Nadja Losbohm

The Butterfly Tales: Imogen


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mit nur einem Flügel, der sich wegen der Schande grämte, die dies bedeutete, und tiefe Reue empfand für sein vermeintliches Versagen? Immer wieder murmelte Imogen Vorwürfe vor sich hin und schalt sich selbst für ihre Schwäche. Blake kannte derlei Gefühle sehr gut. Wie oft hatte er Bedauern empfunden für seine Entscheidungen? Wie oft hatte ihn sein Gewissen gequält aufgrund seiner verwerflichen Taten? Er konnte die Male nicht mehr zählen. Was er hingegen zählen konnte, war die Menge der Personen, die ebenso empfunden und ihn verstanden hatten: Es war genau eine gewesen, und diese saß direkt vor ihm.

      Behutsam zog Blake Imogen die Hände vom Gesicht, strich ihr einige lange braune, golden schimmernde Haarsträhnen zurück, die sich aus ihrem Zopf gelöst und ihr ein zusätzliches, willkommenes Versteck geboten hatten, und wischte ihr die Tränen von den Wangen. Eine für ihn wenig vertraute Geste, die sie beide überraschte. Noch mehr verwunderte es ihn, wie er mit einem Mal eine Verbindung zwischen sich und dem wundersamen Geschöpf spürte. Mochte es zuvor Imogens hübsches Gesicht gewesen sein, das ihn anzog, war nun etwas anderes da, was ihn gefangen nahm.

      „Du hast gesagt, wenn das Schicksal es wollte, dass wir uns begegnen“, begann er zu sagen, hielt kurz inne, als sie aufkeuchte, „dann ist das eben so. Wenn das Schicksal es wollte, dass dir dein Flügel genommen und der Schatz gestohlen wird, dann ist auch das so. Was geschehen ist, nach wessen Willen auch immer, ist geschehen. Die Vergangenheit kann man nicht ändern. Es ist unnütz über die Fehler, die in ihr liegen, nachzugrübeln und sich zu fragen, was gewesen wäre, wenn.“ Ihn selbst verwunderten seine Worte, und doch wusste er, dass sie aufrichtig gemeint waren. Er hätte sich gewünscht, dass jemand so mit ihm gesprochen hätte in seinen dunkelsten Momenten. Es hätte ihm so manches Elend erspart. So wie es Imogen in dem Augenblick anscheinend half. Ihr Schluchzen hatte aufgehört; die feuchten Spuren ihrer Tränen auf ihren Wangen begannen zu trocknen.

      „Du hast Recht. Ich muss nach vorne schauen und versuchen, Wiedergutmachung zu leisten“, sagte sie mit neuer Kraft, stand von dem Baumstumpf auf und zog Blake an seinem Ärmel mit sich.

      „Moment mal, kleiner Schmetterling“, rief Blake, packte ihr Handgelenk und stemmte sich gegen ihr Ziehen. „Du siehst aus, als würdest du einen Plan haben, wie diese Wiedergutmachung aussehen soll, und mir ist, als bestünde diese aus mehr als nur deiner Flucht vor deinen Verfolgern und unserem moralischen Beistand“, meinte er und deutete auf Arren, der gemütlich angetrottet kam und seltsamerweise erheitert wirkte. „Wieso grinst du so?“, fuhr Blake ihn an.

      Arren verschränkte die Arme vor der Brust und lehnte sich gegen einen Findling, der wie ein Tisch im Wald lag. „Ich genieße es nur, euch zuzusehen, wie ihr miteinander umgeht. Das ist wirklich sehr interessant und aufschlussreich“, antwortete er und ließ seine Blicke zwischen den beiden hin und her wandern.

      Blake ließ von Imogen ab und trat auf seinen Partner zu. „Wenn du nicht mehr beizutragen hast, dann sei lieber still! Halt!“, rief er aus, machte einen Satz in Richtung Imogen, die er aus dem Augenwinkel dabei beobachtet hatte, wie sie ihren Weg fortsetzen wollte. Er bekam sie zu greifen und wirbelte sie zu sich herum. „Du wartest gefälligst und rennst nicht einfach los, ohne zu sagen, was in deinem hübschen Kopf vor sich geht. Wohin willst du? Was willst du tun?“, verlangte er zu erfahren. Er hatte sich bereits über einen Ort Gedanken gemacht, wo Imogen wenigstens vorübergehend in Sicherheit sein würde, und sie war gerade dabei, all das über den Haufen zu werfen.

      „Ich allein kann nicht retten, was es noch zu retten gibt. Es braucht mehr von uns. Ich muss in meine Heimat zurückkehren, berichten, was geschehen ist, und um Unterstützung bitten, wenn man mir diese nach allem, was passiert ist, noch gewähren möchte. Doch anders kann ich nicht gegen die Rebellen kämpfen und den Schatz zurückbringen“, erklärte Imogen und entriss ihm ihren Arm. Sie wusste zwar nicht, wie sie all das angefangen bei dem Lüften des Schleiers, der über ihrer Welt lag, bewerkstelligen sollte, wenn ihr ihre Magie fehlte. Doch darüber würde sie sich Gedanken machen, wenn es so weit war.

      „Und wie sieht unsere Rolle dabei aus?“, fragte Blake.

