Anke Niebuhr

Zur buckligen Wildsau


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Somit konnte er die Wildsau problemlos kurz verlassen. Im unwahrscheinlichen Fall, dass Josh und Renko eher zurück kamen als erwartet, wäre er im Handumdrehen wieder da. Mit einem Portal müsste das gehen.

      „KI, öffne mir bitte ein Portal zu Hivvy und halte es offen, bis ich wieder da bin. Wenn Josh und Renko auftauchen, lass es mich bitte sofort wissen.”

      Ein Torbogen erschien in der Wand der Wildsau. Adasger trat in den Dschungel und sah Hivvy sofort. Überflüssigerweise sagte die KI: „Ich habe ein Portal geöffnet. Hivvy befindet sich in fünf Metern Entfernung in nordöstlicher Richtung.” Adasger hörte gar nicht zu, er war mit seinen Gedanken längst bei der Elementepfütze. Er stand – mit Borowski auf dem Arm – vor einem halb zerfallenen Müllberg, der aus einer silbrig glänzenden Flüssigkeit ragte.

      „Hivvy?”

      Keine Reaktion, wie die KI gesagt hatte. Seltsam. Es regnete, und dicke Tropfen fielen in die Pfütze. Adasger kniete sich nieder und wollte sie berühren, da fing Borowski an zu zappeln. Er winselte und versuchte zu flüchten. Adasger sprach beruhigend auf den Hund ein und hielt ihn fest. Er streckte wieder den Arm aus und in dem Moment, in dem sein Finger die Pfütze berührte, zerstob sie in tausende winzige Dinger, die wild in der Luft herumwirbelten. Adasger erschrak und zuckte zurück. Dann fing Hivvy das Formflackern wieder an. Erstaunt sah Adasger dem chaotischen Wechsel zu, bis es langsamer wurde und Hivvy schließlich wieder zu einer Pfütze wurde. Ihm dämmerte, was passiert sein musste.

      „Hivvy, du wurdest von einem Blitz getroffen. Das ist zwar selten, aber es kommt vor und ist ganz wunderbar, auch wenn es sich für dich gerade nicht so anfühlt.”

      Die Pfütze reagierte nicht.

      „Es bedeutet, dass du sozusagen Mutter werden kannst, wenn du willst”, fuhr Adasger fort. „Durch den Blitz ist eine Seele in dich gefahren. Die Seele, in Kombination mit deinen Fähigkeiten, kann einen Dschinn erzeugen, wenn du das möchtest.”

      Die Pfütze reagierte auch darauf nicht.

      „Die Gefühle in dir sind noch nicht deine, können es aber werden. Sie gehören zu der Seele, die im Moment ein Teil von dir ist. Du hast die Wahl: Wenn du zulässt, dass sich ein Dschinn formt, kann sich dieser Teil zusammen mit der Seele von dir abspalten. Sobald du ihn loslässt, wird er ein eigenständiges Leben führen und du bist wieder ganz du selbst, so wie vorher. Du kannst dich aber auch komplett in einen Dschinn verwandeln, ohne etwas von dir zurückzulassen. In dem Fall wirst du als Dschinn weiterleben. Das würde bedeuten, dass du deine Fähigkeiten behältst, außer der Zeitmanipulation. Zeit würde für dich – so wie jetzt – normal verlaufen. Dafür wirst du lernen können, wie man teleportiert. Du hättest außerdem eine festgelegte Form, bei der du nur noch die Größe und die Proportionen verändern kannst. Du hast die Wahl, ob du wieder eine Elementepfütze oder lieber ein Dschinn werden willst.”

      Er überlegte.

      „Oder du bleibst, wie du jetzt bist, ein Gestaltwandler. So kannst du keine Gegenstände mehr erschaffen, aber du kannst zu jedem beliebigen Gegenstand oder Wesen werden. In jeder deiner Formen hättest du Gefühle und wärst dir deiner Existenz bewusst. Ich weiß nicht, ob das sinnvoll wäre, und auch nicht, wie sich das für dich anfühlen würde. Leider kann ich dir bei der Entscheidung nicht helfen, denn ich kann es nicht gut genug nachvollziehen. Tut mir leid, dass du damit auf dich allein gestellt bist. Nun, falls das ein Trost ist: Egal, wie du dich entscheidest, du bist jederzeit in der Wildsau willkommen, wenn du zurückkommen möchtest.”

      Die Pfütze reagierte noch immer nicht.

      „Weißt du was? Ich gehe jetzt ein bisschen mit Borowski spazieren und komme irgendwann wieder. Lass dir Zeit, es ist eine große Entscheidung, die du da treffen musst. Es ist nicht eilig, ich komme wieder. Wenn du möchtest, suche ich eine Elementepfütze, die mit dieser Situation Erfahrung hat. Vielleicht könnte dir das weiterhelfen. Überleg es dir in Ruhe, ich bin bald wieder da.”

