Monica Armstrong

Stille Tage in Paris


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glaubst du, so ein 23-jähriges Mädchen allein in Paris, da können Eltern nicht vorsichtig genug sein“, bemerkt Dad unüberhörbar.

      „In ihrem Alter schläft man viel mit Männern“, beruhigt Mom Dad, der dieses Argument für wenig beruhigend hält, aber Mom hat jetzt die Diskussion fest im Griff und sagt mir definitiv, was ich in Paris zu tun und vor allem zu LASSEN habe.

      Endlich geht Mom und Dad die Luft aus. Gutenachtbussis werden über den großen Teich an mich übermittelt, dann höre ich endlich das Freizeichen. Es ist 9 Uhr morgens in Paris, das wäre Mitternacht in LA, eine gute Zeit, um gemütlich zu masturbieren, ein geeigneter Mann für Frühstückssex ist bekanntlich keiner da. Ich masturbiere genüsslich und wasche mich. Ich werfe einen Blick auf die menschenleere Rue Jenner, es regnet. Typisches Pariser Wetter im November. Ich denke an den Film Ein Mann und eine Frau, in dem es sehr viel regnet, besonders dann, wenn sich Anouk Aimée und Jean-Louis Trintignant in Paris treffen.

      Mittelmäßig selbstbefriedigt verkleide ich mich in ein US-Girl, also in eine, die weiße Turnschuhe, Jeans und Sweater trägt.

      Ich eile hinaus auf die Gasse und suche eine Bäckerei, vorerst um mich mit frischem Gebäck einzudecken. Spontan frühstücke ich lieber in einem Bistro, ich trinke Milchkaffee und lese die Libération – wieso sollte ein US-Girl nicht eine linke Zeitung lesen, die immerhin Jean-Paul Sartre mitbegründet hat?

       Allerdings bleibe ich sehr schnell im Kulturteil hängen, und zum Schluss greife ich zu den Cahiers du Cinéma, die ein filmverrücktes Mädchen in Paris einfach lesen muss, da zählt keine Ausrede!

      Zwischendurch beobachte ich die Männer an der Theke, es sind ausschließlich Männer – Männer, die eine lange Nacht hinter sich haben und hier frühstücken, die meisten trinken nur einen Kaffee, manche gönnen sich zusätzlich einen Toast.

      Wer sind diese Leute? Ich kenne niemanden.

      Die meisten sehen aus wie aus einem alten französischen Film. Vielleicht wie aus einem Film der Nouvelle Vague?

      Einer kommt herein, den ich sofort erkenne. Es ist der Mitvierziger, den ich schon gestern an der Seine gesehen habe. Was der wohl macht?

      Ist er Schauspieler? Ist er Schriftsteller? Treibt er sich nur zufällig in der Nähe der Filmstudios in der Rue Jenner herum, die mein Vater vor einiger Zeit gekauft hat? Oder wohnt er hier in der Nähe?

      Ich trinke meinen Kaffee aus und verlasse das Bistro, um im Regen zurück zum Studio zu gehen.

      Ich wage mich umzusehen. Er folgt mir. Folgt er mir wirklich? Er scheint ziellos die Straße entlangzugehen, eine Straße, die ihm, im Gegensatz zu mir, vertraut ist. Wie alt er wohl ist? Er ist sicher doppelt so alt wie ich. Er könnte mein Vater sein.

      Ich erreiche die Filmstudios und eile ins Haus. Ich schließe sofort ab und eile in den ersten Stock hinauf.

      Von oben beobachte ich den Mann auf der Straße. Halblanger Mantel, typisch französischer Hut. Ist es wirklich ein französischer Hut oder ist es einer, der dem amerikanischen Stetson nachgeahmt ist – wie heißen die französischen Hüte?

      Ist es ein Borsalino? Oder ist es ein Doulos?

      Fragt mich nicht, was der Unterschied zwischen den beiden Hüten ist. Ich chatte meinen Großvater väterlicherseits in Kärnten an, der dort als „der Verrückte“ bekannt ist, ich habe niemanden bisher kennengelernt, der ihm in Sachen Kino das Wasser reichen kann. Wenn einer eine Antwort auf die Frage weiß, wie die französischen Hüte heißen, dann ist es der Verrückte.

      Ich behalte den Mann im Regen auf der Rue Jenner weiter im Visier, der vor den Studios auf und ab geht, als hätte er den Auftrag, dieses Gebäude im Auge zu behalten, in dem Le samouraï gedreht worden ist.

      Die Antwort des Verrückten kommt postwendend. „Beides sind europäische Hüte. Der ältere wird „Le Doulos“ genannt und wird bevorzugt von der französischen Kriminalpolizei, den Flics, aber auch von den Gangstern getragen – Achtung: In der französischen Gaunersprache wird der Spitzel auch „Doulos“ genannt, nach einem Film von Jean-Pierre Melville, der 1962 in den Jenner Filmstudios gedreht worden ist, die jetzt deinem Vater gehören.

