H.L. Thomas

Schattenkriege


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er Jane für Javiers Freundin hielt. Er war ein freundlicher älterer Herr mit puscheligen Ohren und einem geringelten buschigen Eichhörnchenschwanz, der hinten aus seiner Hose ragte. Jane schaute in ihr Glas und wieder zum Wirt. Der war allerdings bereits um die Ecke verschwunden. Aber der Barmann und die Kellnerin, die den Nachbartisch bediente, die waren da. Freundliche Hasenmäuse, die eifrig hin und her liefen. Hui, vielleicht hätte sie es doch besser bei einem Glas belassen sollen. Es gab keine eichhörnchenschwänzigen Kaninchen, die Lokale führten, auch nicht in Chile. Sie kicherte.

      Javier betrachtete sie. Ein paar Haarsträhnen hatten sich aus ihrem Pferdeschwanz gelöst. Ihre Wangen waren ein wenig gerötet. Sie war wunderschön, wie sie lachte. Morgen würden sie sich mit vielen unerfreulichen Dingen beschäftigen, aber erst morgen. Der heutige Tag war schön, einer der besten seit Langem. Weil sie hier war, eine schöne Frau, die lachte. Er stand auf, ging zu Jukebox und warf ein paar Münzen ein. Sancho lächelte, während er eine neue Flasche entkorkte. Er hatte Javier schon lange nicht mehr mit so guter Laune gesehen, aber kein Wunder, wer konnte in all dem Elend Freude empfinden. Heute war es anders. Es musste an ihr liegen, dieser schönen Americana mit der seltsamen Magie.

      „Möchtest du tanzen?“ Javier hielt Jane die Hand hin.

      Jane hörte die sehnsuchtsvolle, rhythmische Musik. Sie sah Javier etwas verlegen an. „Ja schon, aber das ist ein Tango, nicht wahr?“ Er nickte. „Ich habe noch nie Tango getanzt!“

      „Das macht nichts. Ich zeige es dir.“

      Tango ist kein Tanz. Tango ist Leid, Trauer, Wut, Zorn, Leidenschaft. Javier beherrschte alle Register. Er führte elegant, kraftvoll, bestimmend. Vermutlich hätte er auch mit einem Besenstiel oder einer Straßenlaterne tanzen können und sie hätten dabei gut ausgesehen. Jane überließ sich einfach dem Rhythmus der Musik, folgte seinen Bewegungen. „Der Tango ist der vertikale Ausdruck eines horizontalen Verlangens.“ Jane konnte sich nicht erinnern, von wem dieser Ausspruch kam, aber wer immer es war, er hatte verdammt recht! Es war wie ein Rausch. Sie nahm ihre Umwelt wieder wahr, als ein Dutzend puscheliger Kaninchenmäuse begeistert applaudierte und Javier sie zum Tisch zurückbrachte.

      „Ich denke, es wird jetzt Zeit, dass du dein Zimmer bekommst. Sanchos Frau hat es schon vorbereitet. Hoffentlich gefällt es dir.“

      Er stieg vor ihr eine schmale Holztreppe hinauf, steckte den überdimensionalen altmodischen Schlüssel in das Schloss und öffnete die Tür. Das Zimmer zu betreten, war wie eine Zeitreise. Welches Jahr? 1905, 1920? Dunkle opulente Möbel, verblichene, vormals edle cremefarbene Vorhänge. Ein großes Eisenbett mit Verzierungen. Auf einem kleinen Tischchen standen Flakons aus buntem Glas. Der Spiegel war an einigen Stellen blind, aber herrlich verschnörkelt. Jane ging zum Fenster. Eine bodentiefe Doppeltür öffnete sich zu einem kleinen Balkon. Beinahe automatisch öffnete sie diese und trat hinaus. Es war jetzt etwas wärmer, der Wind hatte gedreht und die Luft war deutlich klarer als vorhin.

      „Gefällt es dir? Du hast vielleicht etwas anderes erwartet. Es ist ein wenig altmodisch hier …“

      „Nein, es ist traumhaft.“

      „Gut. Ich sollte dann gehen. Morgen früh hole ich dich ab und wir frühstücken im ‚Deutschen Haus‘.“

      Jane lehnte gegen den Türrahmen. Eigentlich wollte sie nicht, dass er ging. Javier war ein äußerst attraktiver Mann. Ihr gefiel seine Art, sich zu bewegen, zu tanzen. Er würde leidenschaftlich sein und nichts anderes wünschte sie sich jetzt. Sie hatte mehr getrunken als für einen klaren Kopf gut war. Umso leichter ließ sich die mahnende Stimme darin ausschalten.

      „Du musst nicht gehen …“ Ihre Stimme hatte einen dunkleren Ton angenommen.

      Javier sah sie an. Wie sie da stand, war eine einzige Herausforderung. Seine Kehle wurde trocken. Er wusste, wie sie tanzte. Ihm gefiel ihre Leidenschaft. Er trat zu ihr, umfasste ihre Taille und zog sie an sich.

      „Du bist schön, wirklich schön.“ Seine Stimme klang rau.

