Michael C. Horus

Das Buch der Vergeltung


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      Ich wusste damals nicht, ob ich mir Sorgen machen müsste, dass unser Leben oder unser Wohlergehen bedroht sei. Zunächst waren wir in der Mitte des Flusses auf sicherem Abstand und der Schiffsmeister schien gänzlich unbesorgt zu sein, nachdem sie aus unserem Blick verschwanden. So war ich es denn auch.

      Zu unserer Reisegesellschaft gesellte sich, ganz zu meiner Freude, der ehrwürdige Benedictinerpater Pilegrinus von Batavis aus dem Kloster Altahens, welches am schönen Bodamer See liegt. Ein frommer Mann mit einem guten Namen unter den Unsrigen, zumal er sich hervorragend auf das Kopieren von Urkunden und Abschriften von Büchern verstand, die drohten, in Verlust zu geraten durch die Feuchte in den Kellerwänden, unter der das Pergament noch mehr zu leiden hatte, als dem immerwährenden Nagen hungriger Ratten.

      Bruder Pilegrinus von Batavis war ein kleiner alter Mann mit schönen Zähnen, wie es heutzutage durchaus selten ist, und einem wachen Verstand. Er trug eine Vielzahl Schriften und Urkunden mit sich – zusammengerollt so dick wie ein Baumstamm und zum Schutze vor dem Wetter in weiches Kalbsleder gewickelt. Voller Stolz und Sorge zugleich zeigte er mir seine letzten Arbeiten, die, wie ich zugeben muss, durchweg mit hoher Kunst gestochen und gezeichnet waren. Leider gelang ihm in letzter Zeit, wie er mir traurig berichtete, weniger als noch vor einem Jahr, weil ihm die nachlassende Sehkraft inzwischen sehr zu schaffen machte. Er behalf sich mit einem recht verdorbenen Augenglase, welches ich sogleich selbst in Augenschein nahm und allein wegen der vielen kleinen Risse für wenig brauchbar ansah. Weil der Pilegrinus an sich ein sehr frommer und gutartiger Mensch war, der sich jeglicher Gnade und Barmherzigkeit würdig erwies, und ich ihm eine Freude damit machen konnte, schenkte ich ihm eines meiner Augengläser, von denen ich stets zwei mit mir herumtrug, eines zum Ersatze für den Verlust des jeweils anderen. So ich ihm nun das Glas schenkte, ward er wieder glücklich und probierte es noch in derselben Stunde aus, als das Schiff eine ruhigere Lage in der Mitte des Stromes erreicht hatte.

      Auch die burgundischen Kaufleute interessierten sich für seine Arbeiten, als sie ihn so inmitten des Schiffes auf dem Boden sitzen sahen, um sich herum die ausgebreiteten Urkunden und Schriftrollen. Sie staunten über die Kunstfertigkeit und lobten die schöne Ausführung. Bruder Pilegrinus, von so viel Einfühlsamkeit und Kunstverstand angenehm berührt, blühte förmlich auf und gab mit Freude jegliche Auskunft, um die man ihn bat. Sodann erwähnte er voller Stolz, dass er sich auf dem Wege zum Heiligen Kaiser befände und seine Abschriften Auftragswerke der kaiserlichen Kanzleistube wären, die er nun abzuliefern bereit sei. Als ich dies hörte, hüpfte mein Herz vor Freude noch ein Stück weiter in die Höhe, wusste ich doch, dass wir nun einen weiteren Begleiter mit eben demselben Ziele gefunden hatten und dass nun die Zeit bei angenehmen Gesprächen wie im Schlafe vergehen würde.

      Nur allzu gern hätte ich diesen ehrenwerten und gebildeten Herren auch eines meiner Werke vorgeführt, da ich es ja auch in diesem Moment bei mir trug. Ihr wohlgefälliges Urteil und die Anerkennung der hohen Aufgabe hätten meine Seele ganz sicher erfreut. Leider ließ aber der Stand der Dinge etwas Derartiges nicht zu. In meinen Augen hatte allein der Höchste und Heilige Kaiser ein gemäßes Anrecht darauf, das Werk als erster zu sehen. Und es wäre mir als seinem loyalen Diener unbotmäßig und auf gewisse Weise auch verräterisch erschienen, anderen den Vorzug in dieser Angelegenheit zu geben. Und so beließ ich es, wo es war, sicher verwahrt und vor fremden Blicken geschützt.

      Doch dann wandelte sich plötzlich das Bild. Die Kaufleute zogen sich schweigend auf die eine Seite des Schiffes zurück, Bruder Pilegrinus auf die andere. In einem ruhigen Augenblick nahm mich Pilegrinus beiseite und bedeutete mir, dass ihm die Gegenwart der Kaufleute auf dem Schiffe seelische Schmerzen bereitete.

      Ich fragte ihn, was ihn denn so sehr bedrücke.

      „Sie sind keine ehrbaren Männer!“, sagte er beschwörend.

