Michael C. Horus

Das Buch der Vergeltung


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war, war im Magathaburger Schnitt gehalten, was bedeutete, dass die Ecken, die den vier Gliedmaßen des ursprünglichen Tieres entsprachen, dreieckig geschnitten waren. Dies tat man vor allem im Norden des Reiches, um die harten Hornreste der Klauen zu entfernen, die die darunter und darüber liegenden Pergamentbögen zu beschädigen drohten.

      Aber in der Urkunde schien das eine nicht zum anderen passen zu wollen.

      So bemerkte ich, wie inmitten des wohlgeformten Textes die Schrift wechselte, aber nicht in der Art, wie wenn man den Schreiber austauschte, sondern eher so, wie es passierte, wenn man mit Mühe seine Schrift verstellte und die Last der alten Gewohnheit wieder durchkäme. Anfangs gleiche Buchstaben bekamen nun auffällige Ober- und Unterlängen, die Schrift wurde gerader und weniger schön gestochen. Der Schreiber schien es am Schlusse sehr eilig gehabt zu haben und ließ jegliche Mühe, seine falsche und gottlose Absicht zu vertuschen, immer mehr fallen.

      Das Wachssiegel indes, welches dem Pergament zugegeben war, zeigte statt der Insignien des großen Kaisers Karolus diejenigen seines Enkelsohnes, ebenfalls mit Namen Karolus, aber weit geringer von Rang und Ruhm, was dem Siegelschneider in der Vielzahl der zu beachtenden Umstände offenbar entgangen war. Was aber am schwersten wog und mich in meiner Anmutung bestätigte, dass es sich bei dieser Urkunde nur um ein Falsifikat handeln könne, war ein besonderer Umstand, den der anonyme Schreiber aus eigenem Erleben nicht hatte wissen können. Ich hingegen, der einen großen und wichtigen Teil meines Lebens, aus vielerlei wertvollen Quellen gespeist, mit der Geschichte großer Herren und dem Bericht über die Ereignisse der letzten zweihundert Jahre verbracht hatte, wusste nur gut Bescheid um den ehrwürdigen Abt Liudger von Werden und dass er in dem besagten Jahre noch kein Bischof in Monasterium gewesen sein konnte, sondern erst drei Jahre später, wie es bezeugt ist.

      Ich fand ein weiteres Pergament im Magathaburger Schnitt mit einigen Beschädigungen am Rande, die wohl durch das Liegen im Wasser entstanden sein mochten. Nachdem ich einige Mühe darauf verwendet hatte, die schadhaften Stellen auszubessern, entdeckte ich, dass bereits vor mir jemand an einigen wichtigen Passagen gekratzt hatte, um sie daraufhin mit eigener, noch geradezu andersfarbiger Tinte zu überschreiben. Leider gelang es mir nicht mehr, festzustellen, was genau an den betreffenden Stellen entfernt worden war, jedoch bin ich mir sicher, dass es mehr gewesen sein musste, als die allfällige Anrufung Christi oder die Lobpreisung des Herrn. Die in jenem Pergament benannten adligen Herren, es waren vier an der Zahl, waren vom Großen und Frommen Kaiser höchst selbst mit hohen Steuerprivilegien ausgestattet worden.

      Die Frage, die ich mir nun stellen musste, war, ob der ehrwürdige Bruder Pilegrinus von Batavis das Opfer von Verschwörungen geworden war oder ob er selbst ein Interesse am Zustandekommen ebendieser falschen Beurkundungen oder Privilegien hatte.

      Mein Schüler Franco, der auf dem Wege der Genesung war, klopfte an die Tür meiner Kammer und ich forderte ihn auf, eilends hereinzukommen. Nach einer für ihn sehr anstrengenden Woche war er sichtlich abgemagert und sah matt und schläfrig aus. Er hielt eine Decke über seinen Schultern mit beiden Händen zusammen, als fröstele ihn, obwohl es drinnen wie draußen angenehm warm war. Ich hieß ihn, sich zu mir zu setzen, rückte einige Kerzen in seine Nähe, um ihn weiter zu wärmen, und breitete meine Entdeckung zu seinen Füßen aus.

      „Sieh nur, mein lieber Franco, was ich gefunden habe“, sagte ich mit einiger Euphorie und lenkte seinen Blick auf das verschobene Zeichen am linken unteren Rand des kaiserlichen Privilegiums, welches einen Blick auf das darunterliegende und mit einer harten Nadel weggekratzte Zeichen erlaubte.

