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Jane spürte, wie ihr Jagdfieber erwachte.

      Chile

      05. November 1973, früher Morgen in Santiago de Chile, Außentemperatur fünf Grad Celcius, im Laufe des Tages würden es etwa fünfzehn Grad werden. Bewölkt. Jane schaute aus dem Fenster, während die Maschine langsam über das Flugfeld rollte. Es war wenig los. Einige Frachtmaschinen, einige Militärflugzeuge. Na ja, wer wollte schon hierher? Sie stieg die Gangway hinunter. Unten wartete ein Kleinbus. Außer ihr waren nur zwölf weitere Reisende angekommen. Sie blickte sich um. Überall Sandsäcke, Militärfahrzeuge, Patrouillen. „Du hast Kriegserfahrung, deshalb haben wir dich ausgewählt.“ Sie hörte noch Lous Stimme. Ein Land nach einem Putsch ist irgendwie immer ein Land im Kriegszustand. Die Soldaten waren in Alarmbereitschaft, Maschinengewehre im Anschlag. Eine angespannte Stimmung lag in der Luft. Im Gebäude setzte sich die triste Atmosphäre des Flugfelds fort. Der Geruch nach Reinigungsmitteln stieg ihr in die Nase. Ein Beamter öffnete ihren Koffer und durchsuchte genüsslich ihre Unterwäsche, nachdem er eine gefühlte Ewigkeit lang ihren Pass kontrolliert hatte. Jane fürchtete schon, er würde sie auch noch einer gründlichen Leibesvisitation unterziehen, aber dann bekam sie ihren Pass zurück und konnte ihren Koffer wieder zusammenpacken. Sie ignorierte das unangenehme Gefühl, als sie durch die Schleuse ging. Es war so, als bohre sich ein widerlicher Blick von hinten zwischen ihre Schulterblätter.

      Ihr Kontaktmann sollte sie abholen. Javier Alvarez, argentinischer Journalist, der schon einige Zeit in Chile lebte. Ihr Blick fiel auf einen Mann, der die Ankommenden musterte. Er schien auf jemanden zu warten. Ob das Alvarez war? Wenn ja, hatte sie das große Los gezogen. Groß, schlank, leicht gebräunte Haut, schwarzes Haar. Er trug ein hellblaues Hemd mit offenem Kragen, Jeansjacke, weiße Baumwollhose. Offenes Gesicht mit Dreitagebart.

      „Señor Alvarez?“

      Er nickte.

      Javier Alvarez war überrascht. Die Tribune werde einen ihrer besten Fotografen schicken, hatte man ihm gesagt. Jemanden mit Erfahrung in Krisengebieten. Dass es eine Frau war, verblüffte ihn. Die Zeitung nahm ihn offenbar nicht ernst. Er hatte angedeutet, womit sie es hier zu tun bekamen. Für diesen Job brauchte man Nerven wie Drahtseile. Was also sollte er mit einer Frau? Gut, er konnte es nicht ändern. Immerhin war sie sehr schön und besaß eine Stimme wie Samt.

      „Kommen Sie, Miss Mulwray. Verlassen wir diesen ungastlichen Ort.“

      „Ich heiße Jane.“

      Er lächelte. „Javier.“

      Draußen stand ein 41er Ford Coupé, der seine guten Tage eindeutig hinter sich hatte. Javier verstaute Janes Gepäck und hielt ihr die Tür auf.

      „Im Handschuhfach liegt dein Begrüßungsgeschenk, Jane.“

      Sie schaute einen Moment irritiert, als sie das Fach öffnete. Begrüßungsgeschenk? Sie schaute auf eine 357er Magnum. Wie unauffällig. Eine 22er wäre ihr lieber gewesen.

      „Es ist gefährlich hier. Besser, du hast eine Waffe.“

      Jane schaute aus dem Fenster. Das also war Santiago de Chile. Eigentlich eine schöne Stadt. Alte spanische Kolonialgebäude in bunten Farben. Flanierstraßen, die zum Bummeln einluden. Weiträumige Piazzas mit Springbrunnen oder Statuen geschmückt. Aber es lag eine beklemmende Atmosphäre über allem. Militär und Polizei standen an jeder Ecke. Sie passierten Straßensperren, Sandsäcke. Nur wenige Menschen gingen ihren Geschäften nach. Sie beeilten sich, huschten beinahe im Schatten der Mauern. Nur nicht auffallen, nicht gesehen werden. Jane hatte Angst selten so greifbar gesehen.

      Javier war auffallend still, irgendetwas schien ihn zu stören.

      „Ist etwas nicht in Ordnung, Javier?“

      Er zögerte ein wenig zu lange mit der Antwort. „Nun ja, in Ordnung kann man hier eigentlich gar nichts nennen. Sieh dich um!“

      Jane zog eine Augenbraue hoch. „Das meine ich nicht.“

      Javier überlegte, wie er mit der Situation umgehen sollte, ohne unhöflich zu werden. Ihm fiel nichts ein. Besser, er sprach es direkt an.

