H.L. Thomas

Schattenkriege


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da unten mindestens ein Dutzend Leute massakriert. Nicht dass es mir leidtut, jeder von denen hatte das hundertfach verdient. Aber zwei Minuten später stand sie vor mir, wusste von nichts und heulte sich an meiner Schulter die Augen aus. Das ist gruselig.“ Cave beugte sich vor und senkte die Stimme. „Wenn du jemals irgendwem steckst, was ich dir jetzt sage, reiß ich dir das Herz raus: Ich mag das Mädchen, als sei sie meine kleine Schwester, aber gleichzeitig macht sie mir eine Scheiß-Angst.“

      Hinter Tanks Stirn sprangen die Gedanken hin und her. Er war sich sicher gewesen, Jane zu kennen. Aber kannte er sie wirklich? Wer war sie? Was war sie? Was war mit ihr nach dem Autounfall ihrer Eltern passiert?

      Seine Fragen schienen überdeutlich in seinen Augen zu stehen, denn Cave sah ihn nachdenklich an.

      „Ich weiß es nicht, Mann. Mehr kann ich dir nicht sagen. Gib auf sie acht. Sie kann einen Freund gebrauchen.“

      Washington D.C.

      Ein Jahr später

      Jane rührte das Milchpulver in ihrer Kaffeetasse um und schaute versonnen nach draußen. Es schneite leicht. Wo war nur das letzte Jahr geblieben?

      Seit der furchtbaren Geschichte in Seattle waren die Monate nur so verflogen. Tank hatte sich rar gemacht, aber so hatte sie es ja gewollt. Womit er die letzten Monate verbracht hatte, wusste Jane nicht so genau. Viel Zeit war vermutlich für seine Jobsuche draufgegangen. Es war nicht leicht für einen Veteranen, Arbeit zu bekommen, auch nicht in Nebraska. Dort gab es so gut wie nichts, außer endlosen Flächen, die abwechselnd mit Getreide oder Gras bewachsen waren. Allerdings, was war überhaupt ein guter Job für Tank? Jane konnte ihn sich hervorragend als Detektiv vorstellen, aber da würde er in diesem Landstrich vermutlich verhungern. Eine Arbeit auf dem Bau? Schon eher. Burgerbrater, Verkäufer oder Versicherungsvertreter? Auf keinen Fall. Bei den wenigen Telefonaten sprachen sie nicht viel darüber, aber sie merkte schon, dass es an ihm nagte. Beim letzten Mal hatte er vor, als Autoverkäufer anzufangen. Tank besaß eine Menge Qualitäten. Er schoss wie ein Gott, war ein toller Ermittler, mutig, waghalsig und konnte auch seine Fäuste benutzen. Er könnte Trucker, Türsteher oder ihretwegen Holzfäller werden. Scheiße, sie vergaß, dass es in Nebraska ja keine Bäume gab. Wollte er wirklich in einem schlecht sitzenden Anzug arglosen Menschen überteuerte Autos aufschwatzen? Sie wusste, dass er das keine zwei Stunden ertragen könnte.

      Sie war ehrlich erleichtert gewesen, als sie erfuhr, dass er bei den US-Marshals anfangen konnte. Den Job hatte er durch einen alten Freund bekommen, den er aus Vietnam kannte.

      „Baby, hast du nicht Lust, einfach mal herzukommen? Jim würde sich freuen und …“

      Sie wusste, was er als Nächstes sagen würde. Ja, sie vermisste ihn auch. Sehr sogar. Sie konnte sich kaum noch vorstellen, einen Menschen zu haben, dem man wirklich etwas bedeutete. Die Welt, in der sie lebte, war kalt, nicht nur, weil es Winter war.

      Dunkle Ringe lagen unter ihren Augen. Die letzten Monate hatten sie mehr geschlaucht, als sie zugeben wollte. Das Leben als Freelancer war ein ständiger Kampf ums Überleben. Dauernd auf der Jagd nach einer guten Story, um die besten Bilder. Sie musste schneller sein als andere. Es gab viele Journalisten und noch mehr Fotografen, auf jeden Fall mehr als gute Stories.

      Aber was waren gute Stories, gute Bilder? Gewaltexzesse bei Demonstrationen? Opfer von Schießereien, die verdreht auf dem Pflaster lagen? Wohltätigkeitsevents irgendwelcher Politikergattinnen? Schauspieler in flagranti bei einem Seitensprung – oder, noch besser, beim Drogenkonsum?

      Jane hasste diese Art von Berichterstattung. Das war nicht ihre Welt. Anderer Leute Privatleben durchschnüffeln? Lobhudeleien und falsche Freundlichkeit auf Partys? Es machte ihr weiß Gott keinen Spaß, aber sie musste leben. Der nächste Scheck für die Miete wurde fällig, sie brauchte Geld für Benzin, Strom, Essen und tausend andere Dinge.

