Eike Stern

Die Ehre der Stedingerin


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nicht mehr. Nur… wie stehe ich vor dir da, wenn ich das annehme?“

      „Meinst du, ich werde gerade das Kleid vermissen? Willst du es nicht geschenkt, leihe ich es dir.“

      Auf ihr Augenzwinkern wandte sich Ulrike der Tür zu, um sich den wartenden Schwestern zu präsentieren. Sie streckte kaum die Hand aus nach der Tür, da blickte sie Birte erneut beschwörend an. „Du wirkst noch immer wie eine Fünfzehnjährige.“

      Langsam wurde es Ulrike zu bunt, beständig von der Freundin belehrt zu werden. Sie drehte sich hochfahrend um und betrachtete sich gekränkt noch einmal ganz kritisch in dem großen Wandspiegel, ehe die Freundin hinter sie trat und sich herausnahm, ihr den Zopf zu öffnen. „So muss mich jeder Mann für eine Walküre halten“, scherzte sie, und es klang verletzt.

      „So sollst du ja auch nicht zum Tanz gehen.“ Birte wandte sich mit kreativ gespitzten Sinnen der Eichenkommode zu und überflog den Inhalt der kleinen, bunt bemalten Steinschale, die neben dem Butterkuchen ihren Platz hatte. Ein Kamm fand sich darin, scheinbar aus Silber, sowie eine Haarspange aus dunklem Horn und eine Perlenkette. Birte kämmte energisch ihr Haar durch, egal wie grausig das ziepte, bis es geschmeidig glänzte, dann entnahm sie die Perlenkette und wies die Ulrike. „Halte dir mal die Haare hoch. Nur um zu sehen, wie das aussieht.“

      Ulrike raffte das Haar im Nacken zusammen, und Birte verschlang es ihr zu einem kunstvollen Knoten, dem sie mit dem Perlenband Halt verlieh. Ihre ungewöhnlich geschickten Finger wirkten gepflegt wie die einer Burgdame, und hinterher war der Haarbausch zierlich mit silberweißen Perlen umbunden und konnte durchaus einen Windstoß überstehen.

      „Siehst du, wie recht ich habe? Oder möchtest du dich wieder umziehen und lieber zum Tanz gehen wie ein kleines Mädchen?“

      Je mehr Ulrike Gefallen an ihrem verwandelten Äußeren fand, desto mehr taute sie auf in Birtes Gesellschaft und fing an, sich mit ungeübten Händen die ungewohnte Frisur mit dem Perlenband zurechtzurücken. „Du bist meine erste richtige Freundin“, gestand sie Birte.

      Die zwinkerte ihr vergnügt zu. „Und du meine Beste.“

      Für einen guten Bürger hatte es Tradition, den Sonntag des Erntedankes mit einem Kirchenbesuch zu beginnen. Für Lüder und seine Töchter lag die Kirche von Berne mit ihrem großen freien Platz, auf dem zwei alte Linden standen, auf der gleichen Warft, eigentlich um die Hausecke. Die Glocke rief auch an diesem Sonntag zum Gottesdienst wie zu einer Pflicht, der jeder gern nachkam, und sie klang weithin über das Land. Jeder in Berne lebende Stedinger war stolz auf die zum Großteil aus Stein bestehende Kirche. Durch das bunte Mosaikfenster im Hintergrund der Eichenholzkanzel, flutete gedämpftes Sonnenlicht in das Kirchenschiff. Bestieg Pfarrer Wilke Holms die hohe Kanzel und überschaute mit einem feierlichen Ausdruck im hageren Gesicht die Köpfe seiner Schäflein, erhob sich die über zwanzig Bankreihen verteilte Gemeinde zum Singen. Ulrike hielt heimlich Umschau, wer fehlte. Eigentlich widerte sie die sonntägliche Heuchelei an. Freilich, jeder ging in die Kirche, allerdings zur Unterhaltung, weniger wegen des Gottesdienstes. Wilke Holms war ein begnadeter Redner, ein Talent, das fesseln konnte. Seine Predigten sorgten für Gesprächsstoff und Abwechslung nach all der Plackerei und Mühsal, die den Alltag füllte - mehr nicht. Wer außer ihr hörte schon richtig hin?

      Heute schmückten alle Nischen bunte Blumengebinde. Zu Füßen der Kanzel bildeten Astern, Levkojen, Studentenblumen, Sommerrittersporn und Löwenmäulchen eine farbenprächtige Augenweide. Auf dem Altar war eine Auswahl aus 16 geweihten Heilkräutern angeordnet, und zwar so, dass in dessen Mitte eine majestätische Königskerze mit einer leuchtend gelben Blütensäule thronte, um welche man die anderen Pflanzen büschelweise gruppiert hatte, vornean Johanniskraut, Schafgarbe, Kamille, Wermut, Beifuß, Baldrian und Arnika.

      Ulrike richtete es ein, dass sie bei Birte Aumund sitzen konnten, rechts von ihr die Schwestern und der Vater, links von Birte deren Brüder Klaas und Herse sowie Sibo Aumund, das Familienoberhaupt. Dann erfüllte frommer Gesang die Kirche, und in die einkehrende Stille hinein sprach Wilke Holms über Weisheit und darüber, alles habe seine Zeit. „Es gibt den Herbst, um zu pflügen, den März, um zu säen und den späten Sommer, um zu ernten. So wie es eine Zeit gibt, zu trösten und die Momente, in denen wir Trost brauchen. Wir geben, damit andere uns geben, sind wir in Not“, beschloss es der Pfarrer und segnete die Gemeinde.

