Eike Stern

Die Ehre der Stedingerin


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hielten sie sich zu nahe am Torhaus der Burg auf. Das lud dazu ein, von oben einen Kübel Wasser über den Steg zu schütten. Ein ungünstiger Windstoß verstreute den Guss, und Dirk und Ulrike bekamen genug ab, dass danach die Kleider kalt am Leib klebten. „Verdammt“, bemerkte Dirk, „ich bin nass wie eine Katze.“

      „Das soll euch noch leidtun“, drohte er den beiden Rittern, und Ulrike flüsterte er zu, „jetzt glaube ich auch, sie haben Lüder in den Turm gesperrt. Und ich schwöre dir bei Gott, wir holen ihn da heraus.“

      „Aber wie?“ fragte sie neugierig und schüttelte sich, so fror sie in ihrem nassen Kleid.

      „Du wirst schon sehen. Gib mir eine Woche, es vorzubereiten. Deine Freundinnen und du, ihr müsst zu mir stehen und zugeben, was euch angetan wurde.“

      „Ich verstehe immer noch nicht, was du tun willst. Aber du solltest den Deichgrafen einweihen. Das ist ein Mann der Tat, willensstark wie ein Ritter.“

      „Gut, bringe mich zu ihm.“

      „Du musst nach dem Hof der Bardenfleths fragen.“

      „Ich möchte ein Treffen aller aufrechten Männer von Stedingen“, erklärte ihr Dirk und ritt mir ihr schnurstracks zum Marktplatz von Berne, um seine Freunde aus dem Gasthof zu holen. „Wir reiten zu dem Bardenflether, den sie in dieser Gegend den Deichgrafen nennen“, gab er ihnen zu verstehen, und Ulrike zeigte ihnen den Weg.

      Am frühen Nachmittag erschienen vier Junker in weißgelben Waffenröcken auf dem Deich, in dessen Schutz das Gehöft Bardenfleth lag, ein langgestreckter Fachwerkbau mit bäuerlich gekreuzten Pferdeköpfen über der Giebelfront, weiß gekalkt, Eingangstüren und Rahmen der Fenster grün und über allem ein tief herunterhängendes, wulstiges Reetdach. Ein Stück abseits hob sich die Scheune vom blauen Himmel ab. Unzählige Hühner und sich herumtreibende Schweine bevölkerten das Gut, eine Drossel sang auf dem Giebel der Scheune, und einige Mägde vom Gesinde hoben neugierig die Köpfe, als die fremden Edelleute ihre Rosse anhielten.

      Ulrike ließ sich elegant zu Boden gleiten und lachte, als sie auf ihren Füßen zu stehen kam und ihr nicht länger ihr Sitzfleisch weh tat. Jemand rief wohl nach dem Gutsherrn. Aus der größten Tür des Fachwerkhauses, durch welche die vollen Erntewagen in die Diele fuhren, betrat Rainald von Bardenfleth den Hof. Das schulterlange, graue Haar wirkte sehr gepflegt, und sein brauner Mantel mit Fellkragen entsprach der Kleidung der Wohlhabenderen. Aus wachen grauen Augen musterte er argwöhnisch Dirks junges Gesicht. „Was verschafft mir die Ehre?“

      Dirk stieg gelassen ab und stemmte neben Ulrike die Arme in die Hüften. „Ich bin Dirk, der Sohn des Vogtes von Burg Keyhusen. Ich bin hier, weil ich mit dem Vogt von Burg Lechtenberg ein Hühnchen zu rupfen habe.“

      Der oberste Deichgraf empfing sie bewusst reserviert, galten doch die Keyhuser Ritter als Lehnsmänner des Grafen von Oldenburg. Er schnitt ein entsetzlich abweisendes Gesicht und zog die Brauen an, eine steile Falte zog die Stirn hinauf. „Ein übermütiger Bursche wiegelte kürzlich auf der Rodung am Hemmelskamper Wald die Bauern auf, und das ging böse aus. Ich bemühe mich seitdem, Hetzer zu überhören. Haltet mich aus eurem Händel mit dem Vogt heraus. Mich quälen andere Sorgen und davon genug.“

      Dirk dämmerte bereits, was weiter passierte. „So etwas beginnt man nicht aus Starrköpfigkeit, sondern überlegt sich zuvor genauestens wie, wo und wann…“

      „So ist es. Acht Männer aus Bettingbüren und Ranzenbüttel, die ihn gut kannten und sich mitreißen ließen, sind dafür gehängt worden. Sie haben bei der Kapelle auf dem Kirchhof einen Platz gefunden, wo sie frei sein können.“

      Energisch bot ihm Dirk die Stirn. „Hört mich erst einmal an.“

      Er langte mit ausholendem Arm nach Ulrike und zog sie fürsorglich an sich. „Das ist Ulrike, die Tochter von Lüder, dem Schmied. Sie war an dem Sonntag nach Erntedank mit einem Fuhrwerk unterwegs nach Berne, zum Gottesdienst. Bei ihr war Birte Aumund, die Ihr kennen dürftet, sowie ihre Geschwister und eine Magd, die ich Euch gern als Zeuginnen bringe, falls ihr darauf besteht. Ein Trupp Reisiger unter Führung des Vogtes von der Lechterburg fing sie am Brookdeicher Holz ab. Die Waffenkechte haben im Rittersaal um die Frauen gewürfelt und sich an ihnen vergangen, und ich will nicht mehr und nicht weniger als Rache dafür.“

      Der Deichgraf nickte begreifend. „Das kam schon öfter vor, kann ich Euch verraten.“

      Dirk las in den Mienen, er war überzeugend. Rainald hielt ihm die Hand hin, und er schlug freudig ein. Seine Freunde sprangen von den Rossen und schüttelten dem Deichgrafen einer nach dem anderen kraftvoll die Hand.

