Michael C. Horus

Das Buch der Vergeltung


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stieg beherzt ins kalte Wasser und schwamm zur bezeichneten Stelle. Mit Freude und Überraschung stellte er fest, dass es sich um einen der wertvollen Seidenmäntel handelte, die den beiden getöteten burgundischen Kaufleuten gehört hatten und von denen mindestens einer in die Hände der Räuber gefallen war. Und er erinnerte sich, mich in begeisterter Manier über diese Mäntel reden gehört zu haben. So barg er das wertvolle Tuch und schwamm damit zurück an Land. Wie er nun das Ufer wieder besteigen wollte, rutschte er im Morast aus, streifte mit dem Halse einen Baumstumpf und verdrehte den rechten Arm auf diese schmerzvolle Weise.

      Als mir jedoch später am gleichen Tage der Hauptmann Henk insgeheim zu verstehen gab, dass an der Geschichte des Franco etwas nicht stimmen könne, bat ich ihn, sich mir ohne Rücksicht zu erklären. Hauptmann Henk zog mich in einen stillen Raum abseits des großen Saales und berichtete in einer gänzlich anderen Version von Francos Geschichte. Er tat dies mit so viel Beweiskraft und Überzeugung, dass ich ohne jeden Zweifel bereit war, ihm zu glauben und seinem Bericht zu vertrauen.

      So weiß ich nun sicher, dass mein Schüler die Burg nicht erst nach Sonnenaufgang verließ, sondern bereits um die Stunde des Frühgebets15) herum. Das hatten ihm seine Wachen gesagt, die Franco im Schutze der Dunkelheit durch einen seitlichen Ausgang verschwinden sahen. Er sei auch nicht flussabwärts, sondern eine halbe Meile flussaufwärts gegangen und sodann zum Steg auf die andere Seite geschwommen. Die Männer folgten seinen Spuren bis zu ebenjener Stelle am Ufer, bei der er ins Wasser gestiegen war. Danach haben sie ihn aus den Augen verloren. Auch bei seiner Rückkehr kam er keineswegs aus der nördlichen Richtung, sondern den gleichen Weg wie schon zuvor. Die Wachmänner erkannten, dass er etwas Schweres bei sich trug, ohne dass sie hätten sagen können, was es gewesen sei.

      Nun, das Bild fügte sich neu zusammen. Auch ohne weitere Erklärungen wusste ich nach kurzem Überlegen, was dies zu bedeuten hatte: Franco war den berittenen Räubern in ihr Lager gefolgt und hatte sich ganz offenbar auf einen Kampf mit ihnen eingelassen, in dessen Folge er sich dann die Verletzungen an Hals und Schulter zuzog. Aber warum, um Gottes Willen, hatte er sich in eine solch große Gefahr begeben? Hatte er dies alles wirklich nur wegen des zweifellos schönen Mantels auf sich genommen? Oder war er nicht vielmehr auf Rache für das ihm angetane Unrecht und den Verlust unserer Sachen aus? Ich wusste nicht, was ich dem braven Hauptmann Henk erwidern sollte, bat ihn jedoch, dies alles außer mir und seinem Herrn niemandem gegenüber zu erzählen, und dankte ihm seine Verschwiegenheit mit einem kleinen Geschenk.

      Wie es kam, lag Franco am Morgen des nächsten Tages krank danieder. Ihn plagte hohes Fieber und ein entsetzlicher Husten reizte seine Kehle. Sein Atem ging flach und schnell, und ich ließ sogleich den Medikus kommen, um guten Ratschlag von ihm zu hören. Der Medikus erschrak beim Anblick des Jungen, wie er so glühend und keuchend dalag. Er wechselte sofort den von Blut durchtränkten Verband, besah aufmerksam die große Wunde am Hals und teilte mir mit, dass sie bereits in Heilung war und somit als Grund für sein Unwohlsein ausschied. Dennoch, es stand nicht gut um den Jungen, wie er mir sagte. Es müsse sich wohl um eine innere Krankheit handeln, gegen die er beinahe machtlos sei. Franco klagte über Schmerzen in der Brust und bald darauf warf er gelben Schleim aus, was mich umso mehr nichts Gutes für ihn befürchten ließ. Der Medikus verordnete ihm Kräuterbäder und kalte Wickel an den Beinen sowie völlige Ruhe im Liegen und an frischer Luft. Am siebten Tage wolle er, wenn es damit nicht besser würde, einen Aderlass wagen.

      In der Nacht plagten den Jungen schlimme Träume, die mich an bösen Nachtschaden denken ließen. Er rief laut vor sich hin, so dass es sich wie Kampfeslärm anhörte. Im Schlaf schien er den Salek zu sehen, wie er auf mich zustürzte, denn auch meinen Namen nannte er gar laut und deutlich. Gewiss hatte er unter diesen schrecklichen Erlebnissen arg zu leiden, doch es gab nichts, womit ich ihm hätte helfen können.

