Günter Tolar

Mein Mann


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hatte ich nur Amtliches gefunden. Aber da war nichts mehr.

      Aus den Daten auf den Papieren ging klar hervor, dass Norbert seinen Selbstmord mindestens eine Woche lang geplant hat.

      Ich rief Peter an und erzählte ihm das alles, las ihm auch, wieder ohne viel vom Inhalt zu begreifen, wesenlos und sinnleer die Papiere vor und erklärte ihm genau, wo er morgen die Mappe finden würde.

      Ich bat Peter, anzurufen, bevor er käme, da ich um sieben Uhr zwanzig einen polnischen Freund vom Ostbahnhof abholen müsse, dann aber wieder zuhause wäre. Ich wüsste nur nicht, ob und wie viel der Chopin-Express Verspätung haben würde, er habe bis jetzt immer Verspätung gehabt.

      Noch einmal, mit einschärfender Betonung, erklärte ich, wo die Mappe liege. Denn mir war völlig klar, was ich jetzt zu tun hatte.

      Kapitel 5

      IN DER FOLGENDEN NACHT...

      sollte mein Leben ein Ende finden. Ich hatte das Telefon noch weiter benützt, um aus der brutalen Klammer, in der ich mich fühlte, wenigstens für kurze Zeit hinauszukommen. Er hatte Ernst, meinen Finanzmanager, der besonders gut mit Norbert befreundet war, in Mitterbach angerufen und ihm in Kürze die Tragödie erzählt. Auch Alex weckte ich auf und schockte ihn. Hans-Peter und Toni mussten ebenfalls eine schlaflose Nacht verbringen. Mit Hans-Peter hatte ich schon während der fürchterlichen Wartezeit einige Male telefoniert und alle Eventualitäten, auch die des Selbstmordes, durchbesprochen.

      Meinen Bruder in Linz anzurufen schien mir zu grausam, er würde es seiner ganzen Familie sagen müssen. Ihn behielt ich mir für den nächsten Morgen auf.

      Dann aber, als mir niemand mehr einfiel, den ich anrufen konnte und sich auch hier Leere und Ende abzeichnete, begann ich plötzlich, aktiv zu werden. Es wurde mir ganz klar im Kopf, dass es nur einen Weg für mich gab: Ich musste Norbert so schnell wie möglich folgen. Jetzt war er noch nicht weit weg, ich spürte noch die Hand, die ich, die Norbert noch nicht losgelassen hat. Ich wusste ja noch nicht, warum Norbert das getan hat. Ich wusste nur, DASS er es getan hat. Das Warum war mir aber völlig gleichgültig, nur das DASS zählte, die Tatsache. Es war mir nicht vorstellbar, dass Norbert etwas getan hat, von dem er nicht ganz selbstverständlich annahm, dass ich es auch tun könnte und ganz selbstverständlich auch tun würde. ‚Selbstverständlich’ war das Wort, das unser ganzes Zusammenleben geprägt hat. Es kam mir daher gar nicht in den Sinn, an der Richtigkeit dessen, was ich vorhatte, nur im geringsten zu zweifeln. Selbstverständlich war es meine Pflicht, nachdem ich alles für den Bruder Peter bereitgelegt hatte, Norbert zu folgen. Auch das Wie war kein Problem. Ich ging, wie ich war, hinaus auf meine Nordterrasse, von der es direkt senkrecht sieben Stockwerke hinuntergeht in den Hof. Ganz ruhig kletterte ich über das Geländer. Unten im Hof brannte kein Licht, ich sah also den Platz, auf dem ich in den nächsten Sekunden zerschmettert liegen würde, nur schemenhaft. Dennoch, ich wollte nicht sehen, wie ich darauf zuflog und kletterte daher so hinaus, dass ich mit dem Rücken voran fallen würde. So hing ich, mit den Händen am Geländer festgeklammert, mit den Füßen in der unter der Terrasse laufenden schmalen Dachrinne, die sich schon leicht nach unten bog unter meinem Gewicht. ‚Norbert’, rief ich in Gedanken, um nur ja niemand aufzuwecken. Noch einmal ‚Norbert!’ und jetzt loslassen - - da meldete er sich.

      Es war Norbert, der ganz trocken und mit der ihm eigenen, leicht hochnäsigen Überlegenheit, sagte: „Aha, ich mache eine Woche lang Ordnung, und du hinterlässt das Chaos.“

      Schnell schoss mir die Unordnung meiner finanziellen Verhältnisse durch den Kopf. Kein Mensch würde sich auskennen.

      „Richtig, Norbert. Warum sagst du das erst jetzt, wo ich wahrscheinlich kaum mehr zurückkann?“

      Es wollte mir nicht gelingen, wieder auf die Terrasse zu gelangen. Die jetzt schon stark nach unten gebogene Dachrinne, gab immer mehr nach. Wenn sie nicht hielt, dann würden meine Füße bald keinen Halt mehr haben und ich plötzlich durchsacken, was meine Hände wiederum nicht aushalten würden. Ich würde senkrecht, Füße voraus, nach unten fallen. Ich war darüber keineswegs in Panik. Wenn ich fallen würde, hätten meine Erben halt Pech gehabt und müssten sich durch die Hinterlassenschaft durchbeissen. Finanzmanager Ernst hätte da sicher mitgeholfen.