      Das Schlimme war, dass ihr das alles sinnlos erschien. Ihre Arbeit war ein Dreck im Vergleich zu dem, was sie in Vietnam gemacht hatte. Vietnam, das schien eine Ewigkeit her zu sein. Für die meisten war es ein Albtraum, den sie möglichst vergessen wollten, aber sie sehnte sich zurück. Hier riss sie sich den Arsch auf, schlug sich die Tage und Nächte um die Ohren. Und was brachte es? Bullshit-Fotos!

      Die Ephedrintabletten halfen kaum noch. Sie hatte den Tipp ausprobiert, die Dinger mit hochkonzentrierten Vitaminpillen zu kombinieren. Nun ja, Vitamine konnten ja wohl nicht schaden und es war auf jeden Fall gesünder, als sich Kokain durch die Nase zu ziehen, was etliche Leute machten, die sie kannte. Gesünder …

      Sie schüttelte den Kopf und lachte bitter. Gesund war gar nichts, was sie im Moment tat. Schlafen fiel oft genug aus. Es gab Wachmacher und die nahm sie. Essen? Mal einen Donut oder einen Hot Dog zwischendurch. Den meist miserablen Kaffee trank sie im Vorbeigehen. Sie lernte, Hunger zu ignorieren. Diätpillen waren eine gute Möglichkeit, das bohrende Gefühl in der Magengegend zu bekämpfen und trotzdem fit zu bleiben. Nicht, dass sie eine Diät nötig gehabt hätte, im Gegenteil. Außerdem litt sie unter Halluzinationen.

      Oder wie sollte man es sonst nennen, wenn der grünhäutige Freund von Senator XY sich am Büffet das Essen in ein feistes, hauerbewehrtes Maul stopfte? Oder die in Lumpen gekleideten Waschbären, die in den Mülltonnen nach Essbarem wühlten und sie ansprachen, um ein paar Dollar zur erbetteln. Warum ließ ein kränklich aussehender Officer nach einem spektakulären Einbruch in eine Blutbank mehrere Beutel mit offensichtlich roter Flüssigkeit im Kofferraum seines Wagens verschwinden? Sie hätte schwören können, die Eckzähne dieses Kerls gesehen zu haben. Sie sah Dinge, die konnte es einfach nicht geben. Vielleicht sollte sie doch mal langsam mit diesen Scheiß-Pillen aufhören.

      Als Tank ihr das nächste Mal vorschlug, sie zu besuchen, überlegte sie nicht lange. Sie nahm den Greyhound-Bus nach Lincoln, das Geld für den Flug konnte sie sich momentan nicht leisten. Und selbst hinfahren? Sie brauchte Ruhe, vielleicht konnte sie auf der Fahrt einfach mal ausschlafen. Es dauerte nicht lange, bis sie ihre Entscheidung bereute. Klar, in D.C. war es im Winter auch kalt, aber hier in den Plains war es einfach barbarisch. Sie war derart durchgefroren, dass sie vermutlich nie wieder auftauen würde.

      ***

      Der Bus traf an einem klaren kalten Wintertag in Lincoln ein. Der Himmel war blassblau. Die Sonne schien hell, aber selbst ihr Licht strahlte keine Wärme aus.

      Jane sah Tank schon warten, bevor der Bus hielt. Der Stern glänzte auf der Lederjacke mit dem Pelzbesatz, er trug einen dicken Schal und einen Hut. Er hatte sich einen Schnauzbart wachsen lassen und sah aus wie frisch aus einem Westernklassiker entsprungen. Und dieser Traummann, dieser Cowboy wartete auf sie. Eine Welle des Glücks wärmte sie und zum ersten Mal seit Tagen stahl sich ein Lächeln in ihr Gesicht.

      Tank ging zielstrebig auf den Bus zu. Einige Reisende schauten sich verstohlen um. Sie fragten sich ganz offensichtlich, wer jetzt gleich verhaftet werden würde. Jane schnappte sich ihre Reisetasche. Tank packte sie um die Taille, noch bevor sie die Stufen hinuntersteigen konnte, und zog sie an sich. Sein Kuss verriet ihr eindeutig, dass er sie genauso vermisst hatte wie sie ihn.

      „Ich habe dich so vermisst, Baby.“ Seine Stimme war rau. Er hielt sie ein wenig von sich weg, um sie genauer zu betrachten. Wie blass sie aussah. Sie zitterte.

      Trotz der beißenden Kälte zog Tank seine Jacke aus und legte sie Jane um die Schultern. „Komm mit, du brauchst erst mal einen heißen Kaffee und was zu essen. Das taut dich wieder auf.“

      Jane kuschelte sich in das warme Kleidungsstück und folgte Tank zum Parkplatz. Er steuerte auf einen schwarzen 1967er Ford Torino zu, der regelrecht grimmig aussah. Der Motor grollte dumpf, als Tank anfuhr.

      „Schickes Auto, gefällt mir.“

      Tank grinste. Er war offensichtlich mächtig stolz auf den Wagen.

      „Bei dem Wetter wäre ein Truck mit Allrad sicher sinnvoller. Meine Kollegen ziehen mich ständig auf, aber ich hänge an dieser Karre.“

      Jane konnte sehr gut nachvollziehen, dass der Torino wesentlich