Eike Stern

Die Ehre der Stedingerin


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umbrachte.“

      „Ich weiß es bloß ungefähr. Sicher ist, seine Töchter brachen vom Gutshof der Aumunds am Sonntag nach dem Erntefest auf zur Kirche von Berne und kamen nie an. Die Pferde gingen durch oder so, hab‘ ich gehört. Der Großknecht des Hofes fand sich tot an der Unfallstelle, und die Fräulein, in dem Versuch, zu Fuß die Kirche zu erreichen, wurden von den Rittern der Lechterburg verschleppt. Daraufhin brach Lüder zur Burg auf, und man munkelt, er wurde umgebracht.“

      Dirk schlug sich an die Stirn. „Mein Gott, so starb er. Und Rike?“

      „Rike kenne ich nicht“, gab ihm der Schmied zu verstehen, nahm aber gern den Auftrag an, da Dirk ihm zuvorkommend zehn Markstücke auf die offene Hand zählte. „Gebt mir sechs Tage, und Ihr habt Euer Ungetüm von Schwert.“

      Als Dirk nach draußen kam, sahen auch Frederik und Ekhard ihm an, ihm wühlte eine schlechte Neuigkeit im Magen. „Arme Rike“, sagte er traurig vor sich hin, setzte den Stiefel in den Steigbügel und warf mit Schwung das Bein über den breiten Pferderücken, um dann, fest im Sattel verankert, Godeke ernst in die Augen zu fassen. „Und das verdankt Lüder unserem werten Freund Konrad. Was sagst du dazu?“

      „Wir sollten uns anhören, was deine Liebste dazu zu erzählen weiß.“

      „Ja. Und ich bereue nicht länger, mich mit meinem Vater überworfen zu haben. Ulrike braucht mich jetzt.“

      Die vier Ritter brachten den Alten Deich in wildem Galopp hinter sich und bogen mit flatterndem Haar ab zur Huntebrücke, um bald darauf vor der Fachwerkfassade des Gutshofes, bei einer schrundigen Trauerweide abzusitzen. Geldis trieb es gerade zu den Kühen, in jeder Hand einen Holzeimer. Sie staunte angesichts der Reiter. Auf dem Erntedankfest sah sie Ulrike mit diesem jungen Ritter ausgelassen tanzen. Sie stellte die Eimer ab, strich sich freudig am grünlich blassen Leinenrock die Hände trocken und knickste. „Hoher Herr, Euch schickt der liebe Gott. Etwas Schreckliches ist geschehen.“

      „Ich weiß…“ Dirk wirkte plötzlich nervös. „Führst du mich zu ihr, zeigst mir ihre Kammer?“

      Geldis schüttelte halsstarr den Kopf. „Ihr würdet sie nicht antreffen.“

      „Wo dann?“

      „Sucht sie auf dem Kirchhof… Sie wird sich freuen, schätze ich. Aber bitte nur, wenn Ihr es ernst meint mit ihr. Sie ist so anders seit Tagen und will sich nicht mit dem Tod ihres Vaters abfinden.“

      Dirk nickte überlegend. „Hat man seine Leiche gefunden?“

      „Nein.“

      „Siehst du, darum hofft sie. Und das kann ich verstehen.“

      Sie lächelte bitter, als die Ritter wieder der Dorfstraße zustrebten. Hohles Geklapper klang vom Fluss her an ihr Ohr, als sie über die Huntebrücke abzogen, nun den weiten Weg nach Berne noch einmal zurück. Denn seit fast hundert Jahren beerdigten die Stedinger der Lechterinsel ihre Toten auf dem Friedhof hinter der Kirche zu Berne, weil die Warft, auf der sich Kirche und Rathaus erhob, mit Sicherheit niemals überschwemmt wurde.

      Wieder blieben Dirks Freunde bei den Pferden und Dirk zog die quietschende Pforte im Schatten der Friedhofslinde auf und holte tief Luft, als er den christlichen Gottesacker betrat. Das Gefühl, das ihn beschlich, streiften die Augen über das Gräberfeld, war nie schön, aber diesmal schauderhaft, obwohl ein Friedhof in der kalten aber hellen Herbstsonne kaum unheimlich zu nennen wäre. Ziegen weideten das hohe Gras, wo die Vergessenen schliefen. Kinder spielten Verstecken hinter kostspieligen Granitskulpturen, verwildertem Gestrüpp, Füllhörnern und dicken posaunenden Engeln. Freche Phantasiegeschöpfe wie pausbäckige Seraphsköpfe, Nasentrompeter und Figuren, die ihren nackten Hintern in die Luft strecken, lockerten die Idylle der zahllosen mit Namen und Alter gravierten Denkmäler, Säulen und Kreuze auf. „Ewig… Oh ist das lang…“ las Dirk über einem kleinen Heidebeet.