      Seine Abgeschlagenheit war mit einem Male wie fortgeblasen und von wachem Interesse ersetzt. Er kniete neben mir nieder und untersuchte die besagten Stellen mit größter Gründlichkeit. Daraufhin zeigte ich dem Jungen auch die falsche Urkunde des Abtes Liudger und erläuterte ihm in allen Einzelheiten, woran ich die Fälschung ausmachen konnte. Franco schien auch daran sehr interessiert und erkundigte sich sehr gut im Detail nach der Art und Weise, wie die Siegel geschnitten werden, und ebenso nach den Veränderungen in der Färbung der Tinte, wenn man ihr bestimmte Beimengungen zumischte.

      Ich war sehr froh, einen so aufmerksamen und wissbegierigen Schüler an meiner Seite zu haben, und beantwortete ihm jede seiner Fragen so gut und so ausführlich, wie ich es nur vermochte.

      Aber neben all den geheimnisvollen und verschwörerischen Dingen, die die Pergamentrollen zu unseren Füßen noch vor uns verbergen mochten, interessierte mich brennend auch eine andere Frage. Ich war voller Ungeduld, sie endlich stellen zu können, da seine Genesung so gut vorangeschritten war.

      „Warum hast Du das getan?“, fragte ich geradeheraus, während ich die Urkunden scheinbar nach weiteren Wasserspuren untersuchte.

      „Meister?“

      Ich deutete auf den seidenen Mantel, der zwischen zwei eisernen Haken an der Wand gespannt war. Franco stockte unsicher.

      „Wolltet Ihr ihn denn nicht haben?“

      „Habe ich das gesagt?“

      „Ja, Ihr sagtet, dass Ihr ihn schon in Konstantinopel begehrtet und nicht bekommen konntet. Ihr habt ihn gewollt – ich habe ihn Euch geholt. Was ist daran schlecht, Meister Liuzo?“

      Ich schluckte. Eine solche Antwort hatte ich nicht erwartet. Offenbar kam meine Frage für ihn wenig überraschend.

      „Du hättest bei dem Versuch sterben können, Franco!“

      „Aber habt Ihr nicht auch gesagt, dass wirkliches Begehren jede nur erdenkliche Mühe wert ist?“, erwiderte er.

      Ich überlegte einen Moment und wandte mich ihm dann mit ernster und zugleich besorgter Stimme zu.

      „Begehren sagst Du, mein lieber Junge? Aber meinst Du es auch so?“

      „Natürlich!“, antwortete er ohne Zögern.

      Ich wog den Kopf, um ihm Zeit zu geben, seine Antwort noch einmal zu überdenken. Doch war er scheinbar in einer engen Gasse festgefahren.

      „Hmm. Was begehren wir denn?", wandte ich ein und erhob meine Stimme ein wenig. "Wir Männer des Glaubens begehren keine weltlichen Dinge, Franco. Unser Begehren richtet sich auf die geistigen Werte, wir begehren nach Erlösung oder nach dem Himmelreich. Darauf richtet sich unser Begehr und dieses Begehren ist tatsächlich, wie Du schon richtig gesagt hast, jede nur erdenkliche Mühe wert.“

      Franco schwieg eine Weile und ging dann langsam hinüber zum Mantel.

      „Ich begehre vielerlei Dinge, verehrter Meister, sowohl geistige als auch weltliche. Aber für den Moment genügte mir eine Antwort von Euch", sagte er unbeirrt und in einem etwas zu forschen Tonfalle, während er den feinen Stoff zwischen den Fingern rieb.

      "Welche?"

      "Werdet Ihr den Mantel nun tragen oder nicht?“

      Der Mantel hatte die lange Wässerung nicht gut überstanden. Er war schrumpelig geworden und hatte weiße Ränder bekommen, wo das Wasser getrocknet war. Unmöglich hätte ich ihn in diesem Zustande tragen können.

      Ich hatte die Antwort für Franco schon auf der Zunge – und ich wusste, dass sie ihm nicht gefallen würde. Aber ich brachte es nicht fertig, ihm diese Enttäuschung zuzufügen.

      „Ja, so der Herr will, werde ich …“, log ich deshalb.

      Der Herr möge mir meine Lüge dereinst verzeihen.

      Unten im Burghof war plötzlich das Klappern von beschlagenen Pferdehufen zu hören und kürzte meine Qual ein wenig ab. Ein Reiter in rotem Mantel, es mochte der gleiche Mann gewesen sein, den ich drei Tage zuvor als Boten gesehen hatte, kam zum Tore hinein und verlangte, dass alle verfügbaren Männer der Wache und alle Handwerksgesellen sich mit ihm zusammen am Fuße des Berges einfinden sollen. Dann ritt er wieder zum Tore hinaus. Nun, da wir interessiert waren zu erfahren, was die Männer am Fuße des Berges erwartete, suchten wir für uns einen besseren Platz im Turme, von wo aus wir den Anfang des steilen Weges gut überblicken konnten. Unten stand eine Reihe Wagen und Kutschen, allesamt mit zwei Pferden bespannt. Ich zählte wohl ein Dutzend