Arbeiterstatuen sind vor dem Museum ausgestellt.

      Fahrt entlang der Saale an Schieferabbau vorbei. Landschaftlich sehr schön. Überquerung der Autobahn bei Rudolfstein, Weiterfahrt über Sparnberg nach Pottiga. Gespräch mit einer älteren Frau: ehemalige Grenzer von Ost und West treffen sich alle 4 Wochen. Herr Oe. aus der BRD organisiere das.

      Blick auf die Saale bei Sparnberg

      Skywalk-Aussichtsplattform: Gespräch mit W. aus Naila. Sportlicher 80-Jähriger mit E-Mountainbike, früher in der Laufszene aktiv, Berlin Marathon, erzählt von den ersten sieben Zügen mit Flüchtlingen aus der Prager Botschaft („ 260 Menschen in einem Waggon, 6 in jeder Toilette“ ), die er als Eisenbahner Anfang Oktober in Hof hat eintreffen sehen.

      Danach eine etwas kürzere Begegnung mit einem ehemaligen DDR-Bürger, der im November 1989 an den Demonstrationen in Plauen teilgenommen hat. Mit Fahne, eher unpolitisch, aber: „ Mielke und die anderen führenden DDR-Politiker hätte man an die Wand stellen sollen!“

      Jahre vorher habe ein Freund versucht in den Westen zu fliehen, ein halbes Jahr