Anke Niebuhr

Zur buckligen Wildsau


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wie tot gewesen, als man sie gefunden habe, mehr sei nicht bekannt. Aha. Man hatte sich um sie gekümmert, bis sie wieder soweit hergestellt war, dass sie eigenständig herumlaufen konnte.

      Eigenständig. Pah! Sie war zwar nicht direkt ferngesteuert, aber frei war sie nicht. Kein Stück. Die ganze schöne Technik, die sie am Leben hielt, gab dem Konglomerat volle Kontrolle, egal was sie behaupteten. Sie könnten sie tatsächlich fernsteuern, wann immer sie wollten, da machte sie sich nichts vor. Fernsteuern wie eine verdammte Marionette. So einfach war das. Die ganzen Schnittstellen öffneten jedem Tür und Tor, der in der Lage war, durch die Firewalls zu spazieren. Bisher war es eben nur noch nicht nötig gewesen, denn sie hatte immer brav getan, was von ihr verlangt worden war, aber Dolbs entführen? Das ging zu weit. Das ging, verdammt nochmal, zu weit! Das konnten sie nicht von ihr verlangen. Und doch: Sie taten es. Verdammt!

      Nachdem man sie damals als genesen – pah! ‚Fertig zusammengebastelt‘ traf es eher – entlassen hatte, war ihr ein Platz in einer Wohneinheit zugewiesen worden, die sie mit drei anderen Cyborgs teilte. Sie waren gemeinsam trainiert worden. Jeder von ihnen hatte eine KI–Schnittstelle, durch die sie auf relevantes Wissen zugreifen und massenhaft abspeichern konnten. Außerhalb des Trainings durften sie die Schnittstelle ausschalten oder konnten sie zu ihrem Vergnügen nutzen: Medien aller Art standen schier endlos zur Verfügung, für jeden Geschmack war etwas dabei. Toll. Und nach der Ausbildung hatte jeder von ihnen einen Job ‚angeboten‘ bekommen.

      War sie dankbar? Nö. War sie glücklich? Ha! Nö. Wollte sie leben? Keine Ahnung. Eigentlich nicht, aber ausgerechnet jetzt, da sie diese Entscheidung treffen musste, sah es ganz so aus, als würde sie tatsächlich doch leben wollen. Verdammt! Trotz allem konnte sie sich nicht überwinden, dieses Ding, in dem ihr ‚Ich‘ nun steckte, diesen … Körper, in dem sie sich bewegte, zu zerstören. Sie sollte es tun. Es wäre das Richtige. Eigentlich war es die einzige Lösung. Das war schließlich kein Leben, sondern nur ein schlechter Witz. Und trotzdem … Verdammt!

      Alles in ihr schrie danach, sich zu weigern und ihrem Dasein ein Ende zu setzen. Schluss, aus, Ruhe im Karton. Alles, bis auf diese eine nagende Stimme, die ihr in Erinnerung rief, dass man nie wissen könne, was geschehen würde. Wunder gab es immer wieder. Ja klar. Wunder. Was für Wunder denn bitte? Hallo? Bescheuert. Bescheuert und dämlich und definitiv falsch! Und diese Gandrocks waren echt eine Zumutung. Wer auch immer dafür verantwortlich war, dass es ausgerechnet Gandrocks für diese Wüstendurchquerung sein mussten, war nicht ganz dicht. Und ein Sadist.

      Überhaupt: Nesodoraner. Was für ein schräges Volk. Mutierte Humanoide mit vier Armen, fünf Augen und ohne drehbaren Hals. Die gleichmäßig rund um den Kopf verteilten Augen hatten das überflüssig gemacht, und so wuchs der Kopf mehr oder weniger direkt auf den Schultern. Statt der Haare hatten sie nur einen ungefähr kreisförmigen, strubbeligen, recht kurzen Pelz oben auf dem Kopf, das sah ziemlich beknackt aus. Die oberen Arme waren relativ normal, sie ließen sich allerdings ohne Einschränkung sowohl nach vorne als auch nach hinten bewegen, was recht praktisch zu sein schien. Die gleich langen unteren Arme waren spindeldürr, hatten je einen zusätzlichen Ellenbogen und befanden sich am vorderen Teil des Körpers. Zwei der fünf Augen zeigten ebenfalls nach vorne, so wie die riesigen Füße.

      Das einzig Schöne an ihnen waren die Hände. Sie waren langgliedrig und zart.

      Ob sie gute Kämpfer waren? Amanda hatte noch nie gegen einen Nesodoraner gekämpft, sie vermutete aber, dass die zusätzlichen Arme und Augen einen nicht zu verachtenden Vorteil brachten. Nicht genug, um gegen ihre Hightech Robotics und ihr Training eine Chance zu haben, aber bestimmt waren sie lästig genug. Wie viele wären wohl nötig, um Amanda überwältigen zu können? Hier in der Wüste hatte sie natürlich keinen Empfang, um sich entsprechende Kampfvideos ansehen zu können. Sie war gezwungen, auf ihre Datenbanken zurückzugreifen. Blöderweise war sie nicht auf die Idee gekommen, sich vorher ein paar Vids oder wenigstens neue Musik runterzuladen. Sie war viel zu sehr damit beschäftigt gewesen, sich aufzuregen, und hatte keinen klaren Gedanken fassen können, also musste sie sich mit dem begnügen, was sie hatte. Um sich von dem Geschaukel und von der gnadenlosen Hitze abzulenken, sah sie sich einen ihrer Lieblingsfilme an, aber irgendetwas stimmte mit ihrem Kopf nicht.