      Er setzte Borowski auf den Boden. Wie von der Tarantel gestochen rannte der Hund los. Adasger stand auf und ging dem Hund hinterher. Wenigstens rannte Borowski zur Abwechslung mal wieder, das würde ihm gut tun. Der Dschungel war recht undurchdringlich, also schuf Adasger eine unsichtbare Blase um sich herum, die dünne Zweige, Dornen und biegsames Gestrüpp von ihm fernhielt. So konnte er sich halbwegs ungehindert bewegen und brauchte sich keinen Weg freizukämpfen.

      Während er langsam in die ungefähre Richtung ging, in die Borowski verschwunden war, hing er seinen Gedanken nach. Es war ein seltsamer Zufall, dass Hivvy ausgerechnet jetzt vom Blitz getroffen worden war. Manche würden das Schicksal nennen, aber gab es das? Er wusste es nicht und eigentlich war es nicht wichtig, es machte keinen Unterschied. Trotzdem, es war schon ein uriges Phänomen, wie Ereignisse manchmal ineinander griffen und sich gegenseitig beeinflussten.

      Josh hatte sich um die Wildsau-KI kümmern wollen, Renko nicht, im Gegenteil. Renko hatte vermutlich nur Josh zuliebe zugestimmt, vermutete Adasger. Jetzt war er ein wandelndes Gemüse und konnte sich nicht kümmern – wenn man wollte, konnte man da einen Zusammenhang hineininterpretieren. Ob Renko auch von einem Blitz getroffen worden war? Was geschah mit Dämonen, wenn ihnen so etwas passierte? Adasger hatte noch nie von einem solchen Fall gehört, aber möglich wäre es. Hmmm …

      Und was bedeutete es für die Wildsau-KI, dass Hivvy nicht mehr da war und Dinge erschuf? Das war zwar unpraktisch, aber vielleicht gar nicht schlecht. Nicht auszudenken, was sie hätte anrichten können, das hatten sie gar nicht bedacht – und nochmal Glück gehabt. Er würde das bei passender Gelegenheit mit den anderen besprechen. Erst einmal abwarten, was nun aus Hivvy werden würde. Gut möglich, dass bald alles wieder so war wie vorher. Da fiel ihm der Zustand der Wildsau wieder ein. Er würde aufräumen und putzen, wenn er wieder da war. Ja, er hatte richtig Lust dazu. Himmel, aufräumen und putzen – das hatte er ja seit Jahrhunderten nicht mehr getan.

      Amanda

      Der Auftrag, den Amanda erhalten hatte, war bescheuert. Total dämlich und völlig idiotisch. Sie arbeitete für eine Security–Firma, sie war Bodyguard, um Himmels Willen, und nun sollte sie Dolbs entführen? Das war nicht nur illegal, das war bescheuert und lästig und kompliziert und von vorne bis hinten falsch. Falsch, falsch, fucking falsch! Sie würde sich weigern. Sie würde kündigen. Sie würde das schlicht und ergreifend einfach nicht tun. Punkt.

      Blöderweise konnte sie weder kündigen noch sich weigern. Sie hatte keine Wahl. Sie hatte doch eine Wahl. Nein, sie hatte keine Wahl. Ach verdammt!

      Amanda hasste es, dass sie ein Cyborg war. Ein Teil von ihr war noch humanoid–android mit ungewissem Ursprung – zumindest konnte sie sich an ihr Leben vor dem ‚Unfall‘ nicht erinnern – aber der Großteil ihres Körpers war Robotertechnik – na ja, immerhin vom Feinsten. Die linke hintere Hälfte ihres Körpers war fast vollständig zerstört gewesen und durch eine Art Rüstung aus einer Titanlegierung ersetzt worden. Da sie außerdem viele komplizierte Knochenbrüche gehabt hatte, waren fast alle ihre Knochen nun ebenfalls aus diesem Material plus passender Gelenke. Manche wegen der Brüche, andere wegen der ausgleichenden Symmetrie, damit sie die neue Technik ideal ausnutzen konnte. Einige Organe waren durch synthetische ersetzt worden, die besser funktionierten und robuster waren als die Originale.

      In ihrem Kopf befand sich eine KI–Steuereinheit und ein Generator, der das alles in Gang hielt. Irgendwas mit Fusion, wie das genau funktionierte, interessierte sie nicht. Etwa einmal im Jahr musste er neu aufgeladen werden, alles andere war ihr egal. Abgesehen von dem Teil ihres Körpers, der wie eine glatte Rüstung aussah, war optisch alles ganz unauffällig. Die synthetischen Hautpartien waren nicht einmal von Nahem von ihrer eigentlichen Haut zu unterscheiden. Keine Narben, völlig natürliches Aussehen. Erstaunlich. Nur, wenn sie mit den Fingern darüber strich, konnte sie merken, dass die taktilen Reize anders an ihr Gehirn weitergeleitet wurden.

      Knapp sieben Jahre zuvor war sie in einem Labor aufgewacht, in einer schleimigen Brühe schwimmend und mit Schläuchen und Kabeln an alle möglichen Geräte angeschlossen. Um sie herum blinkten und piepten Monitore. Gestalten in grünen Kitteln hatten sich zu ihr herunter gebeugt und sie vermutlich Dinge gefragt, aber sie hatte kein Wort verstanden. Später, nachdem