S. Mayer

Endzeit


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aus dem Bett, um vorsichtig aufzustehen. Es zog und spannte gemein in seinem Bauch, die Schmerzmittel aus dem Krankenhaus ließen eindeutig nach, und ein paar Sekunden war er versucht, zumindest am Inhalt der Fläschchen zu schnuppern, entschied sich jedoch dagegen. Er hatte keine Wissenschaftlernase, dass er zweifelsfrei erschnüffeln könnte, was sich darin befand, und unvernünftiger Stolz oder auch Trotz hielten ihn von vornherein davon ab. Suzanns Fehleinschätzung, dass er ein bisschen Schmerz nicht aushalten konnte und unmittelbar in blindem Vertrauen nach Linderung lechzte, ärgerte ihn doch mehr, als er dachte.

      Er entdeckte einen kleinen Schemel auf der anderen Seite des Tisches und Yûs Kapuzenpullover darauf. Übertrieben hastig griff er danach und nahm ihn an sich, als wäre er ihm das Liebste und Wertvollste auf der Welt, das er zudem niemals freiwillig aus der Hand geben würde.

      Irgendwie unsicher sah er sich noch einmal im Raum um und streifte das Kleidungsstück dann über, umarmte sich einen Moment selbst. Er war weit davon entfernt, Angst zu haben, aber sein gesunder Einzelgängerverstand schaltete eine Stufe höher und ließ ihn bewusst auf der Hut sein. Er war hier vollkommen fremd, befand sich nicht einmal mehr auf der Erde oder in der gleichen Dimension, und Suzann hatte sich teilweise doch recht suspekt verhalten. Der Sweater machte keinen Unterschied in puncto Sicherheit, aber er fühlte sich viel wohler, nicht fast nackt herumspazieren zu müssen – und die Tatsache, dass er Yû gehörte, ließ ihn sich einbilden, dass er sich nur für die Dauer von Stunden von seinem Freund getrennt hatte.

      Er wandte sich dem Wanddurchlass zu und ging langsam darauf zu, hielt die Hand behutsam über der Wunde. Die Kühle des Kräuterbreis wirkte zwar dem Wühlen der Verletzung entgegen, ließ aber gleichzeitig den allmählich zurückkehrenden Schmerz sehr klar und scharf auftreten.

      Aufmerksam besah er sich den Gang, auf den er hinaustrat und der in beide Richtungen kein erkennbares Ende besaß. Direkt gegenüber befanden sich zwei oder drei offene, von Säulen eingeteilte Flächen, die schließlich von glatten, hohen Wänden abgegrenzt wurden und vollkommen leer waren. Es herrschte strahlender Sonnenschein und war bis auf das Vogelzwitschern, von dem er beim besten Willen nicht feststellen konnte, woher es kam, vollkommen still.

      Jonas entschied sich für links, wohin auch Suzann sich gewandt hatte, und ging den Gang entlang, um die nächste halbe Stunde, oder noch länger, aus dem Staunen kaum noch herauszukommen. Suzanns Bezeichnung Palast war mehr als zutreffend, allein die Weitläufigkeit und die teils gigantischen Ausmaße der einzelnen Bereiche ließen überhaupt keine andere Klassifizierung zu. Die ersten paar Minuten kam er sich zwar vor, als wandelte er durch die Ausgeburt des größenwahnsinnigsten Architekten, den die Welt je gesehen hatte und jemals sehen würde, aber dann begann es, ihm irgendwie zu gefallen, und er war schlicht überwältigt, fast schon begeistert. So viel Platz war einfach… In seinen kühnsten Träumen hätte er sich diese räumliche Unbefangenheit innerhalb eines Gebäudes nicht vorstellen können.

      Es war jedoch nicht nur die scheinbar haltlos ausgereizte Größe, sondern auch die Architektur selbst, die ihn in ihren Bann schlug und völlig vergessen ließ, darauf zu achten, wo er wohin abbog und in welche Richtung er sich im Ganzen bewegte. Er verstand nicht viel davon, aber seine Allgemeinbildung ließ ihn doch erkennen, dass verschiedene Epochen der Weltgeschichte, sogar der Kulturen, und deren Baustile vertreten waren, um nicht zu sagen: sie waren wild zusammengewürfelt.

      Wandverzierungen wie aus dem alten Ägypten, gotisch gestaltete Deckenwölbungen, romanische Wasserbecken, hier ein in Stein gemeißeltes Mandala, dort pagodenförmige Ausläufer von aufeinander treffenden Wänden, griechisch geriffelte Säulen, mosaikverzierte Böden und einmal tatsächlich ein, im Verhältnis, unscheinbar kleiner Bereich aus gebrannten Tonziegeln. Er kam sich beinahe vor wie in einem heillos unsortiert errichteten Museum für Baukunst, für das man zudem keinen anderen Baustoff gehabt hatte als weißen Marmor.

      Denn ein Teil der Geschichtsleiste fehlte eindeutig, alles ab der Industrialisierung. Jonas sah nichts, das er nicht mit den Ruinen vergangener Kulturzeiten verband, und schon gar nichts, das er von seinem täglichen Schulweg oder nur alten Ortskernen gewohnt war.