      „Warum denn nicht, mein lieber Pilegrinus?“

      „Sie sind nicht Gottes Wille! Und sie gehören keinem ehrbaren Stande an.“

      „Aber es sind gute Kaufleute und auch sehr verständig. Warum zweifelt Ihr an ihnen?“

      Bruder Pilegrinus stöhnte auf.

      „Das ist es ja eben! Sie gehören nicht zu den Betenden und nicht zu den Kämpfenden. Aber zu den Arbeitenden kann man sie auch nicht zählen. Was sie tun, ist sich an den Dingen der anderen schamlos zu bereichern. Sie nehmen dem einen das Korn und verkaufen es dem anderen, mit Gewinn, aber ohne das Korn zu mahlen oder zu backen. Und einem anderen nehmen sie das Tuch, um es andernorts auf dem Markte feilzubieten. Aber es ist immer noch dasselbe Tuch, keinen Mantel oder Rock haben sie daraus gemacht! Das ist wider des Herrn Gebot. Oder wie denkt Ihr darüber, Bruder Liutprand?“

      „Ich sehe wohl, was Ihr meint, Bruder Pilegrinus. Ihr denkt an den Wucher, der wahrhaft eine schmähliche Sünde ist?“

      „Nein, nein, ehrwürdiger Liutprand, nicht der Wucher macht mir Sorge. Das Vergehen besteht schon allein darin, dass hier Zeit verkauft wird. Zeit! Versteht Ihr?“

      Beschwörend blickte er mich an, während seine Hand nach der meinen griff.

      „Aber ruht nicht die Zeit allein in Gottes Hand?“, fuhr er fort. „Und hat nicht auch schon Jesus, unser Herr, die Kaufleute aus dem Tempel vertrieben?“

      Ich sah ihn aufmerksam an. Möglicherweise hatte er recht mit dem, was er sagte.

      Ohne auf meine Erwiderung zu warten, hob Pilegrinus die freie Hand zum Himmel und rief: „Das ist ein deutliches Vorzeichen für das böse Schicksal, welches sie beim Jüngsten Gericht erwartet, Liutprand! Die Hölle ist ihnen sicher, wenn der Herr ihnen nicht die Gnade gewähren sollte, stattdessen ewiglich im Fegefeuer zu schmoren.“

      Nun war es für mich doch an der Zeit, ihm zu antworten, wenn ich mir nicht sein Missfallen für den Rest der Reisegesellschaft zuziehen wollte.

      „Ach, lieber Pilegrinus“, sagte ich also zum Trost, „zürnt ihretwegen nicht so sehr. Wir werden ihre Anwesenheit wohl nicht lang ertragen müssen. Im nächsten Hafen gehen sie sicher wieder an Land und Ihr müsst Euch nicht weiter um ihr Seelenheil sorgen. Ich bin sicher, der allmächtige Herrgott wird es für uns richten.“

      Damit war Bruder Pilegrinus fürs Erste zufriedengestellt und auch ich begann, mich wieder den schönen Dingen zu widmen.

      Zunächst kamen wir wegen eines widrigen Windes nur schlecht voran und als wir die große hölzerne Brücke südlich von Wormatia erreichten, sahen wir wieder die Reiter, wie sie in strengem Galoppe auf die Brücke zuhielten. Doch wir hatten Glück, der Herrgott hielt seine schützende Hand über uns und wir fuhren wohlbehalten darunter hindurch, bevor sie die Stelle über uns erreichen konnten. Bis zu diesem Moment wussten weder ich noch jemand anderes auf dem Schiff, was die Männer so erzürnt hatte, dass sie uns verfolgten, was ja nun offenbar wurde. Als sie feststellten, dass wir ihnen entwischt waren, schossen sie uns zwei Pfeile hinterher, bis der Anführer den beiden Bogenschützen eine schallende Ohrfeige versetzte und diese enttäuscht ihre Bögen sinken ließen. Insgesamt zählte ich an die fünf Männer, wobei einer von ihnen am Ausgang der Brücke zurückgeblieben war. Franco spuckte nach ihnen aus und sagte etwas, das ich hier unmöglich wiedergeben kann, weil es mich schämen müsste. Auch die beiden burgundischen Kaufleute schimpften in ihrer fremden Sprache, und so dachte ich nicht weiter darüber nach.

      Mir selbst ging es nicht sehr gut um diese Zeit. Ein böser Zahnschmerz bedrückte mein Gemüt, die rechte Backe war dick angeschwollen und ich konnte weder essen noch in den Schlaf kommen. Missmutig kauerte ich in einer Ecke des Schiffes und wartete sehnsüchtig darauf, dass der Schmerz nachlassen würde. Der gute Franco versuchte mich zu trösten und betete für mich, aber es half nichts. Ich kannte nicht viele Mittel, die wir hier in der Fremde dagegen verwenden konnten.

      Als Bruder Pilegrinus mich so bemerkte, setzte er sich zu uns und sagte: „Mein lieber Liutprand, wohl sehe ich, dass Euch etwas peinigt, doch weiß ich nicht, wie Euch zu helfen sein wird. Ist es ein Backenzahn?“

      Ich blickte ihn an, nickte kurz und versank erneut in Betrübnis.

      „Mir hat in früheren