Michael C. Horus

Das Buch der Vergeltung


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Feste furchtlos in die dunklen Fluten des Stromes. Ich rief ihm nach, war mir aber bewusst, kaum, dass ich seinen Namen dem Wind übergeben hatte, dass es zu nichts nutzen würde. Franco war offenbar wild entschlossen, die Pergamente aus dem Wasser zu retten, und er würde sich gewiss nicht von einem alten und viel zu zögerlichen Manne wie mir davon abhalten lassen.

      Was ich kaum gehofft und der gute Pilegrinus für unmöglich gehalten hatte, trat tatsächlich ein. Franco kehrte, obwohl sich schon die Dämmerung um uns herum senkte, mit dem Kalbsleder im Arm zurück. Bruder Pilegrinus und ich gingen ihm auf halbem Wege entgegen. Ach, wie herzlich ihm der Pilegrinus dafür dankte, kann und will ich nicht beschreiben, denn es gäbe keine guten Worte für so viel Glück und Freude, die aus tiefstem Herzen emporquollen und die er ihm darbrachte, auf den Knien liegend und weinend vor unendlicher Seligkeit über den glücklichen Ausgang.

      Aber ehe wir uns versahen, waren wir der finsteren Burg immer nähergekommen, so dass unsere langen Schatten bereits ihren Sockel berührten. Mir war zutiefst unwohl zumute.

      Wilde Geschichten hatten wir seinerzeit gehört, von garstigen Kreaturen, die an verlassenen Orten hausten und dabei teuflische Dinge trieben. Sie konnten Feuer anzünden, wo vorher keines war und die Stimmen Verstorbener aus dem Nichts erschallen lassen, sodass es jedem gottesfürchtigen Manne eine elende Qual sein musste.

      Ich war beunruhigt. Die Nacht stand uns bevor und wir hatten noch kein Quartier für uns gefunden. Als ich meine Sorge den anderen beiden mitteilte, ergriff Bruder Pilegrinus ängstlich meine Hand. Er zitterte am ganzen Körper und es war mir nicht ersichtlich, ob dies nun wegen der nassen Kleider oder der zu befürchtenden Scheußlichkeiten geschah.

      „Kommt herauf, Ihr braven Leute. Ihr müsst Euch nicht ängstigen!“, rief plötzlich eine feste Stimme von oben herab, gerade als Pilegrinus zu einer Erklärung ansetzen wollte. Wir sahen hinauf und entdeckten einen Mann der Wache, der eine Fackel hielt und uns gar freundlich zuwinkte.

      „Wer ist Euer Herr?“, fragte ich zurück, aber die Antwort ließ ungewöhnlich lange auf sich warten.

      „Ihr seid in des Kaisers Schutz“, rief eine zweite Stimme. „Habt keine Furcht! Hier gibt es gutes Essen und ein sicheres Nachtlager für Euch. Dort unten ist es nicht sicher genug für ehrbare Männer wie Euch. Kommt nur herauf!“

      Einer solch freundlich gesprochenen Einladung konnten und wollten weder Bruder Pilegrinus noch ich bei aller gebotenen Vorsicht widerstehen, erst recht nicht, nachdem wir mit Gottes Hilfe unser nacktes Leben gerade noch eben aus dem Wasser ziehen konnten. So beschlossen wir dann, die Einladung anzunehmen. Wir sammelten die Maultiere und die wenigen übrigen Sachen zusammen und ich dankte meinem lieben Schüler für seine Kühnheit und Entschlossenheit. Allerdings war zu meinem größten Leide durch den Verlust unserer weiteren Taschen offenbar geworden, dass ich nun mit leeren Händen dastünde, wenn der Heilige Kaiser uns empfangen wollte, weil die einzige verbliebene Tasche nur einen Rest an Proviant enthielt. Alle Geschenke, die wertvollen goldenen und silbernen Kannen, die ich eigens für den Kaiser und seine holde Gemahlin ausgesucht hatte, die kunstvollen Schwerter der Sarazenen, die kostbaren Gewänder und Tuche trieben im Flusse dahin und waren wohl unrettbar verloren.

      Franco erwiderte meinen sorgenvollen Blick.

      „Wer hat Dich das Schwimmen im Wasser gelehrt, mein guter Junge?“, fragte ich ihn mit nicht geringer Verwunderung und Anerkennung in der Stimme, als wir den steilen und wie ein Wurm gewundenen Weg zur Feste hinaufstiegen.

      „Niemand, Meister Liuzo. Ich habe es mich selbst gelehrt.“

      Er muss mir meine Verblüffung angesehen haben, denn sogleich fügte er zu seiner Erklärung hinzu: „Vor nicht langer Zeit habe ich beobachtet, wie einer der Händler aus Arabien, die wir in Pavia allerorten gesehen haben, aus freien Stücken in den Fluss Eridanus gestiegen ist und wie er nicht unter den Wellen verschwand. Ich sah, wie er vom Ufer forttrieb und wenig später wieder zurückfand, wobei er mit den Armen und Beinen ruderte wie eine Ente. Es war aber gar nicht schwer, seine Bewegungen zu lernen und nachdem der Mann fort war, machte ich es ihm sogleich nach.“

      Ich fand es durchaus bemerkenswert, wie mein braver Schüler die Dinge selbst in die Hand nahm und seine Ausbildung aus eigenem Antriebe heraus in einer überaus nützlichen Weise ergänzte. Keiner meiner früheren Schüler hatte dergleichen je getan, was mir aufs Neue ein Fingerzeig war, dass der Franco ein von Gott begnadetes Geschöpf war.

