Michael C. Horus

Das Buch der Vergeltung


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noch einer der Knaben allein auf der Stange, was mich doch sehr verwunderte. Denn solange beide an der Stange kletterten, schien es mir durchaus möglich, ihre Kunst durch ihr gleiches Gewicht auf jeder Seite vorzuführen. Dass aber ein Knabe allein sein Gleichgewicht derart zu beobachten wusste, dass er nicht herabstürzte, versetzte die Kaiserin und mich selbst so in Erstaunen, dass es auch dem Kaiser nicht entging. Er lachte herzlich darüber und wir sprachen bei Tische und zu anderer Gelegenheit noch lange über dieses wunderbare Spiel.

      Nach dem überaus reichlichen Mahl zogen wir uns in den großen Gesellschaftsraum zurück, den ich eigens für das Kaiserpaar mit einigen seltenen afrikanischen Tieren, darunter bunt befiederte Papageien und ein junges Nashorn, allesamt gestopft mit feinem Stroh und gar wundervoll hergerichtet, hatte ausstatten lassen. Als der Kaiser zur Seite hin meinen Schüler Franco erblickte, schien er sich sogleich an ihn zu erinnern. Er sagte zu mir, während Franco zuhörte, dass er noch gut wisse, wie aufmerksam, verständig und scharfsichtig der Knabe die Heilige Synode zu Rom verfolgt hatte, und dass ihm auch nicht entgangen sei, welch festen und fortwährenden Blick der Junge auf ihn geheftet hatte. Er fühlte sich dadurch geehrt und gestärkt, sprach er weiter, während Franco an beiden Ohren heftig errötete.

      Als es an die Entlohnung des Mannes und seiner beiden kunstfertigen Knaben ging, ließ ich meinen Beutel aus goldbesticktem Kalbsleder bringen und überreichte in Gegenwart des Kaiserpaares und unter vielen lobenden Worten, die ich getreu übersetzte, jedem seinen Anteil daraus. Durch mein eigenes Ungeschick fielen mir eine große Anzahl Silberdenares und ein goldener Solidus hinunter. Franco stürzte sofort hinzu, sammelte die Münzen für mich ein und war gerade im Begriff, sie mir zurückzugeben. Dabei stutzte er über das Porträt, welches den Solidus auf dem Avers zierte und in dem er unzweifelhaft, nicht nur wegen der Heiligen Insignien, den Kaiser Otto erkannte, denselben, der nun im gleichen Raume saß und uns, den Unwürdigen, die Gnade seiner glorreichen Anwesenheit erwies. Er drehte die goldene Münze aufmerksam zwischen seinen Fingern, seine Augen wanderten von dort direkt zum Kaiser, wo sich ihre Blicke unvermittelt trafen. Sofort senkte er seinen Blick auf den Boden, verneigte sich tief und verharrte, wie er war.

      „Du hast mich erkannt, Knabe?“, fragte der Kaiser plötzlich, ohne den Jungen aus den Augen zu lassen.

      Franco nickte gehorsam und verbeugte sich tiefer und demutsvoller vor dem hohen Kaiser und seiner Gemahlin.

      „Es war nicht schwer, Eure Majestät“, sagte er leise und sah wieder zu ihm auf, was mir ungebührlich erschien. „Es ist Euch durchaus ähnlich, wenn auch die Jahre schon vergangen scheinen, in denen die Jugend Euer kaiserliches Antlitz zierte.“

      Der Kaiser verstand die Worte auch ohne meine Übersetzung.

      Einen Augenblick lang herrschte vollkommene Stille in dem Raume. Die drei Künstler wagten nicht, sich zu bewegen, obwohl sie ihren Rückweg zur Tür bereits angetreten hatten. Die göttliche Kaiserin, als Einzige, wandte ihren Blick abwechselnd mit leichtem Schmunzeln ihrem Gemahl und dann meiner Wenigkeit zu.

      „Oh, mein Gott! Junge!“, entfuhr es mir in diesem unglaublichen Augenblick, als Panik und Ohnmacht mich befielen. „Was Du nur redest …!“

      Die Gedanken wirbelten durch meinen Kopf. Ich rutschte von meinem plötzlich unbequemen Sessel und war bereits im Begriff, mich auf das Demütigste und Untertänigste auf den Boden zu werfen, mich für meinen ungehorsamen Schüler zu entschuldigen und das Erhabene Kaiserpaar für diese Ungebührlichkeit um die Güte ihrer Gnade und um Schonung zu bitten. Doch noch bevor ich dasselbe tun konnte, hob der barmherzige Kaiser seine Hand und gebot mir Einhalt.

      Ich erstarrte in einer sehr unbequemen Position.