      Erneut galt es, sich von der harten Bank zu erheben und nach weiterem Lobgesang auf den Herren breitete sich Unruhe im Hauptschiff aus. Während Birte in der Beichtkammer verschwand und die Leute lautstark schwatzend aus der Kirche schwärmten, hob Ulrike den Blick zu der Madonna, die in Kerzenschein gehüllt milde zu ihr herab lächelte, und sie vertiefte sich in ein stilles Gebet. Ein Luftzug von der Kirchenpforte ließ die Kerzenflamme am Marienaltar zittern, und Ulrike dachte an die schwere Entscheidung, die der Graf von ihrem Vater forderte. Sie fühlte sich dem lieben Gott an diesem Ort nahe. Glaube kann Berge versetzen, klang es zuweilen von der Kanzel. Sie wusste das zu deuten, so sehr, niemals einzuschlafen, ohne ihr Nachtgebet. Da der liebe Gott bekanntlich alles sah, bemühte sie sich von Herzen, ein guter Mensch zu sein, aber ähnlich erging es wohl den meisten. Nur heimlich, ohne es jemals vor Timke oder Wibke zuzugeben, glaubte sie daran, für Gott eine gewisse Rolle zu spielen, und sie fügte mit feierlichem Nachdruck das „Amen“ hinzu. Hinter den Pfeilern, am Rand der Sitzreihen, steckten die Frauen mit Haube leise tratschend die Köpfe zusammen. Die schwer über den Steinboden schlurfenden Schritte eines Handwerksmeisters nahmen sich wie ein Poltern aus im Gemurmel. Nach der Andacht fühlte sie sich wundersam befreit und mit sich im Reinen, ganz so, als sei ein heimliches Abkommen aufgefrischt, welches ihr von klein auf viel bedeutete. Die meisten verließen die Kirche hingegen, ohne ihr schweres Herz erleichtert zu haben. Die Masse strebte schiebend, in winzigen Schritten dem Ausgang zu, um sich draußen auf die festgetretene, freie Lehmfläche und die Wege mit Buden und Ständen zu verteilen, wo nur zum Rand hin noch Gras gedieh.

      Draußen flötete eine Amsel in der Linde, und sie musste an Eike denken. Wie früher ärgerte sie seine ungestüme Art, die Dinge anzupacken. Die Freundin stieß eben wieder zu ihr, und Ulrike bemerkte leise: „Eike regt mich auf. Bolke stellt klar, es sei gefährlich, Renke van Hartjen zu helfen, und der lässt es glatt darauf ankommen, will beweisen, was er für ein Kerl ist. Das war dumm, ich frage mich, was geschehen wäre, hätte das Unwetter nicht alles umgeworfen.“ Sie ahnte, Birte würde es nur missverstehen; eigentlich fand sie es anfangs ja auch tapfer, wie Eike seinem Vater nacheiferte. Und Birte blinzelte überrascht. „Durch dich steige ich nicht durch. Uns hast du begeistert geholfen, bei Renke van Hartjen nennst du es dumm. Weshalb?“

      Ulrike lachte trocken. „Das Gerangel auf dem Wertherhof hätte sich Ocko besser verkniffen. Der Werther könnte noch leben, und es hat den Vogt verärgert. Sowas tönt man doch nicht heraus wie Eike und treibt es noch toller.“

      „Na gut, Eike handelt mitunter unüberlegt. Aber das trifft auf die meisten Kerle zu.“

      Ulrike schnitt ein leidgeprüftes Gesicht und seufzte, als sei es ihr zu unwichtig, sich deswegen zu streiten. „Schon, aber sicher ist, der Bessere der beiden will dich.“

      Lüder trug zur Feier des Tages ein Hemd mit dem Ansatz eines Kragens, darüber einen langen braunen Leinenmantel mit Ledermanschetten; man hätte ihn für einen Zunftmeister halten können. Ulrike war stolz auf ihren Vater. Ihre Augen streiften hinüber, zu dem Bühnengerüst mit Stiege, an dem zwei Zimmerleute ihre letzten Handgriffe ausführten und noch gehämmert wurde. Davor reihten sich Sitzbänke und acht Fuß lange Schanktische. Nahe dem Halbschatten der Linde errichteten kräftige Burschen einen Erntebaum, fast so hoch wie das Rathaus. Ein aus Ähren gebundener Kranz schmückte die Spitze, umweht von bunten Bändern. Die Umstehenden jubelten und beklatschten heftig die aufgepflanzte Erntekrone aus Rogge, Gerste und Hafer, die einen Vergleich mit der von Elsfleth nicht zu scheuen brauchte. Für Ulrike war es diesmal mehr als nur der übliche Rummel, der alle Jahre wiederkehrte, fand sich unter der Erntekrone die Jugend zusammen. Schausteller und ein dressierter Bär waren angekündigt, ein Barde sollte zum Tanz aufspielen. Vor allem aber hatte sie heute ein wunderschönes Kleid an. Diesmal würde sie nicht allein hingehen und freute sich, eine Freundin gefunden zu haben. Plötzlich bemerkte sie, ihr Vater fehlte, und das ließ ihr keine Ruhe. Timke wollte unbedingt am Sackhüpfen teilnehmen, überlegte