S. Mayer

Endzeit


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Durchlass zum Gang sich nun direkt vor seiner Nase befand, schien nicht zu den leeren Durchgangsbereichen zu zählen, sondern – vermutlich ebenfalls nur mit dem Nötigsten – ausgestattet und benutzt zu sein. Er hörte Geräusche, die vermutlich von Suzann herrührten, wie sie ihr Tablett entlud, und spürte die Anwesenheit einer weiteren Person wie die Berührung einer Hand.

      Es war ein eigenartiges Gefühl, das er, selbst wenn es nicht von den Schmerzen und der allmählichen Frustration übertönt worden wäre, gar nicht weiter ergründen wollte. In dem Raum befand sich eine Präsenz, die – das konnte er mittlerweile aus Erfahrung sagen – zweifellos keinem Menschen gehörte, aber ebenso eindeutig anders war als Laoris Aura oder die von Michael und Raphael. Sie erinnerte ihn irgendwie an J, gleichzeitig unterschied sie sich gewaltig davon, war im Vergleich zu ihm… massig und… geballt. Sie alarmierte etwas in Jonas, das er nicht greifen konnte, etwas, das –

      »Wie steht es um unseren Gast?«

      Mit einem irritierten Stirnrunzeln horchte er auf. Er kannte diese Stimme, wusste aber nicht, woher.

      »Gut, Herr«, antwortete Suzann, klang nicht im Ansatz eigen, sondern vielmehr förmlich korrekt und fast schon unterwürfig. »Natürlich ist die Umstellung nicht leicht.« Sie machte eine kleine Pause, schien etwas einzuschenken. »Wegen der Verletzung mache ich mir keine Sorgen, er ist zäh. Es sollte nicht lange dauern, bis er sie überwunden hat.«

      »Hm.«

      Jonas schob sich ein winziges Stück vor und lugte vorsichtig um den Mauerrand. Wer war der Mann? Er konnte seine Stimme beim besten Willen nicht einordnen, aber etwas sagte ihm, dass es wichtig war, dass er sich erinnerte.

      Er konnte jedoch nur Suzann sehen, die vor einem niedrigen Tisch stand und einen Krug in der Hand hielt. Sie wandte ihm halb den Rücken zu, und der andere musste sich vor ihr, außerhalb von Jonas’ begrenztem Blickfeld, befinden.

      »Ihr … scheint nicht besonders gerührt zu sein«, meinte Suzann ein wenig vorsichtig. Ihre Haltung wirkte zwar nicht steif, aber doch angespannt, und verriet Jonas, dass sie ihrem Gegenüber eine gehörige Portion Respekt entgegenbrachte.

      Von der Art der Anrede ganz zu schweigen, und was sollte dieses Herr? Sollte der Mann dort drinnen etwa –

      »Er ist nur ein Mensch, und mir wäre lieber, er würde es bleiben.«

      Suzann neigte den Kopf. »Wie meint Ihr das?«, fragte sie neugierig und sprach damit geradewegs auch für Jonas.

      »Darüber brauchst du dir nicht den Kopf zu zerbrech-en«, wehrte der andere ab. Er klang bestimmt, fast schon verärgert, und Suzann senkte das Gesicht, als hätte sie sich ungebührlich verhalten. »Sorge dafür, dass er Anschluss an den nächsten Rekruten hat, alles andere ist für dich nicht von Belang.«

      »Aber für mich.«

      Jonas machte zwei Schritte und trat unmittelbar vor die Türschwelle. Es gelang ihm, sicher auf seinen Beinen zu stehen, und sich nicht von den Schmerzen vereinnahmen zu lassen. Im Gegenteil war sein Verstand unerwartet klar, und auch seine Stimme fest und bestimmt, kühl. Er hatte nicht vor, sich abspeisen zu lassen – vor wem auch immer Suzann da kuschte.

      Die Halle schien eine Art Wohnzimmer darzustellen und war im Vergleich zu den anderen bewohnten Räumen sehr üppig hergerichtet. Fast überall hingen gemusterte Wandteppiche oder feine Stoffe in gemischten, kräftigen Farben, alle paar Meter daran entlang standen die schlanken, hohen Feuerkörbe, und ein gutes Dutzend Palmen, Farne und weitere Grünpflanzen in kleineren Gefäßen waren nach einem nicht erkennbaren Muster verteilt.

      In der ungefähren Mitte stand ein niedriger, recht großflächiger Tisch mit freizügig geschwungener, ovaler Form, an dem Suzann das Tablett abgestellt hatte, um wohl die Armada aus Schüsseln und Schalen darauf zu bereichern. Locker darum herum fanden sich einladende Sitzmöglichkeiten, gepolsterte Hocker, Sessel und mehrere Chaiselongues, und Jonas hatte noch nie einen so großen Teppich gesehen, wie er hier unter allen Möbeln ausgebreitet war.