      Sie spürte, wie seine Hände über ihren Körper glitten. Ihre Haut erschauerte unter seiner Berührung. Ihr Kopf sagte ihr, dass es ganz und gar unprofessionell war, was sie da tat. Ihr Körper war eindeutig anderer Meinung. Sie wollte ihn, jetzt, auf der Stelle.

      Der rote Hof

      „Gringa, ich hätte dich töten sollen, als du deinen widerwärtigen weißen Fuß auf unser heiliges Land gesetzt hast!“ Die rabenschwarzen Augen der Frau sprühten vor Hass.

      „Ja, da magst du wohl recht haben, liebe Itza.“ Mara schlug provozierend langsam das eine Bein über das andere, während sie ihr Gegenüber anlächelte. „Aber da haben wohl deine göttlichen Kräfte versagt.“ Ihre Stimme troff vor Sarkasmus. „Als die hochedle Göttin, für die die Leute dich gehalten haben, hättest du wissen sollen, dass Pferde keine göttlichen Wesen sind, sondern dumme Tiere, die spanische Soldaten durch das Land trugen. Als Göttin mit allmächtigen Kräften wäre es deine Aufgabe gewesen, die Gefahr zu erkennen, die von ihnen drohte. Du hättest sie vernichten können, zertreten wie räudige Hunde und ins Meer zurückwerfen. Aber das hast du nicht getan. Du bist nämlich keine kluge und edle Göttin, sondern nur eine dumme Todesfee.“

      Itzapapalotl spürte, wie übermächtige Wut in ihr hochstieg. Schwarze, gläserne Krallen wuchsen aus ihren Händen. Gleich würde sie diese Vampirin packen, sie schütteln, zu Boden zwingen und ihr das herausreißen, was vor langer Zeit einmal ein Herz gewesen war. Sie hätte das schon vor Jahrhunderten tun sollen!

      „NEIN.“

      Itza vernahm die Stimme mehr in ihrem Kopf als in ihren Ohren. Warum hielt die weise Schlange sie zurück? Mit aller Kraft gelang es ihr, sich zu beherrschen.

      „Ich dulde nicht, dass sich die Mitglieder dieses Hofes gegenseitig bekriegen. Wir haben weitaus größere Probleme. Mara hat um den Schutz dieses Hofes gebeten. Sie hat ihn erhalten und ist genauso ein Teil davon wie du, Obsidian-Schmetterling. Und ich muss ihr recht geben. Es war deine Aufgabe, über unser Volk zu wachen und Schaden von ihm fernzuhalten. Du hast damals versagt und wie es scheint, bist du dabei, es wieder zu tun. Vielleicht ist es deine Natur, dein ungestümes Wesen, das dich zu überstürzten Handlungen hinreißen lässt.“

      „Es war nicht klug?“ Itzas Stimme wurde schrill. „Erneut fallen Gringos in unser Land ein. Dieses Mal nicht mit Schiffen und mit Pferden, mit Christenpriestern und Schwertern, mit Goldgier und mit Seuchen. Nein, heute kommen sie mit Coca-Cola und Koffern voller Geld. Sie rauben wieder die Schätze unseres Landes und geben uns wertloses Papier anstelle von Glasperlen. Sie besudeln es mit ihrer primitiven Art zu denken. Sie zerstören, was immer ihnen in die Hände kommt. Es reicht ihnen nicht, die Menschen zu versklaven, jetzt wenden sie sich gezielt gegen uns. Sie erkennen uns. Sie brachten ihre eigenen Geschöpfe mit. Ihre Oger töten unsere Feen. Ihre verdrehten halbmagischen Wesen vermögen, selbst die Stärksten unter uns anzugreifen. Sie töten uns! Hast du diejenigen gesehen, die ihre Opfer wurden, ehrwürdige Schlange?“

      Ein Klagelaut klang aus den Tiefen des Raumes.

      „Und statt herauszufinden, was das für Leute sind, wer sie schickt, wo ihre Schwachstellen liegen, kommt die schlaue Itza auf die Idee und bringt einen unbedeutenden Menschen um. Glaubst du nicht, sie werden einen anderen schicken, der ihre Spezialeinheiten befehligt?“ Maras Stimme wurde leise. „Diese Leute sind K-Programme, Itza! Weißt du überhaupt, was das ist? Die Amerikaner haben es geschafft, Wesen zu erschaffen, die uns besiegen können! Es ist vollkommen schwachsinnig, einen Krieg heraufzubeschwören. Eine offene Schlacht werden wir verlieren, genauso wie ihr vor fünfhundert Jahren verloren habt! Ach ja, du kennst ja K-Programme. Ist dir nicht vor nicht allzu langer Zeit eins entwischt? Hast du nicht getönt, du wolltest ihr Herz rausreißen?“ Mara machte eine Kunstpause und legte fragend den Zeigefinger an die Lippen. „Ach nein. Unsere schlaue Itza hat es nicht geschafft. Ein einzelnes kleines K-Programm und unsere großartige Itza war überfordert! Was haben wir gelacht …“

      Itza keuchte auf vor