S. Mayer

Endzeit


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ließ. Sein Magen war ein gähnend hohles Loch, und sein ganzer Mund war ausgetrocknet, die Kehle mit rauem Sandpapier ausgekleidet.

      »Dornröschen ist aufgewacht«, hörte er Suzanns schelmische Stimme, schlug die Augen auf und machte Anstalten, sich aufzusetzen. »Schade, ich wollte dich gerade küssen.«

      »Was?«, machte er mit einem nuschelnden Rest Schlaftrunkenheit, stellte fest, dass er diesmal nicht einmal mehr die Boxershorts anhatte, und griff erschrocken die dünne Decke, um sie höher zu ziehen und sich am liebsten rundherum darin einzuwickeln.

      »Ziehst du immer jeden aus, der sich nicht wehren kann?«, blaffte er Suzann an, doch unter dem Ärger brachte etwas ganz anderes sein Herz zum Rasen und jagte ihm fast den Angstschweiß auf die Stirn.

      Genug gespielt, Kätzchen. Er sah den erregten Ausdruck in Karls Gesicht vor sich und spürte seine gierigen Hände auf seiner Haut, als wäre es nicht Tage, sondern Sekunden her.

      Panik und Verzweiflung wollten über ihn herfallen und trieben nicht nur seinen Puls, sondern auch seine Atemfrequenz in die Höhe, und er hatte Mühe, dem explodierenden, puren Fluchtinstinkt nicht zu unterliegen.

      Jonas stellte ein Bein auf, stützte den Ellenbogen gegen das Knie und schwer die Stirn in die Hand, schloss die Augen und atmete bewusst tief durch. Es gelang ihm, sich zu beruhigen, und er war unglaublich froh, dass Karl und was er ihm angetan hatte ihn nicht in Alpträumen verfolgte.

      Aber vielleicht kam das ja noch. Wenn sein Verstand nicht mehr von Drogen oder Blutverlust beeinträchtigt wurde.

      »Kein Grund, sich so anzustellen«, meinte Suzann derweil spitz. »Ich habe dir schon nichts weggekuckt.« Sie stellte etwas auf dem Tisch neben dem Bett ab und setzte sich auf den Hocker.

      Man hatte ihn zurück in den Raum gebracht, in dem er auch das erste Mal aufgewacht war, und irgendetwas in Jonas weigerte sich einen langen Moment, die Augen wieder zu öffnen. Er fühlte einen kantigen, sperrigen Widerstand in sich aufwallen, eine Art wehleidige Unlust, gemischt mit … Heimweh? Er wollte nicht hier sein – und dass Suzann sich das nächste Mal dann zu ihm ins Bett legte, oder was –, er wollte bei Clara und Yû sein. Er wollte all diese schrecklichen Geschehnisse rückgängig machen, er wollte –

      »Bist du in Ordnung?«, fragte Suzann besorgt. Er konnte ihr Stirnrunzeln geradezu hören.

      Jonas nahm die Hand herunter, warf ihr aber nur einen knappen Blick zu und presste schmerzhaft fest die Kiefer aufeinander, um endgültig seine Fassung zurückzugewinnen. Er hatte ein so furchtbar mieses Gefühl, Yû allein gelassen zu haben, und hoffte inständig, dass er in Ordnung war.

      Seine Augen wanderten ziellos durch den Raum und blieben sofort an dem Mann hängen, der in der Tür stand, das Gesicht auf den Gang gewandt, breitbeinig und die Hände locker hinter dem Rücken – zweifellos ein Wachposten. Die dunkelgrüne, schmucklose und selbst auf die Entfernung als abgetragen erkennbare Kleidung war wohl eine Uniform, und an seiner Seite hing ein Schwert.

      Der Anblick der Waffe löste eine eigenartige Mischung aus Frust und Spannung in Jonas aus, die kaum stärker hätte sein können, wäre dem Mann eine Kalaschnikow über der Schulter gebaumelt. Das wäre zwar auch nicht alltäglich gewesen, aber wenigstens irgendwie normal; das Schwert hingegen hielt ihm nur ebenso simpel wie klar vor Augen, dass er hier nicht mehr auf der Erde war.

      »Hast du Hunger?«, unterband Suzann einen weitergehenden Gedankengang, nahm eine Schüssel vom Tisch und hielt sie ihm hin.

      »Bin ich jetzt ein Gefangener?«, fragte Jonas übellaunig und beachtete die Schüssel nicht wirklich. Sein leerer Magen gab ihm zwar allein beim Anblick aus dem Augenwinkel mit einem unangenehmen Krampfen zu verstehen, dass er sich dieses Essen ja nicht entgehen lassen sollte, aber die Bedeutung des Wachpostens erschien ihm erst einmal als weitaus wichtiger.

      Zumal der Mann unter der Tür nicht der einzige war. Jonas entdeckte in regelmäßigem Abstand entlang der Säulen mindestens ein Dutzend weitere Männer in derselben Aufmachung und Haltung, und er konnte nicht behaupten, dass ihn das irgendwie begeisterte.

