Michael C. Horus

Das Buch der Vergeltung


Скачать книгу

verbot, es jemals wieder zu spielen. Ihm waren zu seinem Glücke noch drei Spielgefährten verblieben und wenn er fragte, wo denn der Franco sei und warum er nicht mehr mit ihm spielen und herumtollen dürfe, antwortete man ihm unehrenhaft, dass Franco sehr krank sei und viele Tage Ruhe bräuchte. Die immer noch verängstigten Mädchen Oda und Rosvith wandten sich dem Otto und dem Danilus nun wieder in größerem Vertrauen als zuvor zu. Nun, da sie außerhalb von Francos Reichweite waren, gefährdete nichts den guten Sitz ihrer Röcke, sie entzogen sich kaum noch, und wenn, dann nur sehr kurz, ihrer Beaufsichtigung und die Sorgenfalten in den Gesichtern der Kinderfrauen glätteten sich weiter von Tag zu Tag und in dem gleichen Maße, wie die kleinen Dellen in ihren noch jungfräulichen Seelen.

      Franco de Ferrucius hatte sich in den Augen der Erzbischöfe und der anderen hohen Herren schwerer Vergehen gegen Gott, die heilige Institution der Kirche und gegen die kaiserliche Familie schuldig gemacht.

      Die Anmaßung des höchsten bischöflichen Amtes durch das Tragen der päpstlichen Tiara (es war natürlich nur eine schlechte Imitation aus drei übereinander getragenen Hauben aus Leinenstoff, einem Kissen ähnlicher als einer Mütze) mochte dabei nur der augenfälligste Teil gewesen sein. Viel schwerer als das wog die Erniedrigung, die er dem geweihten König Otto, dem Sohne des heiligsten Kaiserpaares, angetan hatte. Der junge König war hinter ihm, einem Hund gleich an einer Leine geführt, über den Hof geschleift worden – zudem vor den Augen aller Herrschaften, Bediensteten und Gäste.

      Es war eine durch nichts wiedergutzumachende Schande, eine offene Demonstration der Machtlosigkeit, der Schwäche, der Hilflosigkeit und der Ohnmacht des Geheiligten Königs, die so von niemandem hingenommen werden konnte. Unter allen anderen Umständen hätte jemand, der es wagte, ein Mitglied der kaiserlichen Familie derart durch den Dreck zu ziehen, auf der Stelle seinen Kopf verloren. Nur der Herrgott allein in seiner unendlichen Güte und Barmherzigkeit hatte es vermocht, meinen jungen Schüler in dieser ausweglosen Situation zu beschützen und ihm vorerst sein Leben zu retten.

      Noch am selben Tage wurde ein Bote ausgesandt, der den Kaiser und seine Gemahlin über die neuesten Ereignisse auf dem Vossberg in Kenntnis setzen sollte. Allgemein wurde erwartet, dass der Bote in wenigen Tagen, längstens in zwei Wochen, mit einem kaiserlichen Urteilsspruch zurückkehren würde. Franco, so schien es, sollte bis zum Eintreffen des Urteils hier in Gefangenschaft verbleiben. Alsbald darauf wurde mir durch den Herrn Lucius in einem geeigneten Moment zu verstehen gegeben, dass die Grafschaft, ebenso wie die hohen Mitglieder der kaiserlichen Familie, meine baldige Abreise wünschten und er mich ermutigen wolle, die entsprechenden Vorkehrungen zu treffen.

      Ich wusste in dem Lucius einen edlen Herrn und guten Freund, dessen Herz vollkommen frei von Intrige und Missgunst war, deshalb nahm ich seinen Hinweis als guten Ratschlag an und begann sofort damit, die wenigen mir verbliebenen Sachen zusammenzupacken. Doch was würde mit Franco geschehen? Konnte ich ihn hier wirklich allein zurücklassen? Er war mein Schüler, er war noch zu jung, zu unbedarft und zu unerfahren, sein Glaube noch zu schwach, um seine Sache mit genügend Hoffnung und Gottvertrauen vertreten zu können. Und ward er von seinem Vater nicht meiner Obhut anvertraut? Hatte ich nicht einen Schwur geleistet, ihn zu lehren und zu beschützen? Und musste ich mich nicht allein aus diesem Grunde schon an seiner Seite halten, bis klar würde, was mit ihm geschehen soll? Ich hielt inne, setzte mich auf mein Ruhelager und dachte angestrengt nach.

      Wie viel Zeit zum Verweilen hatte ich noch, ohne die Gastfreundschaft der Burgherren über Gebühr in Anspruch zu nehmen? In gesandtschaftlichen Kreisen bedeutete die offizielle Aufforderung zur Abreise im Allgemeinen, dass dies innerhalb von drei Tagen zu verrichten war, sodass noch genügend Zeit blieb, die Dinge zu ordnen, Rechnungen zu begleichen und bei Bedarf eine Reisegesellschaft zusammenzustellen. Unter besonders günstigen Umständen konnte man sich aber auch mit einer fremden Gesellschaft beschließen, was die Kosten für die Lastentiere und für den eigenen Schutz senkte, um im Gegenzug den Komfort meist beträchtlich anzuheben.