      Ein knurrender Hund tauchte über den mit Tannenzweigen bedeckten Gräbern auf, einen Kinderschädel in den Lefzen. Dirk stockte der Atem und er besann sich, hier wie in Zwischenahn, gebührte keinem außer den Vornehmen, Geistlichen und Betuchten eine bepflanzte Ruhestätte... Der Köter wies ihm den Weg zu der hübschen kleinen Kapelle mit der nie voll werdenden Grube der Namenlosen. Hier, unter dem ausladenden Schirm einer stattlichen Eiche, traf Dirk auf eine Schar Trauernder, die sich mit gefalteten Händen um einen frischen Erdaufwurf mit Kränzen und Blumengebinde versammelt hatte, einen Anverwandten zu verabschieden. Einiges war geschehen, von dem sich Dirk keine Vorstellung machte, aber auch sonst verging selten eine ganze Woche, ohne dass man in dieser Gruft wühlte und Zuwachs beisetzte. Von einem zünftigen Grab konnte in dem Fall kaum die Rede sein: Leichnahm wurde auf Leichnahm gebettet, und wenig dazwischen geschüttet, die Erdschicht blieb stets dünn. Starke Regenfälle spülten dann und wann auch eine widerliche Hand oder einen Fuß frei, und die unseligen Toten der Armen fanden eigentlich nie wirkliche Ruhe.

      Als die Trauergesellschaft wich und es alle zum Leichenschmaus zog, schmückten zahllose Kränze das Armengrab, ein Gärtner krempelte die Ärmel hoch und machte sich daran, es ansehnlich zu haken.

      Dirk wollte eben die Suche aufgeben, da kam hinter den einen Augenblick länger ausharrenden Anverwandten Ulrike zum Vorschein - in eingesunkener Haltung an einem Grab kniend, auf dem sich Kriechwachholder ausbreitete. Lüder hatte seine Frau abgöttisch geliebt, und den Rest des Geldes, das noch aus den Tagen des westfälischen Hausstandes stammte, für einen Stein geopfert. Einen Batzen Silber musste er berappen für diesen Luxus. Fremdes Getier, nämlich winzige rot gemusterte Feuerwanzen krabbelten im Grün und auch auf dem verwitterten Grabstein, wo zwei Rosenstöcke einen Sonnenfleck offenließen. Sie hockte verneigt davor und merkte nicht, wer hinter ihr stand. Und er war unschlüssig, ob er sie sinnlos erschreckte, sollte er sie so ansprechen.

      Endlich richtete sie sich auf, betete und wandte sich zu gehen. Sie zuckte zurück, als Dirk ihr in die geröteten Augen schaute. „Du…? Hier?“

      Er atmete tief durch angesichts ihres burschikos gestutzten Haars, da vergrub Ulrike vor Scham ihr Gesicht in den Händen und weinte. „Wer?“, fragte er, und die Frage kam wie ein Aufschrei. „… hat dir das angetan?“ Das lange Haar gehörte zu ihr wie die Himmelfahrtsnase, und sie wirkte schlimm zugerichtet, da Johann den Zopf oben am Haaransatz kappte.

      „Der Hauptmann… von der Lechterburg“, brachte sie verstört hervor und wagte nicht mehr, Dirk in die Augen zu schauen. Sie fühlte sich so wertlos, und je länger sie weinte, desto hemmungsloser flossen die Tränen.

      Für Dirk lag auf der Hand, die rauen Gesellen auf der Burg zerschnitten ihr brutal die Haare… Deshalb wirkte sie ungewohnt verschüchtert. Aber es waren Tränen der Freude. Jeden Tag hatte sie um dieses Wiedersehen gebetet, so oft sie Zeit fand, den Kirchhof aufzusuchen – und er war gekommen. Was die beiden füreinander empfanden, kam an einen Punkt, an dem sich Standesunterschiede erübrigten, zumal sie unter sich waren. Für Ulrike zählte über allem anderen, er kam früher zurück als vorhergesagt, und für ihn, dass sie plötzlich an seiner Schulter hing und schluchzte, als wäre der Einzige erschienen, der ihr noch helfen konnte.

      „Sie haben Vater… in der Lechterburg… und ich fürchte, die foltern ihn. Er ist verschwunden, seit er von Berne aufbrach, Wibke und mich nach Hause zu holen.“

      Stockend berichtete sie, und Dirk nahm sich heraus, ihr über das Haar zu streichen, um sie zu beruhigen. Doch ob er seinen ehemaligen Waffenbruder Konrad bewegen könnte, Lüder frei zu lassen, bezweifelte er. Dafür lag dem zu viel am Wohlwollen des Flamen, der in Bauern nur Kreaturen zwischen Mensch und Tier sah. „Du meinst, dein Vater lebt?“

      Sie zog einen wehmütigen Mund und blickte ihn aus flackernden Augen an, mit dem Gefühl, er könnte nicht richtig zugehört haben.

      „Was ist denn, mein Täubchen?“, fragte er, weil er das spürte.

      Sie kniff eine Braue an, machte ein schiefes Gesicht wie Lüder, lief dem eine Sache gründlich gegen die Hutschnur. „Täubchen?“, wiederholte sie ärgerlich und glaubte Konrad zu hören. Aufgebracht stieß sie mit dem Zeigefinger auf ihn ein. „Nenn‘ mich nie wieder so. Hörst du?“

      „Nie