      „Nun, die Lage hier ist ziemlich brisant. Du bist bestimmt eine gute Fotografin, aber – ähm – wie soll ich das sagen? Für eine Frau kann das hier verdammt gefährlich werden. Ich begreife nicht, wie sie eine Frau in so eine Situation bringen können. Ich sollte dich am besten wieder in das nächste Flugzeug setzen, das von hier wegfliegt.“

      Das war es also.

      „Danke, dass du so offen bist. Die meisten hätten um den heißen Brei herumgeredet. Ich schlage vor, dass du mich einfach als Partner und nicht als Frau betrachtest. Ich habe vier Jahre in Vietnam gearbeitet und Reportagen von der Front gemacht. Ich habe mit den Jungs im Dreck gelegen. Ich wurde in einem Lager im Norden gefangen gehalten. Jetzt sitze ich hier neben dir und das würde ich nicht, wenn ich keine Ahnung hätte, wie man überlebt. Du wolltest jemanden mit Kriegserfahrung? Hier bin ich.“ Ihre Stimme klang kälter, als sie es beabsichtigte.

      Javier war immer noch nicht glücklich darüber, mit einer Frau zu arbeiten. Gut, er hatte Jane vielleicht falsch eingeschätzt. Das war aber auch kein Wunder. Frauen, die so aussahen wie sie, arbeiteten für gewöhnlich vor der Kamera, als Model, Schauspielerin oder vielleicht Korrespondentin. Sie waren eine Verheißung für jeden Mann, er selbst machte da keine Ausnahme. Was war, wenn sie den falschen Leuten in die Hände fiel?

      Jeden Tag verschwanden Menschen: Angehörige der alten Regierung, Gewerkschafter, jeder, der einer linken Partei angehörte oder nur verdächtig war, jemanden zu kennen, der es tat. Die Festnahmen erfolgten an Universitäten, in Regierungsgebäuden, am Arbeitsplatz, in der Wohnung. Es gab keinen sicheren Ort. Tausende wurden in das Nationalstadion gesperrt. Früher war das eine Sportstätte, jetzt diente es, wie so manche Schule oder Konferenzhalle, als Internierungslager. Es waren Orte des Grauens. Willkür, Folter, Mord. Niemand half ihnen. Es gab keine Anklage, keinen Anwalt, nur Gewalt und Tod. Wohin die Leichen verschwanden, wusste niemand. Die Familien bekamen keine Nachricht. Woher er das wusste? Mit viel Bestechungsgeld und noch mehr Glück war sein Bruder entkommen und untergetaucht. Es war vollkommen klar, was geschehen würde, wenn eine Frau wie Jane diesen Tieren in die Hände fiel. Die Vorstellung war für ihn unerträglich.

      „Bitte missverstehe mich nicht, Jane. Ich respektiere deine Arbeit und ich wollte dich nicht beleidigen. Aber sollten uns Polizei oder Armee in die Finger bekommen, wäre es für mich leichter, zuzusehen, wie sie einen Mann fertigmachen, als wenn sie eine Frau vergewaltigen. Diese Leute schrecken vor nichts zurück. Es gibt keinen Funken Menschlichkeit dort.“

      Jane schaute ihn an und lächelte leicht. „Okay, ich verstehe. Dann bleibt nur eins: Wir sollten alles daran setzen, uns nicht schnappen zu lassen.“

      Javier nickte. „Guter Plan.“ Er bremste und stellte den Wagen, der erleichtert schnaufte, am Straßenrand ab.

      Jane sah sich um. Das Viertel war nicht besonders repräsentativ. Die Straße war staubig, die Häuser schmucklos. Javier wies auf ein unauffälliges dreistöckiges Gebäude.

      „Hier wohnte ein Freund von mir. Er verschwand, wie so viele. Ich habe einen Schlüssel zu seiner Wohnung. Dort sollten wir einigermaßen sicher sein.“

      Die Luft war ein wenig abgestanden, als sie die Wohnung betraten. Sie war einfach, aber gemütlich eingerichtet und ordentlich. Es schien kaum vorstellbar, dass der Bewohner vor ein paar Wochen einfach verschwunden war.

      Javier ging leise durch die Zimmer und schaute hinter Bilderrahmen und Vorhänge. Jane begriff sofort, dass er nach Wanzen suchte.

      „Scheint sauber zu sein. Ich würde dir einen Kaffee kochen, aber den riecht man durch das ganze Haus. Die Wohnung gilt als unbewohnt. Wir sollten kein Risiko eingehen.“ Javier spähte vorsichtig durch das Fenster. Es war niemand zu sehen. Er entspannte sich ein wenig. „Du hast die Auswahl zwischen lauwarmem Dosenbier oder lauwarmer Cola.“ Er grinste ein wenig schief und zeigte auf eine Palette neben dem Kühlschrank.