Christine Kolbe

Der andere Jesus


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in dem umfriedeten Gelände verschwanden.

      Schon beim ersten Morgengrauen war er erwacht, schweißgebadet von einem verwirrenden und bedrückenden Traum. Wieder war er ihm im Traum begegnet, der, auf den die Juden warteten und der nun bald erscheinen sollte. Sein Bettzeug war vom Schweiß getränkt und sein Atem ging schnell und unregelmäßig. Es war nun schon das siebte Mal, dass er diesen Traum träumte, in dem er ihn, den sie den Messias nannten, zum Tode verurteilte und in dem eine innere Stimme ihm sagte, dass dies ewige Verdammnis bedeuten würde.

      Beim Geräusch des nahenden Dieners schreckte er hoch und bedeckte sich mit einem weiten Mantel, damit sein Leibwächter seine Verfassung nicht erkennen konnte. Seit Wochen fühlte er diese Bedrohung, diese Angst, in etwas hineingezogen zu werden, das fürchterlich und grauenvoll war. Aber war es nur das, oder rührte die Angst noch aus einem anderen Grund, den zu erkennen er nicht wagte?

      Der Diener stellte wortlos Brot und Früchte bereit und verließ das Gemach, das an diesem Morgen stickig und schwül war. In den Gassen der Stadt tummelten sich schon zu Hunderten die Händler, die in der ganzen kommenden Woche die Stadt in einen einzigen Basar verwandeln würden. Es gab buchstäblich nichts, was hier nicht angeboten wurde. Brot, Früchte, Wein, süße Kuchen mit Rosinen, Töpfe, Kupfergeschirr, irdene Gefäße, Krüge, Schuhe, Lederwaren, lebende Tiere, Leinen und golddurchwirkte Brokatstoffe, Wolle, Farben zum Färben und natürlich all die Mixturen der Quacksalber, die die ominösesten Salben und Pulver verkauften, allesamt angeblich hochwirksam und heilkräftig bei jedem Gebrechen, das man sich denken konnte.

      Die Kräuterweiber blieben unter sich. Auf dem Marktplatz bildeten sie einen Reigen von aufgetürmten Bündeln getrockneter Kräuter, die in keinem Haus fehlen durften.

      In der hintersten Ecke des Marktes hatte Miriam einen kleinen Tisch mit den kostbaren Salbölen ihres Vaters aufgebaut. Duftende Blütenessenzen und seltene Balsamöle, die aus der Rinde bestimmter Bäume mühsam gewonnen wurden und die für das einfache Volk unbezahlbar waren.

      Sie selbst hatte ihr Haar mit Orangenblüten geschmückt, und einige Locken ihres rötlichen Haares waren ihr in die Stirn gefallen. Ihr Bruder half ihr beim Aufbauen der Waren. Kleine Tonkrüge, mit Wachs verschlossen, und große Schalen, mit Blüten und Kräutern gefüllt, die noch frisch den Ölen beigemengt wurden. Eine kleine Schale kostbaren Salböls war auch dabei, die sie seit Kindertagen mit sich trug und die sie niemals verkauft hätte. Sie hatte das Gefühl, dass dieses Öl für einen besonderen Anlass bestimmt war, der irgendwann in ferner Zukunft eintreten würde. Sie rückte die letzten Tonkrüge zurecht, als eilig dahinreitende Männer in weißen Umhängen Richtung Stadttor davonpreschten. Sie blickte ihnen nachdenklich nach. Was mochte sie so zur Eile antreiben?

      Wenig später standen die ersten Käufer vor den Auslagen, beäugten die Waren, fühlten, probierten und feilschten, so, wie es immer war.

      Der Lärm unzähliger Stimmen erfüllte die Gassen und drang in das Arbeitszimmer des Statthalters, der über die Schriften des Königs gebeugt saß. Sorgenfalten machten sich auf seiner Stirn breit. Er fächelte sich Kühle zu und las den letzten Abschnitt nun schon zum dritten Mal. Immer wieder stiegen Bilder aus dem Traum der vergangenen Nacht auf und schoben sich vor die Schriftstücke, die ausgebreitet vor ihm lagen. Er war Statthalter und in seiner Funktion auch oberster Richter, von dem unmissverständlich ein grausames Urteil gefordert wurde.

      Er ließ sich schwer auf seinen Sessel fallen, um die Diener zu rufen, ihm ein Bad zu bereiten. Es war ihm, als könne er damit alle Sorgen von sich abwaschen.

      Das leise Klirren von Glas ließ ihn aufschrecken. In dem wohlig warmen Wasser war er beinahe eingenickt. Der Diener reichte ihm einen Kelch mit frischem Most und eine Rebe mit reifen roten Trauben. Er verspürte keinen Appetit und ließ alles unberührt, um sich für die tägliche Audienzstunde anzukleiden. Seine Toga aus rotem Samt lag schwer auf seinen Schultern. Die goldene Kette zerrte an seinem Hals, wie sein Amt an seinen Nerven. Die Gedanken kreisten um die Schriftstücke und die Konsequenzen, die sich daraus für ihn ergaben. Heute sollte er eine Ansprache auf dem Balkon des Palais halten, um den Basar offiziell zu eröffnen. Dabei machte sich niemand die Mühe, auf diesen Auftritt zu warten. Man hatte bereits begonnen, die Waren feilzubieten, und niemand achtete mehr auf ihn, wie er schwankend dastand, die Augen zum Himmel gerichtet, so, als ob von dort Hilfe zu erwarten sei.