      Dass es sich um eine offizielle Aufforderung handelte und nicht etwa um einen persönlichen Wunsch des Lucius, wagte ich nicht ernsthaft in Zweifel zu ziehen, auch wenn die Art der Überbringung etwas seltsam erscheinen mochte. Natürlich verlangten sein Vater und die beiden Erzbischöfe, von ihm zu wissen, wann und in genau welchem Wortlaut er mir die Botschaft überbracht hatte und wohl auch was ich darauf erwidert hatte.

      Als der dritte Tag anbrach und von dem Boten weit und breit noch nichts zu hören war, beschloss ich, beim Grafen und den beiden Erzbischöfen mit meinem Anliegen vorzusprechen. Damit noch länger zu warten, wäre mir als Unhöflichkeit oder gar Schlimmeres ausgelegt worden. Um mich der Gunst und Unterstützung der hohen Frau Gräfin zu versichern, war ich bereits am Tage zuvor in aller Heimlichkeit und unter Zuhilfenahme der braven Hildegard zu ihr durchgedrungen und hatte sie überzeugen können, dass meine Abreise unmöglich ohne meinen lieben Schüler erfolgen könne, worauf ich nicht nur durch einen heiligen Eid verpflichtet war, sondern mich auch durch ein enges Vertrauen und Liebe gebunden fühlte.

      Nun traf ich die drei hohen Herren am Vormittag im Hofe, während sie sich offenbar für einen Ausritt vorbereiteten. Ihnen anbei stand außerdem Bischof Simon, ebenfalls zum Ausritte bereit, so dass ich nunmehr alle vier Herren zusammen ansprechen musste, ein nicht unwichtiger Umstand, der die Lage, in der ich mich befand, zusätzlich zu meinen Ungunsten beeinflusste.

      „Ihr könnt ihn mitnehmen, Liutprand!“, rief Erzbischof Brun schon von weitem, noch bevor ich das Wort an ihn richten konnte.

      Ich trat näher heran, verneigte mich in der tiefsten und vornehmsten Art, zu welcher ich in der Lage war, und sagte demutsvoll:

      „Ich wünsche den hochverehrten Herren einen Guten Tag!“

      Keiner der vier ging auf meine freundliche Begrüßung ein.

      „Wir wollen ihn hier nicht haben“, sagte Meik, während er sein Pferd tätschelte.

      „Ich verstehe nicht“, antwortete ich mit einiger Verlegenheit. „Woher wisst Ihr …?“

      Brun kam einen Schritt auf mich zu und legte mit väterlicher Geste seine Hand auf meine Schulter. „Nun, mein lieber Bruder Liutprand, dass es mit Eurem Glauben nicht so weit her ist, wie es vielleicht sein sollte, ist die eine Sache. Aber Ihr solltet nicht auch noch Euren Verstand, von dem wir bisher nur Gutes gehört haben, in den Orkus werfen. Denkt immer daran, dass nicht nur der Herr Augen und Ohren hat.“

      „Oh, verzeiht meine naive Art, verehrter Brun“, erwiderte ich entschuldigend. „Ich hätte wissen müssen, dass …“

      „Ach Unsinn!“, unterbrach er mich. „Benutzt Euren Verstand! Und zu Eurem Schüler möchte ich Euch ein warnendes Wort mit auf den Weg geben. Habt mehr als ein Auge auf ihn! So er dies hier überstanden hat, und ich hoffe und wünsche für Euch, dass der Kaiser sich von seiner gnädigen Seite zeigen wird, bedarf es einer noch weit größeren Anstrengung von Euch, um ihn zu erretten. Dieser Junge wird Euch ebenso große Freude wie unendlichen Kummer bereiten. Er ist ein Teufel, ein Dämon! Vergesst das nie! Niemals!“

      Brun hatte eine große Eindringlichkeit in seiner Stimme und es schien, als wolle er mich aufrichtig vor einem bevorstehenden Unheil bewahren. Nun war aber hier nicht die Zeit, zu widersprechen und sich auf einen Disput einzulassen. Also schluckte ich meine Worte hinunter und versuchte, mich auf die Dinge zu besinnen, die unmittelbar bevorstanden.

      „Wie ich weiß, habt Ihr einen kaiserlichen Boten entsandt, dessen Rückkehr bald ansteht, verehrter Brun“, sagte ich. „Wäre es nicht angebracht, hier auf seine Ankunft mit dem Urteil des Kaisers zu warten?“

      „Nein, das wird nicht nötig sein. Zieht nur los, Liutprand“, antwortete Graf Meik an seiner Stelle. „Wie ich erfahren habe, führt Euch Euer Weg in die Pfalz nach Mimileibo, wo sich der Kaiser und seine Gemahlin aufhalten. Welch glückliche Fügung, will ich meinen.“

      Er lächelte milde in die Runde der edlen Herren und bekam als Antwort ein beinahe höhnisches Grinsen von allen Seiten.

      Natürlich wusste ich, in welch hinterhältigem Spotte er sich erging, wenn er den uns bevorstehenden Weg in dieser