      „Du hättest ertrinken können bei dem Versuche“, merkte ich dennoch an.

      „Nun, verehrter Meister Liuzo, wie Ihr seht, lebe ich aber noch. Ab und an müssen wir die Dinge selbst in die Hand nehmen, damit sie so werden, wie wir sie wollen.“

      Ich sah zu ihm hinüber. Aus seiner Stimme klang eine zuvor nie gehörte Festigkeit heraus, die mir tief im Inneren meiner Seele Sorge bereitete.

      „Vergiss nicht“, ermahnte ich deshalb in väterlichem Tone, „dass allein Gott, unser Herr im Himmel und auf Erden, bestimmt, wie die Dinge sein sollen. Wenn er es geschehen lässt, wird es geschehen. So steht es in der Heiligen Schrift, mein lieber Junge.“

      Franco schüttelte den Kopf. „Nun, ich denke, mitunter überlässt es Gott uns Menschen, zwischen richtig und falsch zu unterscheiden.“

      „Wir Menschen sind nur Geschöpfe des Herrn, seine untauglichen Diener! Niemals dürfen wir uns in seinem Angesichte zum Richter aufschwingen!“

      „Ja, aber glaubt Ihr denn, verehrter Bischof, dass Gott gar selbst die Pergamente aus dem Wasser gezogen hätte oder dass der Herr das widerspenstige Maultier den Felsen hinabgeworfen hat?“

      Ich blieb stehen.

      „Was redest Du da nur, Junge?“

      Mir fiel es schwer zu glauben, was sich meinen Ohren soeben offenbarte. Andererseits hatte ich wohl kaum genügend Grund, an den Worten meines Schülers zu zweifeln. Hatte er das Maultier den Felsen hinabgestoßen? Hatte er wirklich für den unglücklichen Bruder Eco Rache an dem armen Tiere genommen und es dann vor mir wie einen Unfall aussehen lassen? Ich mochte es nicht glauben, aber Francos hochmütig lächelnder Ausdruck, der die Gewissheit ausstrahlte, etwas Gottgefälliges und überaus Gerechtes getan zu haben, schauderte mich, wie ich es selten zuvor erlebt hatte. Musste denn auch ich mich vor ihm fürchten, wenn ich eines Tages fehlging und jemand durch mein Versehen zu Schaden käme, so fragte ich mich.

      Bruder Pilegrinus sah mich nachdenklich an. Natürlich konnte er nicht wissen, worüber wir gerade sprachen, aber er ahnte es doch und bemerkte die plötzliche Veränderung in meiner Miene. Abwechselnd blickte ich den braven Pilegrinus und meinen Schüler Franco de Ferrucius an. Was war er nur für ein Mensch? War er nicht, wie ich auch, ein Mann Gottes? Hatte er nicht einen heiligen Eid auf den Herrn geleistet? Warum tat er einerseits Dinge, die so unverständlich und gottesfern waren, dass ich sie mir nicht einmal vorstellen mochte? Und andererseits rettete er unser aller Leben und Wohlergehen, ohne dabei auch nur im Entferntesten an sein eigenes zu denken.

      Die Feste Vossberg am ebenso schönen wie gefährlichen Flusse Rhenus wurde vom frommen Grafen Meik verwaltet, der dem sächsischen Herrscherhause treu ergeben und darüber hinaus verwandtschaftlich durch seine Nichte verbunden war, die wiederum den ältesten Sohn des Herzogs Heinrich heiratete und somit dessen Schwiegertochter wurde. Dem heiligsten Kaiserpaar stand der Graf Meik auch persönlich sehr nahe und ward während der großen Italienreise mit dem Schutze und der Ausbildung des noch minderjährigen Sohnes Otto betraut. Der Meik selbst musste einer der glücklichsten Menschen in Gottes Erdenkreis gewesen sein, so ihm sein Eheweib zwölf gute Kinder, elf stramme Jungs und ein Mädchen, zur Nachfolge geschenkt hatte – und ein Ende noch nicht abzusehen war.

      Der älteste Sohn, mit Namen Henk, stand der Burgwache als Hauptmann vor, so wie auch die anderen alle, ihrem jeweiligen Alter folgend, wichtige Aufgaben am Hofe übertragen bekamen. Jegliches Wohlergehen und die Zerstreuung der vielfältigen Gäste des Grafen und seiner holden Frau Gemahlin, zu denen auch regelmäßig hohe weltliche und geistliche Herren gehörten, oblag dem zweitältesten Sohne Lucius, dem man schon früh ein besonderes