      Von der Ausstattung ganz zu schweigen. Wenn es hier Strom und fließend Wasser gab, dann in einem Gebäudeteil, den er noch nicht entdeckt hatte. Statt elektrischen Leuchtmitteln gab es Wandhalterungen für Fackeln, Feuerkorbständer wie in dem Raum, in dem er angekommen war, Kerzen und keinesfalls spärliche Wandkamine. Ein kleinerer Raum, der bei genauerer Betrachtung einen Sanitärbereich darstellte, entbehrte jeder Privatsphäre, Wasserhähnen oder Toilettenschüsseln – wartete aber nichtsdestotrotz mit einer Sauberkeit und Frische auf, die ihn überraschte.

      Er kam an mehreren Räumen vorbei, die eindeutig das Schlafzimmer von irgendjemandem und zwar wohnlich eingerichtet waren, jedoch jeglicher Ähnlichkeit zu neuzeitlichen Normen entbehrten. Außer Bett und Tisch gab es keine Möbelstücke, stattdessen sah er weitere Truhen wie die beiden in seinem einstweiligen Krankenzimmer, alles einfach und schlichtweg zweckorientiert gestaltet. Es gab Teppiche auf dem Boden und manchmal an den Wänden, aber hätte es irgendwo ein übliches Fenster gegeben, wäre daran mit Sicherheit keine Gardine gehangen. Da waren keinerlei Dekorationsgegenstände oder irgendwelche persönlichen Habseligkeiten zur Freizeitgestaltung, wie Bücher oder Sportsachen. Offenbar verbrachte man seine Zeit hier nur, um zu schlafen, und das, ohne von einem nervtötenden, schrill läutenden kleinen Gerät geweckt zu werden – die einzige Zeitanzeige, die er gesehen hatte, war eine Sonnenuhr. Zuerst hatte er natürlich nicht angenommen, dass man sie verlässlich nutzte, aber nachdem sich hier der spartanische Lebensstil so deutlich abzeichnete, war er nicht mehr so sicher.

      Vielleicht hielt man es im Himmel ja wie die Amisch oder ähnlich abgespaltene Gruppen.

      Jonas blieb stehen und ließ diese Sightseeingtour nicht länger seine gesamte Aufmerksamkeit beanspruchen, sondern kehrte mit seinen Gedanken zurück zum Wesentlichen.

      Wo, verflucht, war er hier – tatsächlich im Himmel? Allein die Vorstellung erschien ihm nach wie vor einfach nur absurd.

      Und warum war er noch nicht einer Menschenseele begegnet? Er würde lügen, wenn er behauptete, sich deswegen unwohl zu fühlen, aber es kam ihm seltsam vor, dass sich nirgends jemand fand.

      Er lehnte sich an die Wand und gönnte sich einen langen Moment. Die Schmerzen waren mittlerweile so stark, dass er sie nicht mehr ignorieren konnte; er spürte seinen Herzschlag überdeutlich, und seit ein paar Minuten stand ihm auch wieder Schweiß auf der Stirn. Der Kräuterbrei hatte seine kühlende Wirkung längst verloren und fühlte sich nur noch unangenehm auf der Haut an, und auch sein Gesicht spannte wieder und stach bei der kleinsten Muskelbewegung.

      Jonas sah in die Richtung zurück, aus der er gekommen war, und stellte ebenso unzufrieden wie leicht besorgt fest, dass er keine Ahnung hatte, wie er zum Ausgangspunkt zurückfinden sollte. Er hatte sich in seinem ganzen Leben noch nie verlaufen und besaß einen ganz guten Orientierungssinn – solange er zumindest einigermaßen auf den Weg achtete. Jetzt war es, als befände er sich mit verbundenen Augen in einem Labyrinth.

      Er schnaubte, stieß sich ab und ging weiter, hielt sich nun aber dichter an der Wand als bisher. Er wusste, dass es wahrscheinlich egoistisch war und dass Laori ihm im Grunde nicht viel schuldete – es war sogar genau umgekehrt –, aber er wurde nun doch langsam sauer auf sie.

      Planlos bog er um die nächste Ecke, erblickte unvermittelt Suzann in vielleicht fünfzig Metern Entfernung vor ihm und atmete auf. Er hätte es zwar vorgezogen, sie würde von seinem kleinen Erkundungsausflug nichts mitbekommen, schon allein um sich keinem schnippischen, diskriminierenden Tadel auszusetzen, aber lieber das, als endlos herumzuirren und am Ende gar zusammenzubrechen.

      Suzann kam zügig auf ihn zu, hielt jedoch ein voll beladenes Tablett in Händen, von dem ihr Blick kein einziges Mal nennenswert abwich, und bog dann auf halber Höhe zu ihm unvermittelt nach rechts ab, ohne ihn zu bemerken.

      Jonas nahm es mit einem unwilligen inneren Grummeln hin und beschleunigte seine Schritte, was keine sehr gute Idee war. Das letzte Stück war anstrengender, als er gedacht hätte; er musste sich an der Wand abstützen und unmittelbar vor der Ecke sogar noch einmal schwer mit der Schulter dagegen lehnen und stehen bleiben. Er war beinahe außer Atem und mehr als erschöpft, und ein Anflug