      Immer wieder kamen ihr penetrant die idiotischsten Sätze in den Sinn und lenkten sie ab: oh, Amanda, wundervolle Amanda, wie süß, wie niedlich, itzelchen unentspannt, blablabla. Wenn sie es nicht besser wüsste – ihre Sensoren zeigten, dass sich nichts Fremdes in ihrem System befand – hätte sie schwören können, dass man ihr Drogen verabreicht hatte. Und die wunderbare, itzelchen unentspannte Amanda sollte nun also Dolbs entführen, ja? Verdammt! Kein Wunder, dass sie unentspannt war, mehr noch, sie war mittelschwer hysterisch – und aggressiv.

      Und was war das überhaupt für ein schräger roter Typ, den sie immer mal wieder vor ihrem inneren Auge sah? Gehörte er zu den Dolbs oder wollten die ihn fressen? Nein, soweit sie wusste, ernährten sich Dolbs von Plankton, er war also nicht ihr Opfer. Keins der Fotos hatte diesen Typen gezeigt, trotzdem hatte sie ihn glasklar vor Augen, und die Dolbs saßen auf ihm drauf. Bescheuert. Was war bloß mit ihrem Kopf los? Fing sie an zu halluzinieren? Wenn sie wieder zurück war, würde sie zu einem Psychodoc gehen und sich durchchecken lassen.

      Die Wahrheit über Blitze II

      Fakt ist: Nicht alle Blitze sind für das menschliche Auge sichtbar.

      Dämonenverkorksung

      Josh wurde von einem zarten Klingeln geweckt. Er lag mit dem Gesicht im Sand, die Sonnenbrille noch auf der Nase. Langsam setzte er sich auf, wischte sich den Sand von der Haut und musste sich erst einmal orientieren. Er war am Meer und diese schwebenden Gestalten waren Dolbs. Ach ja. Renko. Renko! Sofort war er hellwach.

      „Wie geht es Renko? Habt ihr was rausgefunden?”

      Die Dolbs schienen sich nicht einig zu sein, denn er konnte nur bruchstückhaft Worte aus dem Geklingel heraushören.

      „Moment, Moment, Mann, langsam, ich verstehe kein Wort. Ebenen? Parallele Realität? Frequenzen?”

      Sie bimmelten wieder chaotisch durcheinander, aber nach und nach sortierten sich die Gedanken der Dolbs und Josh konnte die einzelnen Aussagen verstehen: Dolbs waren Wesen mit medialen Fähigkeiten. Es gab verschiedene Ebenen des Seins. Das Bewusstsein war für das aktive Denken zuständig und befand sich auf der physischen Ebene. Das Unterbewusstsein war für das passive Denken zuständig, hatte Zugang zu den anderen Ebenen und verband diese mit dem Bewusstsein. Ok, soviel wusste er schon, aber gut, darum ging es also. Weiter. Jede Ebene schwang mit einer bestimmten Frequenz. Durch ihr Gebimmel konnten die Dolbs gezielt in der gewünschten Frequenz schwingen, wodurch sie in die dazu passende Ebene wechseln konnten – das sei so ähnlich wie einen Radiosender einzustellen.

      Sie hatten sich durch die Ebenen gebimmelt und schließlich Renkos Bewusstsein auf einer Ebene gefunden, wo es gar nicht hätte sein dürfen. Eigentlich. Es war nicht dafür ausgelegt, auf diese Art von Reise zu gehen, und ohne Unterbewusstsein hätte es Renko schlicht unmöglich sein sollen, dort hinzugelangen.

      Nun war er aber da und konnte nicht zurück. Etwas war passiert, das diesen Wechsel erzwungen hatte, die Dolbs wussten nicht, was. Renko befand sich in einer Art parallelen Realität, die zwar einen Bezug zum Hier und Jetzt hatte, aber Renko konnte diesen Bezug nicht wahrnehmen, und weil er geistig nicht mehr auf der physischen Ebene anwesend war, konnte er seinen Körper nicht mehr steuern. Ansonsten sei er in Ordnung, glücklich und entspannt.

      „Aber er hat sich doch vom Gandrock fallen lassen. Und er seufzt auch.”

      Dafür hatten die Dolbs keine Erklärung, das sei ohne die Verbindung durch das flexible Unterbewusstsein unmöglich. Sie bimmelten wieder wild durcheinander und schienen zu diskutieren. Als sie damit fertig und sich halbwegs einig waren, bimmelten sie sinngemäß: Nur mal angenommen, Renko sei etwas passiert, wodurch er ein Unterbewusstsein bekommen habe. Dann wäre davon auszugehen, dass er damit nichts anfangen könne. Er lebte schon mehrere Jahrhunderte ohne, würde gar nicht verstehen, was das war, und es somit wahrscheinlich einfach größtenteils ignorieren. Ab und zu könne es theoretisch passieren, dass es trotzdem kurz mit dem Hier und Jetzt in Verbindung stand