      „Ihr wäret meine Leibwächter, die mich sicher dorthin bringen, wo ich hin muss. Sollten wir auf die Abtrünnigen stoßen, bin ich im Kampf gegen sie allein machtlos. Meine Magie, die in meinen Flügeln saß und die nur wirksam durch ein Paar Flügel ist, ist ebenfalls zerstört“, antwortete sie, langte über ihre Schulter und berührte wehmütig die verstümmelten, kurzen Reste auf ihrem Rücken. „Mit euch zusammen habe ich jedoch vielleicht eine Chance, wenn auch nur eine kleine, solch eine Begegnung zu überleben und an mein Ziel zu gelangen“, beendete sie ihre Erklärung.

      „Diese Waffe, von der du gesprochen hast, wo ist sie? Du musst sie gut versteckt haben, denn ich kann sie nicht sehen“, meinte Blake und beäugte Imogen von oben bis unten. Seine Blicke wanderten von ihren nackten Füßen und Beinen über den Rock ihres Kleides hinauf zu ihren schlanken, aber muskulösen Armen, bis er ihr schließlich wieder in die goldenen Augen sah, in denen ein schelmisches Funkeln lag.

      „Du meinst die hier?“, fragte sie und zog zwischen den Falten ihres Kleides einen silbernen, etwa zwei Finger breiten Stab hervor, der ungefähr so lang war wie ihr Unterarm.

      Blake schnaubte. „Ich habe gehört, in manchen Ländern isst man mit so etwas“, kommentierte er den Anblick, was Imogen dazu brachte, missbilligend mit der Zunge zu schnalzen.

      „Mit so etwas isst man nicht. Mit so etwas kämpft man“, sagte sie, trat einen Schritt zurück, hob den Arm und schwang ihn zur Seite, als wollte sie den Stab wegwerfen, ließ ihn jedoch nicht los. Und mit einem leisen Klicken verwandelte sich der Stab in ein Schwert, das wie der Mond kalt und silbern schimmerte. „Ihr braucht aber keine Angst zu haben“, redete Imogen beruhigend auf die beiden Männer ein, denn ihr war ihr erschrockenes Zurückweichen nicht entgangen, „die Klinge ist unwirksam ohne meine Magie. Ich könnte sie genauso gut wegwerfen, aber ich bringe es nicht über das Herz. Ich habe schon so viel von mir verloren.“ Sie betätigte den Mechanismus, der die Klinge zurückfahren ließ, und drehte den Stab gedankenverloren zwischen ihren Fingern.

      „Woher willst du wissen, ob das Schwert ohne deine Magie nicht funktioniert? Hast du es ausprobiert?“, fragte Blake. Sowohl die Spitze als auch die Schneide konnten ihm sicherlich Schaden zufügen, mutmaßte er.

      „Es war nicht nötig, es herauszufinden“, murmelte Imogen. Auf ihrem Gesicht zeigten sich abermals Spuren des Bedauerns. Das konnte Blake sehen. Er brummte vor sich hin und brachte sie so zum Aufblicken. „Was ist?“, fragte sie und verstaute den Stab wieder dort, wo er sicher war, als sie die geringschätzigen Blicke des Mannes bemerkte.

      „Lass mich eines klarstellen“, begann Blake zu sagen und trat auf sie zu. „Ich glaube nicht an Gottheiten. Ich glaube nicht an Zauberei. Ich glaube nicht an Schicksal. Doch woran ich glaube ist dies: an die Kraft aus uns selbst heraus. Ich glaube daran, dass ein jeder von uns Talente und Fähigkeiten besitzt. Was wir aus ihnen machen, liegt in unseren eigenen Händen und nicht in denen von unsichtbaren Wesen, die sich einen Dreck um unser Wohlergehen scheren. Es liegt auch nicht an schön klingenden Zaubersprüchen oder am Anheulen des Mondes. Einzig und allein an uns und an unserem Vertrauen in uns selbst. Du setzt viel zu sehr auf anderes als auf dich selbst. Das ist verständlich, denn du wurdest mit deiner Magie und dem Glauben an sie und dem Vertrauen in sie geboren und erzogen. Aber du solltest dich vielleicht fragen, ob deine Magie wirklich jemals hier drin gesteckt hat.“ Behutsam berührte er ihren intakten Flügel. „Oder ob sie nicht doch eher hier drin war und ist“, sagte er und deutete auf ihre Brust.

      Seine Worte riefen unterschiedliche Gefühle in Imogen hervor. Einerseits schockierten sie seine Ansichten und ließen Mitleid für Blake in ihr aufkommen. Welches Elend musste er erlebt haben, um so zu denken und um den Glauben an so ziemlich alles zu verlieren? Für Imogen selbst war es etwas völlig anderes. Sie wusste um die Wunder ihrer Welt, und sie wünschte sich, Blake würde all das ebenfalls sehen – eines Tages – und dann seine Meinung ändern. Ebenso wusste sie um die Existenz ihrer Magie, hatte sie erlebt und mit ihr gelebt. Nun war sie fort. Sie spürte aber auch Neugierde aufgrund von Blakes Rede. Was, wenn er Recht hatte? Wenn ihre wirkliche Magie aus ihr selbst herauskam, wenn sie schon immer tief in ihr gesteckt hatte? Wünschenswert wäre es allemal und ihrem Plan zuträglich