      Der Borsalino ist eigentlich das Markenzeichen einer italienischen Hutfirma; ihre Hüte waren in Europa und in den USA weitverbreitet, die bekanntesten Träger waren Al Capone, Alain Delon, Robert Redford und Marlon Brando. Der Hut wird in amerikanischen und europäischen Gangsterfilmen getragen.

      Ich schicke ein digitales Küsschen aus Paris nach Kärnten und beobachte weiter den Mann auf der Straße; meiner Meinung nach ist er ein Doulos, ein Spitzel.

      Fragt sich nur, wer ihn geschickt hat. Außer mir ist niemand in den Studios. Ob der Kerl auf der Straße weiß, dass Duane nach London abgereist ist? Es wäre ein Zufall.

       Ob ich den Doulos ansprechen soll? Was soll ich ihm sagen? „Hi, Spitzel, wer schickt dich?“

      Und was ist, wenn er antwortet: „Der Boss schickt mich, ich soll dich fesseln und knebeln und zu ihm schleifen. Vorwärts! Marsch!“

      Was mache ich dann? Habe ich in so einer Situation noch Zeit, meine Eltern in LA oder den Verrückten in Kärnten anzurufen? Eher nicht, würde ich sagen.

      Vielleicht bleibe ich heute einfach im Haus und sehe mich in den Studios um, damit ich gewappnet bin, wenn hier gedreht werden soll.

      Noch habe ich keinen Plan. Ich weiß nur, wann das Team aus New York City hier ankommen wird, ich hoffe, sie teilen mir rechtzeitig mit, was sie drehen möchten. Duane hat mir eine Excel-Datei mit Leuten und Kontaktdaten aus der Filmbranche hier in Paris hinterlassen, die ich anrufen kann, wenn ich Hilfe brauche, und die immer wieder für West-Film arbeiten.

      „Die meisten Filmleute hier tun für Geld alles, die würden sogar einen Auftragsmord erledigen“, hat Duane mich gewarnt.

      Würden sie auch einen Spitzel umlegen?

      Ich wage noch einen Blick auf die Straße, der Spitzel ist weg. Ich sehe nach rechts und links. Der Mann mit dem Mantel und Hut ist verschwunden.

      Ich gehe in den zweiten Stock hinauf ins Archiv, dorthin, wo die Drehbücher, die Standfotos und Null-Kopien legendärer Filme gelagert sind.

      Einen Moment spiele ich mit der Versuchung, meinen Großvater väterlicherseits in Kärnten mit Fangfragen nach den Hintergründen des geheimnisvollen Filmstudios in der Rue Jenner zu löchern, das einen guten Ruf in Paris hat.

       Ich öffne eine Kiste mit der Jahreszahl 1967 und entnehme ihr ein vergilbtes Drehbuch mit dem Titel Le samouraï, ich schlage es auf und sehe die ruhige Totale vor mir: Ein Kanarienvogel in einem Käfig und ein Mann auf einem Bett, der raucht. Es ist die erste Einstellung eines weltbekannten Films, eines Gangsterfilms von Jean-Pierre Melville mit Alain Delon, der den eiskalten Engel verkörpert, der in dem Film natürlich einen Doulos und einen grauen Mantel trägt.

      Ich riskiere wieder einen Blick auf die Rue Jenner, der Unbekannte ist weg. Ich sehe die Straße hinauf und hinunter, aber er ist nicht mehr zu sehen. Ich ziehe mich in das Archiv zurück und finde einige alte amerikanische Revolver.

      War Melville nicht als „der Amerikaner in Paris“ bekannt? Wenn es wirklich so war, wäre es auch logisch, dass er in seinen Filmen bevorzugt 38er-Revolver eingesetzt hat.

      Ich überlege mir, eine Waffe zu nehmen, und probiere mehrere Schießeisen aus, entscheide mich aber für eine 22er-Stupsnase, samt unauffälligem Holster, beides kann ich leicht unter dem weiten Pullover und der weiten Jeans verstecken.

      Ob es hier in Paris viele Kontrollen gibt?

      Sicher. Die Medien berichten ständig über Anschläge islamistischer Gruppen in Frankreich. Es wird wohl besser sein, unbewaffnet durch die Stadt zu gehen, um nicht in eine scharfe Kontrolle zu geraten. Ansonsten folgt eine unerwünschte Festnahme und natürlich die unvermeidliche Abschiebung als eine in Frankreich unerwünschte Person.

      Jean-Pierre Melville und sein wichtigster Konkurrent Henri Verneuil hätten nie mit solchen Problemen für