      „Ganz Stedingen wird aufstehen, wenn ich das will“, sagte Rainald von Bardenfleth. „Ich habe meine Leute, um ein Thing einzuberufen und das bekannt zu machen. Einer wird es dem anderen flüstern. Am nächsten Sonntag… da wo die Ritter die Gespanne abzufangen pflegen, am Brookdeicher Holz. Diese Raubritter gehören bestraft. Und der Siedlungsvertrag des Jahres 1106 ermächtigt uns, mit den zur Verfügung stehenden Mitteln den Landfrieden aufrecht zu halten und die Übeltäter zur Verantwortung zu ziehen. In der Kolonisationsurkunde wird klar erwähnt, auch in der niederen Gerichtsbarkeit ist die Aburteilung von Landfriedensbrechern möglich. Niemand kann uns vorwerfen, wir hätten zum Aufruhr angestiftet. Wir treffen uns zur Abenddämmerung. Ich hoffe, auf Euch ist Verlass!“

      Bis dahin war es noch eine Woche hin, und als Ulrike sich an Dirks Rücken schmiegte und sie die Hände vor seinem Bauch faltete, sprengten sie zum Gehöft der Aumunds. Er hieb frohlockend die flache Hand auf den Oberschenkel und genoss die Vorfreude, wie er sich einst auf die Schwertleite freute. Alles war in die Wege geleitet und erfüllte ihn mit Stolz. Er dachte bereits nach, wie sie ohne große Verluste die Burgen einnehmen könnten, doch wie er sich das genau vorstellte, verriet er nicht einmal Ulrike. Seit sie sich ihm auf dem Friedhof geöffnet hatte, war er mit keinem anderen Menschen lieber zusammen und genoss es, ihr nahe zu sein. „Wie stehst du zu Birtes Vater, Rike? Weiß er, was geschah? Es wäre günstig, sollte sich eine Kammer auf dem Aumundhof für uns finden.“

      Ulrike blies der Wind durch die Haare, während sie sich bei ihrem dritten Ritt durchaus geborgen an seinem Rücken fühlte und sich ungehemmt von hinten an ihn klammerte. „Der alte Aumund weiß, wer ich bin, und er mag mich, glaub‘ ich, aber mit ihm über das zu sprechen, was uns widerfuhr, das bringe ich nicht fertig. Ich möchte eigentlich mit keinem darüber reden…“ Das Hufgetrappel der Freunde begleitete sie, und etwas fehlte plötzlich, weil das Geräusch fehlte.

      Dirk warf einen kurzen Blick über die Schulter und sah Godeke an, dessen Gesicht rot war vor Anstrengung. Der Freund grinste, als wollte er sagen: So leicht wären sie nicht abzuschütteln. Dirk gab Ulrike unverhofft einen sehr vertraulichen Kuss hinter das Ohr - schneller als sie den Kopf wegdrehen konnte.

      „Ich bin stolz auf dich“, flüsterte er. „Du hättest es leicht verderben können, eben beim Bardenflether. Zum Glück hast du mich nicht dafür getadelt, dass ich dich an mich zog. Das hätte mich unglaubhaft gemacht vor eurem Deichgrafen. Jetzt nimmt die Sache ihren Lauf. Weißt du, vieles wollen wir, und wenig wird in die Tat umgesetzt. Nach diesem Thing im Brookdeicher Holz lässt sich nichts mehr zurückpfeifen…“

      Sie hätte ihm gern anvertraut, wie unangenehm es für sie auf einmal wurde. Ein Mädchen mochte hässlich sein, hübsch aussehen, oder zu den Schönheiten zählen, wichtig war allein, unbefleckt zu bleiben, bis es zum Altar geführt wurde. Die alten Wertevorstellungen machten leider keinen Unterschied, ob der gefallene Engel früher schon als schwaches Geschöpf für Tratsch sorgte, oder ob verwahrloste Mannsbilder im Schergenrock ihr fleischliches Verlangen an ihnen ausgetobt hatten. Auch ein schuldlos in Schande gefallenes Mädchen sollte so klug sein, sich nicht selbst ins Gerede zu bringen. Dirk machte keinen Hehl daraus, genau dazu würde er sie drängen. „Hat Birte ebenso viel Rückgrat wie du?“

      Ulrike stöhnte, als hätte er einen wunden Punkt berührt. „Was heißt hier Rückgrat?“, fragte sie unwillig. „Auf mich wirkt Birte, als wären ihr kürzlich Mutter und Vater verstorben. Seit ein paar Tagen zerreißen sich die Leute auf dem Markt den Mund über sie und ihr Missgeschick auf Burg Lechtenberg. Gott weiß, wer sich da verplappert