      Er mochte eine Weile so dagestanden haben, als seine Gemahlin neben ihn trat –, die jubelnde Menge unter ihnen, die sich auf die kommenden Festtage freute. Sachte legte sie ihre Hand auf seinen Arm und blickte ihn fragend an.

      Das Volk drängte sich in den Gassen, die von Staub und Hitze erfüllt waren. Überall türmten sich Warenberge, Ziegen und Esel, Hühner und anderes Getier liefen zwischen Körben mit Gemüse und Obst umher. Das kommende Fest wurde von jedermann sorgfältig vorbereitet. Den rituellen Reinigungen in den Badehäusern folgten strenge Fastentage, die mit Gebeten und Exerzitien ausgefüllt waren.

      Nun war es an der Zeit, die Vorratskammern für das bevorstehende Fest zu füllen. In jedem Haus gab es die traditionellen Kuchen und Speisen, die nur zu diesem Anlass gebacken und zubereitet wurden. Alles fieberte dem Passahfest entgegen, und mit bunten Wimpeln wurden die Häuser gekennzeichnet, in denen in diesem Jahr ein Kind zur Welt gekommen war. Bei dem großen Gottesdienst wurden alle neugeborenen Kinder mit einem besonderen Segen versehen und damit in die jüdische Glaubensgemeinschaft aufgenommen.

      Die Frauen trugen große Körbe mit den benötigten Lebensmitteln nach Hause. Alles wurde nach strengen Regeln in eigens dafür vorgesehenem Geschirr und Töpfen zubereitet. Die Zeit der faden Fastenspeisen war damit vorbei, und alle freuten sich auf das Beisammensein mit der Familie und dem ausgiebigen Speisen, das dem Besuch der Synagoge folgte.

      Heute schien eine besondere Anspannung in der Luft zu liegen. Die Händler fuhren unwirsch ihre Zöglinge an, die Frauen kreischten und gerieten in Streit, das Vieh blökte unruhig, und einige Adler kreisten über der Stadt. Ein Zeichen, dass etwas Besonderes in der Luft lag.

      Sollte es etwa wieder ein Erdbeben geben?, so fragte sich Miriam. Sie hatte feste Stammkundschaft, die für verschiedenste Zwecke regelmäßig das Öl bei ihr kaufte. Mal waren es Salbungen, die rituell bei Hochzeiten stattfanden, ebenso wie spezielle Öle, mit denen Neugeborene eingerieben wurden. Die Salböle zum Reinigen der Verstorbenen bewahrte sie extra in einem Korb unter dem schlichten Holztisch auf. Sie wollte das Auge der Käufer nicht darauf lenken.

      An diesem Morgen hatte sie schon eine Vielzahl von Käufern bedient und gönnte sich nun einen Schluck aus dem tönernen Wasserkrug und ein Stück Käse mit Brot, das sie in ihrer Tasche bei sich trug. Zu gern wäre sie selbst über den Markt gezogen, um all die Auslagen zu bewundern. Besonders die Goldschmiede erregten ihre Aufmerksamkeit. Der Schmuck, der in kleinen Holzkästchen angeboten wurde, war nach arabischer Art reich mit filigranen Mustern und Emblemen verziert.

      Miriam wusste, dass sich heute Abend viele Gäste im Haus ihres Onkels versammeln würden. Ihr Bruder hatte ihr von der geheimen Zusammenkunft erzählt, die sich im Kreis einer besonderen Bruderschaft abspielte und zu der nur Mitglieder zugegen waren. Sie wusste, dass ihr Onkel seit Jahren Führer dieser Bruderschaft war, doch war ihr niemals zu Ohren gekommen, worum sich ihre regelmäßigen Versammlungen eigentlich drehten. Sie hatte sich niemals Gedanken darüber gemacht, bis eines Tages ein besonderer Gast erwartet wurde, der bei Anbruch der Dunkelheit ungesehen ins Haus geführt wurde und ebenso unbemerkt wieder verschwand. Dieser fremde Gast musste von besonderer Bedeutung sein, und Miriam war neugierig, ob sie ihn wohl heute zu Gesicht bekam. Sie war dazu eingeteilt, beim Austeilen der Speisen zu helfen, und somit würde sie die Versammelten in Augenschein nehmen können.

      „Miriam, träumst du?“, rief die Bäuerin, die neben ihr einen Stand mit wohlriechenden Kräutern aufgebaut hatte. Einige Käuferinnen standen vor ihren Tonkrügen, um über ihren Inhalt zu beratschlagen. Doch Miriam hatte nur in Gedanken versunken vor sich hingestarrt. Nun fuhr sie auf, um die Käuferinnen zu beraten. Verwirrt zog sie ihr Kleid glatt und begann die verschiedenen Öle zu beschreiben.

      Im Amtszimmer des Statthalters hatte sich eine Gruppe hoher Vertreter des jüdischen Rates versammelt. Sie waren abgesandt, um die Feierlichkeiten der kommenden Tage mit dem Statthalter zu besprechen und seine Soldaten