      Suzann folgte seinem Blick. »Das ist nur eine Vorsichtsmaßnahme«, sagte sie leichthin. »Weißt du, wie du ausgesehen hast? Du hättest nicht aufstehen dürfen und schon gar nicht im halben Palast herumlaufen.« Sie beugte sich ein Stückchen vor und flüsterte fast: »Was hast du dir dabei gedacht, so mit Ihm zu reden?«

      Jonas ignorierte ihre Frage und vor allem den Vorwurf darin. Er hätte viel darauf antworten können, aber das war es ihm nicht wert. Er wollte gar nicht allzu viel wissen, nur das, was ihn schnell wieder nach Hause brachte.

      Er schob ein Bein aus dem Bett und rutschte herum an die Kante. Erst jetzt fiel ihm auf, dass da gar kein Verband mehr war, und er hatte auch keine Schmerzen, lediglich ein schwaches Ziehen im Bereich der Wunde, die –

      Jonas hob die Decke von sich weg und blickte auf seinen Bauch hinab. Da war auch kein Pflaster mehr oder nur Fäden. Ungläubig starrte er die frische, saubere und durchaus schöne Narbe an, die vielleicht so lang war wie sein Daumen und ganz und gar nicht so aussah, als wäre sie erst einen oder auch zwei Tage alt, geschweige denn sich so anfühlte.

      »Wie viel Zeit ist vergangen?«, wollte er beinahe fassungslos wissen und betastete ebenso zaghaft wie vorsichtig die unmittelbare Umgebung der Narbe. Suzann hatte nicht nur die Wundheilung beaufsichtigt, sondern auch darüber hinaus jeden Tropfen Jod von seiner Haut gewaschen, was sie zweifellos tiefer als nur bis zur Gürtellinie geführt hatte. Das gefiel ihm nicht gerade, aber es spielte im Moment wirklich keine Rolle. Prüfend berührte er sein Gesicht und stellte fest, dass die Schwellungen verschwunden waren und es kaum noch wehtat.

      Er ließ die Decke wieder sinken, hielt sie unnötig fest und starrte nun Suzann an. Das konnte doch nicht sein, das war unmöglich! Er wusste, dass er lange geschlafen hatte, aber das –

      Suzann nahm die Schüssel herunter und seufzte leicht. »Eine Woche«, sagte sie.

      »Was?«, entfuhr es Jonas. »Aber das … Wie kann das …« Er machte eine hilflose Geste und ließ die Hand dann schwer aufs Bett fallen. Ergeben und eine Erklärung verlangend zugleich sah er sie an.

      Eine Woche? Es war bereits eine Woche vergangen?

      »Die hätten zwar zweifellos verhindert, dass du wieder herumwanderst«, meinte sie mit nicht nachvollziehbarer Fröhlichkeit und deutete auf den Wachmann unter der Tür. »Aber meine Methode sticht sie komplett aus, zumal Schlaf immer noch die beste Medizin ist. Und wie man sieht, hat es hervorragend gewirkt.« Sie griff nach der Decke und wollte sie wegziehen, linste ungeniert vor.

      »Du hast mich die ganze Zeit betäubt?« Aufgebracht riss Jonas die Decke zurück und funkelte Suzann drohend an, aber die zeigte sich davon überhaupt nicht beeindruckt, sondern schien sich eher darüber zu amüsieren.

      »Du brauchst mir nicht zu danken«, antwortete sie und lehnte sich zurück. »Die meiste Arbeit hast du selbst gemacht. Ich hätte nicht gedacht, dass es so schnell heilt.«

      Jonas schob mürrisch den Unterkiefer vor und verbiss sich jeglichen Kommentar – den er gehabt hätte, würde Suzanns Fopperei ihn nicht so ärgern und er das Ganze hier verstehen. Selbst wenn ihre Kräuterpaste Inhaltsstoffe besaß, die die Selbstheilungskräfte seines Körpers gehörig ankurbelten, eine Woche reichte nicht aus, eine solche Verletzung zu einem gefühlten Kratzer werden zu lassen. Die Wunde an seinem Handgelenk hatte die doppelte Zeit benötigt, um vollständig zuzuwachsen, und er spürte sie dennoch bei fast jeder Bewegung des Gelenks; außerdem bezweifelte er doch stark, dass der Messerschnitt so tief gedrungen war wie die Pistolenkugel.

      Aber na ja, vielleicht besaß Suzanns Hexenküche tatsächlich magische Eigenschaften, immerhin residierte Gott in einem verlassenen Palast, mit dem Lebensstandard des Mittelalters und zudem nicht im Himmel, sondern in Eden.

      Jonas schüttelte nur innerlich den Kopf und fragte sich einen Moment ernsthaft, ob er nicht doch lieber schizophren sein wollte, als dass das alles tatsächlich wahr war.

      »Hier, iss.« Suzann hielt ihm erneut die Schale hin und sah ihn auffordernd an. »Du