      Der gute Pilegrinus verabschiedete sich ganz unerwartet an jenem Tage von uns, als er mir mitteilte, dass es meinem Schüler nun scheinbar besserging. Leider stimmte es nicht, er redete es sich nur ein. Die gute Erziehung verbot ihm wohl, sich in einem Moment davonzustehlen, in welchem es dem Jungen nicht gut ging. Auf gewisse Weise fühlte er sich dem Franco gegenüber verpflichtet. Seit dem Überfall auf dem Schiff steckte er voller Angst und fürchtete immer noch um sein Leben. Ich wusste, dass es ihn mehr denn je zurück in die Geborgenheit seines Klosters zog und dass er seine längst getroffene Entscheidung nur deshalb noch nicht verkündet hatte, weil Franco, dem er nunmehr die Existenz seiner Schriftrollen verdankte, noch immer krank und dem Tode näher als dem Leben war.

      Also bat er mich, da wir doch ein gleiches Ziel hätten, die fertigen Schriftrollen an mich zu nehmen, sie gut zu beschützen und sie an seiner Statt dem hohen und heiligen Kaiser zu überbringen. Dazu solle ich beste Grüße und Wünsche ausrichten und einige wohlgestimmte Worte finden für den frommen Kaiser Otto und seine holde Gemahlin, die Kaiserin Adelheid, ganz so, wie er selbst es getan hätte. Das versprach ich Bruder Pilegrinus vor seiner Abreise bei meiner Ehre und so wollte ich es tun.

      Durch Gottes glückliche Fügung ergab sich für mich aus diesen Ereignissen der angenehme Umstand, nicht mehr mit leeren Händen vor des Kaisers Thron bestehen zu müssen, da wir ja unsere reichen Geschenke und anderen Gaben verloren hatten.

      Zum Abschiede zog mich Bruder Pilegrinus noch einmal beiseite, um zu fragen, ob ich mich der beiden burgundischen Kaufleute auf dem Schiffe erinnerte. Da ich bejahte, streckte er seinen Finger in die Höhe und mahnte, immer daran zu denken, dass sie der Strafe Gottes letzten Endes doch nicht entkommen konnten. Und ich solle dies meinen Schüler unbedingt lehren.

      Ich gab ihm auch dieses Versprechen und ließ ihn sodann ziehen. Später am Tage betete ich für ihn, auf dass er heil bei den Seinen ankommen möge.

      Auch die folgenden zwei Tage und Nächte fieberte Franco noch und schlief sehr unruhig. Wenn er wach wurde, redete er hingegen kaum, sondern hustete fortwährend gelblichen Schleim und schien wie im Nebel zu stehen. Er erkannte weder mich noch sonst irgendeinen von hier, auch der Medikus, der viermal am Tage nach ihm sah und die Wadenwickel wechselte, war ihm völlig fremd. Dann endlich, nach weiteren drei Tagen, besserte sich sein Zustand. Das Fieber sank ein wenig ab und das Drücken in seiner Brust wurde leichter, so dass er wieder flüstern konnte, ohne zu husten und sogleich in einen schmerzhaften Krampf zu verfallen. Ich freute mich für ihn und auch, weil er auf diese Weise um den allfälligen Aderlass, eine Heilmethode, welche ich seit der erhellenden Begegnung mit dem heilkundigen Bruder Matthias in Pavia mit einigem Zweifel und Argwohn betrachtete, herumgekommen war.

      Noch am Tage der Abreise von Bruder Pilegrinus, der von einer vierköpfigen bewaffneten Eskorte ein gutes Stück begleitet wurde, verließen uns auch die drei lothringischen Kaufmannsbrüder in Begleitung von Soldaten. Dass sie nicht zusammen abgereist waren, obwohl sie einen ähnlichen Weg einschlagen wollten, schien mir in diesem Augenblick verständlich.

      Kurz darauf kündigte ein berittener Bote in einem feuerroten Mantel neuen, königlichen Besuch an. Sogleich begann die Frau Gräfin, zusammen mit der liebreizenden Barbara und dem guten Lucius, die Vorbereitungen für ein großes Fest zu treffen.

      5. Kapitel

      Ich entnahm die Schriftrollen des Bruders Pilegrinus vorsichtig dem Kalbslederfutter, welches von der Feuchtigkeit hart und rissig geworden war, und gab es dem mittleren Grafensohn Howus mit der frommen Bitte, es in der hiesigen Kürschnerei wieder in Form bringen zu lassen. Unterdessen sah ich mir aus reiner Neugier und ohne ein bestimmtes Interesse die hervorragenden Arbeiten des Pilegrinus und seiner hochverehrten Brüder aus dem Kloster Altahens an. Unter den Urkunden fanden sich neuere Originale von Schenkungen und zweierlei Privilegien, die zu ihrer Beglaubigung an den Kaiserhof geführt werden sollten, aber auch wundervolle Abschriften älterer Urkunden und Schriften, die mit einiger Kunstfertigkeit und mit besonders schönem Striche hergestellt worden waren. Einige davon erregten mein besonderes Interesse, weil ich zu meiner größten Erbauung darin Ereignisse beschrieben fand, deren Zeuge meine geringe Person, Bischof Liutprand von Cremona, selbst gewesen war.

      An einer Stelle jedoch geriet ich ins Staunen. Zu meinen Füßen lag die Abschrift einer vom großen Kaiser Karolus höchst selbst beglaubigten Urkunde, mit welcher er dem ehrwürdigen Bischof Liudger im Jahre 802 unseres Herrn einen großen