      Er richtete seinen Blick auf mich und sagte: „Wie ich höre, verehrter Bischof Liutprand, verbirgt sich in dem Knaben neben einem wachen Auge auch ein scharfer Verstand. Recht ungewöhnlich in diesem Alter, findet Ihr nicht auch? Man darf Euch, Exzellenz, gratulieren, über eine so vortreffliche Hand bei der Auswahl Eurer Schüler zu verfügen.“

      Mir verschlug es fast die Sprache, was, wie ich gern zugeben will, bisher gottlob recht selten vorgekommen ist. Zum Glück konnte ich trotz meiner nicht geringen Menschenkenntnis keine Spur von Gram oder Beleidigtsein in seinen Worten und in seinem Ausdrucke erkennen.

      Dann, wieder zu Franco gewandt: „Sag, mein guter Junge, Du bist recht geübt im Worte und im Denken. Ich nehme an, Du bist ein gelehrsamer und braver Schüler unseres guten Bischofs und er lehrt Dich nicht nur die sieben freien Künste, sondern darüber hinaus vieles mehr, was Dir von Nutzen sein kann.“

      Franco nickte ehrfürchtig, vielleicht auch in banger Erwartung irgendeiner Wendung. Aber der Kaiser meinte es mit seinem Lob ganz offensichtlich ernst.

      „Was also hat Dich so verwundert“, fuhr er fort, „als Du den Solidus vom Boden nahmst?“

      Franco sah dem Kaiser offen in die Augen, nun beinahe ohne Scheu. Ich war mir nicht sicher, wie dieses Verhalten zu bewerten war, betrachtete es aber in der gegebenen Lage als botmäßig.

      „Gnädigste Kaiserin und gnädigster Kaiser“, sagte Franco und drehte die Münze erneut zwischen seinen dünnen und viel zu langen Fingern, „verzeiht mir meine Unwissenheit. Ich habe mich oft gefragt, welchem Vorzuge es dienlich sei, einem kleinen Goldklumpen ein Gesicht und einen Namen einzuprägen, wenn es doch keinen Unterschied macht, was ich auf dem Markte vorher wie nachher damit handeln kann.“

      Der Kaiser drehte den Kopf ein wenig zur Seite, so dass er seine Gemahlin sehen konnte. Wieder wollte ich einschreiten, um meinen Schüler vor größerer Peinlichkeit und Bestrafung zu schützen, aber die Kaiserin hieß mich sitzen bleiben und lächelte voller Offenheit und Geduld. Scheinbar hatten die beiden Majestäten an diesem Spiel ihr Vergnügen.

      Ich war zu nichts weiter verdammt als zum Zuschauen und Übersetzen, wo es nötig war.

      Erstaunlicherweise hatte Franco mit der sächsischen Sprache weit weniger Schwierigkeiten, als ich erwartete. Schon nach kurzer Zeit brachte er einzelne Wörter in des Kaisers Sprache heraus, was in mir eine nicht geringe Menge Stolz und Würde wachsen ließ.

      „Du meinst also, für einen Solidus bekämest Du genauso viele Eier oder Korn oder Tuche wie für einen Klumpen aus Gold, bei sonst gleichem Gewichte?“

      Franco bestätigte, dass er die Frage genau so gemeint hätte.

      „Nun, Du hast recht, mein guter Junge. Mir gefällt Deine Frage und ich will sie Dir gern beantworten“, sagte der Kaiser voller Milde und fuhr fort: „Sag mir Junge, Du hast bereits gelernt, was Regalien sind?“

      „Nein, gnädigster Herr.“

      „Auch gut, denn Dein Meister wird es Dich schon bald lehren. Zunächst ist zu sagen, dass wir das von Gott gegebene kaiserliche Recht innehaben, einen bestimmten Platz oder eine civitas zum Markte zu erheben und ebenso zu bestimmen, in welcher Münze auf ebendiesem Markte gehandelt werden solle. Den braven Kaufleuten aber ist ein getreues Geld von Nutzen, welches immer ein gleiches Gewicht, eine gleiche Größe und einen gleichen Wert besitzt. Dies alles aber hängt vom Metall ab. Ein solcher Solidus, wie Du ihn hältst, ist aus Gold und besitzt den gleichen Wert wie zwölf Denares aus Silber. Verstehst Du das?“

      Franco nickte aufmerksam.

      „Nun, in jedem dritten Jahre lassen wir die werten Kaufleute zu uns kommen und all ihre Denares aus Silber gegen neue eintauschen. Wir geben neun für zwölf und ebenso verfahren wir mit den Solidi.“

      Franco senkte den Blick und dachte einen Moment lang nach. „Dann wäret Ihr mit jedem Tausch ein reicher Mann! Ihr bekämet ein Viertel von allem und ein weiteres Viertel von den Wohlhabenden“, antwortete er.

      Der Kaiser und die Kaiserin lachten herzhaft und da konnte auch ich mir ein Schmunzeln nicht verwehren. „Du wärest mir ein gar trefflicher Berater, Junge! Die Kaufleute sind schon von ihrer Natur aus eine zänkische Fraktion, musst Du wissen. Sie würden uns Halunken und Betrüger schimpfen, wenn es so wäre“, entgegnete der Herrscher gutgelaunt.

      „Sie