      Einige Wochen später war ich zu einem Abendessen bei Ernst eingeladen. Es gab die ersten, von ihm und seiner Freundin selbst gebrockten, Eierschwammerl in einer hinreißenden Sauce. Da eröffnete mir Ernst, dass er sich in meinen Finanzen gar nicht mehr ausgekannt hätte. Ich beruhigte ihn, so kompliziert wäre es nicht gewesen, er hätte sich da schnell hineingefunden. Aber das sei ja nun kein Thema mehr, sagte Ernst. Eigentlich fragte er versteckt. Ich winkte ab, kein Thema. Derzeit.

      Da aber gelang es mir doch, mich an den Armen hochzuziehen und einen Fuß in einer für mein Alter akrobatisch anmutenden Aktion über das Geländer zu bringen. Ich zog mich hoch und fiel dann endlich nach innen. Dort blieb ich auf dem Steinboden inmitten des vergammelten Unkrauts, das zwischen den Terrassensteinen stellenweise schon bis zu zwanzig Zentimeter hoch wuchs, liegen, bis mir kalt wurde. Ich kroch, schleppte mich irgendwie ins Schlafzimmer und kletterte auf das Bett. Ich kam auf meiner Seite zu liegen und atmete stoßweise. Als ich mich etwas beruhigte, streckte ich meinen rechten Arm aus und legte die Hand auf den Polster rechts von mir, auf dem gestern noch der Kopf von Norbert schlafend gelegen war, und eigentlich schon längst liegen sollte, wie es seit fünfzehn Jahren so war. Da lag aber nichts. Langsam breitete sich um mein Herz ein Schmerz aus, wie ich ihn vorher noch nie gefühlt hatte. Das Brennen und Ziehen wurde immer stärker, steigerte sich an den Rand des Erträglichen, das Herz begann unbändig zu klopfen, ich wurde im Rhythmus des Klopfens am ganzen Körper geschüttelt. Mir war der Schmerz höchst willkommen, unermessliche Freude stieg in mir auf, gleich würde mein Herz zerspringen. Ich versuchte, fest mitzuhelfen. Mit dem Rest der Kraft, die ich noch hatte, bat ich, flehte ich mit tödlicher Intensität: „Ja, ja, zerspring! Zerspring!“ In dankbarer Erwartung des unfassbaren Glücks, dass mein Körper selber mich in den Tod und damit zu Norbert zu bringen bereit war, lag ich da und war glücklich. „Zerspring! Zerspring!“, befahl ich mit meiner, wie ich hoffte, letzten Kraft.

      „Das war das einzig richtige, was du tun konntest“, sagte mir einige Tage später Dr. Huber, mein Hausarzt seit dreißig Jahren. „Dadurch hast du eine Gegenreaktion eingeleitet, die das um dein Herz gestaute Blut abgeleitet hat. Hättest du das nicht getan, wäre alles Blut beim Herz geblieben und der Druck hätte möglicherweise etwas zerrissen. Da siehst du wieder, wie der Mensch doch instinktiv das richtige macht, wenn es um sein Leben geht.“

      Scheiße. Genau und wortwörtlich das dachte ich.

      Das Herzklopfen ließ langsam nach, es wurde sehr still in mir. Wieder legte ich meine Hand auf das Polster von Norbert. Ruhe breitete sich in mir aus, ein Glücksgefühl kam wieder auf, ein müdes, schläfriges, eines, in dem ich mir vorstellen konnte, ewig zu verharren. So musste es einem zumute sein, der langsam im Glück starb. Ins Glück starb. Isoldes Liebestod. Schlaftabletten. Ich hatte vor fünf Jahren eine schwere Zwölffingerdarmoperation. Damals bekam ich, um in der ersten Zeit der Rekonvaleszenz besser schlafen zu können, schwere Schlaftabletten verordnet. Ich nahm damals keine einzige, weil ich mir vorgenommen hatte, es auch so zu schaffen. Ich schaffte es auch. Die Tabletten mussten noch da sein. Ich wusste sogar genau, wo die Phiole stand. Behände sprang ich aus dem Bett und rannte ins Badezimmer. Da, genau am selben Platz seit fünf Jahren, stand das weiß-gelbe Plastikröhrchen. Ich nahm es in die Hand und wusste im selben Augenblick, was geschehen war: Das Röhrchen war leer, Norbert hatte es ausgeleert. Er wusste ganz genau, was ich vorhaben würde und verhinderte es. Ein Gefühl von fernem Zorn stieg in mir auf. Ein Anflug der Bockigkeit, die mich immer überfällt, wenn ich mich bevormundet fühle. Im gleichen Augenblick aber fiel mir ein, dass Norbert mir ja nur befohlen hatte, Ordnung zu machen. Er hatte mir also nur den schnellen, unüberlegten, überhasteten, unordentlichen Weg versperrt. Da erblickte ich die Rasierapparate. Norbert war Nassrasierer und verwendete diese in feste Plastik-Scher-Apparaturen eingeschweißten Klingen, die man nach Verwendung wegwarf. Ich musste an die Klingen herankommen. Die Apparate aber hielten fest, ich fummelte mit zittrigen Händen daran herum, zerschnitt mir zwei Finger, schlug die Apparate gegen den Rand des Waschbeckens, drückte sie gegen die verflieste Wand, umsonst,