      Außer Suzann und dem Mann mit der mysteriösen Stimme – und den teils ebenso geheimnisvollen Worten – gab es keine Anwesenden, was er mit einem Anflug von Missmut wahrnahm. So unlogisch und einfach naiv es sein mochte, er hatte doch während seiner Erkundung insgeheim immer wieder gehofft, hinter der nächsten Ecke und im nächsten Raum auf Laori zu stoßen, und das hatte hier irgendwie seinen Höhepunkt gefunden.

      Der Fremde saß auf der Chaiselongue direkt am Tisch, trug einen hellen, ärmellosen Mantel aus dünnem, weitem Stoff, mit goldenen Stickereien und einem auffälligen Stehkragen, über ansonsten dunkler Kleidung, hatte kraus gewelltes, ohrenlanges Haar in dunklem Braun und einen kurz geschnittenen, gepflegten Vollbart – mehr konnte Jonas nicht erkennen, bevor Suzann auf ihn zugestürmt kam und ihm die Sicht versperrte. Sie war geradezu herumgefahren und hatte ihn erschrocken angestarrt, während der andere nur gemächlich aufsah, griff ihn nun am Arm und schob ihn vehement zurück, weg von der Tür.

      »Was soll denn das, lass mich los.« Ärgerlich entwand Jonas sich ihr.

      »Was denkst du dir!«, hielt Suzann im selben Moment dagegen, stellte den Krug am Boden ab und griff erneut nach ihm. Sie wollte ihn weiter den Gang entlang drängen, aber es gelang ihr nur einen, zwei Schritte weit, denn Jonas fügte sich nicht wirklich. »Du kannst doch nicht einfach hereinplatzen und zu ihm sprechen. Du solltest nicht einmal aufstehen, sieh dich doch an! Willst du, dass ich Ärger bekomme?«

      »Aber –«, begann Jonas und blieb einfach stehen, wandte sich ihr zu.

      »Nichts aber«, herrschte Suzann ihn regelrecht an, dass er zwar automatisch abbrach und erst einmal nur ihren bohrenden Blick angepisst erwiderte, allerdings direkt eine entsprechende Zurechtweisung auf der Zunge hatte. Er war hier vielleicht fremd und Gast, aber das gab ihr noch lange nicht das Recht, ihn so anzufahren, zumal er keine Ahnung hatte, was er denn falsch gemacht haben sollte.

      Er setzte bereits zu der mehr als unfreundlichen Erwiderung an, die wahrscheinlich dazu führte, dass sie sich wild zankten – immerhin kannte er Suzann nicht und wusste daher nicht um die richtigen Ansatzpunkte; außerdem war sie ein Mädchen, da konnte er nicht dieselben Kaliber auffahren –, kam aber nicht einmal im Ansatz dazu, sie auszusprechen.

      »Es ist schon gut, Suzann«, klang es bestimmt aus dem Raum heraus zu ihnen. »Bring ihn wieder herein.«

      Suzann zögerte, schürzte dann unverkennbar widerwillig die Lippen und griff Jonas am anderen Arm, um ihn mit sich zurück zu ziehen.

      »Na dann«, murmelte sie und stieß die Luft aus, wie um sich selbst Mut zu machen.

      Jonas hatte Mühe, mit ihren schnellen Schritten mitzuhalten, verbarg die größer werdende Schwäche in seinen Gliedern jedoch so gut er konnte, und versuchte auch, die Müdigkeit, die sich in seinem Kopf zu formen begann, zu ignorieren. Mit jeder Sekunde mehr auf den Beinen wuchs das Verlangen, sich hinzulegen, dennoch fiel es ihm relativ leicht, sich auf den Fremden zu konzentrieren.

      Der saß unverändert auf der Chaiselongue und besah sich ebenso wählerisch wie unzufrieden die Auswahl auf dem Tisch. Er sah erst auf, als Suzann und Jonas bei dem Hocker ihm gegenüber ankamen und in zwar kleiner, aber auffälliger Distanz dazu stehen blieben.

      Jonas war sich sicher, hätten sie sich allein im Raum befunden, Suzann hätte ihn sofort darauf bugsiert, stattdessen hielt sie seinen Arm ein wenig zu fest, und das nicht, um ihn zu lenken. Sie sah den Mann nicht an, sondern hielt den Blick gesenkt, und machte auf Jonas ganz den Eindruck, als fürchte sie eine ordentliche Schelte.

      Er dagegen war nicht sonderlich beeindruckt, eher misstrauisch und nichtsdestotrotz vorsichtig. Die Aura des Mannes war wirklich … Er hätte nicht gesagt, dass er sich von ihr erschlagen fühlte, oder sie ihn mit Faszination gefangen nahm, obwohl sie mit nichts zu vergleichen war, das jemals jemand ausgestrahlt hatte, dem er begegnet war.

      Es war mehr als Größe und Macht, es war mehr als Überlegenheit und Stärke, es war … Egal, was genau es war, dieser Mann war kein Mensch und auch kein Engel, sondern ein Wesen, das noch viel, viel höher war.

      Jonas verstand Suzanns Unterwürfigkeit,