Christine Kolbe

Der andere Jesus


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da Ihr zu wissen scheint, in welcher Lage ich mich befinde, was ratet Ihr mir?“, antwortete er mit bebender Stimme.

      Der Fremde lächelte jedoch nur: „Ich werde Euch Eure Arbeit nicht abnehmen.“

      Damit wandte er sich ab, ohne eine Erwiderung abzuwarten.

      Alle Umstehenden wandten sich ebenfalls zur Tür, um den Aufbruch des Meisters zu begleiten. Mit einem Mal wurde es still in dem Raum, wo der Fremde gerade seinen braunen Umhang umgelegt hatte. Ein seltsames Leuchten erfüllte den Raum. Das Gesicht des Meisters schien von innen her zu strahlen.

      Miriam hatte sich tief vor ihm verbeugt. Sie war auf die Knie gesunken und hatte das Fläschchen mit dem kostbaren Salböl hervorgezogen. Ein Raunen ging durch die Menschen, die den Meister dicht umringten. Dem Prokurator gelang es, einen Blick auf das Geschehen zu werfen. Die junge Frau war niedergekniet, hatte die Füße des Meisters geküsst und dann mit dem Salböl übergossen. Sie rieb den Fuß damit ein, benetzte auch den anderen Fuß und begann, während ihr Tränen über das Gesicht rannen, mit ihrem Haar die Füße des Meisters zu trocknen. Sie schluchzte laut, den Kopf tief gebeugt.

      Der Fremde hatte seine Hand auf ihren Kopf gelegt. Sein Blick ruhte auf der jungen Frau, die ihr Gesicht unter dem üppigen Haar verbarg. Der Meister murmelte einige unverständliche Worte. Leise und sanft klang seine Stimme. Dann nahm er die Hand der jungen Frau, richtete sie auf, und legte eine Hand auf ihre linke Schulter: „Komm mit und folge mir!“, waren die wenigen Worte, die der Prokurator vernahm.

      Die Menge der Menschen murmelte und raunte und der Meister verließ das Haus, im Gefolge seine Begleiter und die junge Frau, deren Gesicht nun leuchtete und strahlte, so wie das Gesicht des Meisters, der vor ihr den Weg entlangschritt.

      Die Gruppe verlor sich in der Dunkelheit, so, wie auch die anderen, die an der Versammlung teilgenommen hatten, sich in alle Richtungen zerstreuten.

      Der Prokurator blieb nachdenklich zurück. Seine Knie gaben nach und er ließ sich auf den nächstbesten Stuhl fallen. Was war mit ihm geschehen? All sein Denken kreiste um diesen charismatischen Fremden, dem nichts verborgen blieb und der jeden Gedanken des anderen kannte. Was für ein Gott hatte sich da inkarniert? Wussten die Juden überhaupt, in welcher Gunst sie standen, dass er in ihrem Volk geboren war, so schoss es ihm durch den Kopf. Am liebsten wäre er aufgesprungen, um dem Fremden zu folgen. Doch etwas hielt ihn zurück und band ihn bleiern an den Stuhl, auf dem er saß.

      Was hatte er damit gemeint, ob er sich ein Bild gemacht habe? War es überhaupt möglich, sich ein schlüssiges Bild zu machen, bevor er die Person überhaupt näher kannte, und wessen hatte er sich schuldig gemacht? Es war kein Vergehen, zu heilen oder zu segnen. Jeder Rabbiner durfte das. Was war es also, das ihn für die Pharisäer so gefährlich machte? Was war an dem sanften, freundlichen Mann so aufrührerisch?, so fragte er sich.

      Sanft berührte ihn eine Hand an der Schulter, und er fuhr erschreckt zusammen. Josef stand neben ihm.

      „Es ist Zeit, mein Freund. Eine Sänfte wartet und wird dich zurück zu deinem Palast bringen. Ich werde dich morgen zur Audienzstunde aufsuchen, um dir meine Pläne zu unterbreiten. Ich denke, du hast genug gesehen, um dir ein Bild zu machen.“

      Schweigend umarmten sie einander, und er wurde zu einer Sänfte geleitet, die für ihn bereit stand. Erschöpft fiel er in den Sitz und schloss die Vorhänge, um unerkannt zu bleiben.

      Wenig später, er hatte jedes Zeitgefühl verloren, erreichten sie den Palast des Prokurators. An der hinteren Pforte war die Tür unverschlossen und er konnte ungesehen in seine Gemächer gelangen. Ein einzelnes Öllicht brannte in seinem Schlafgemach, und er eilte in sein Ankleidezimmer, um sich auszukleiden und zu reinigen. Zu seinem Erstaunen hatte seine Gemahlin auf dem Bett Platz genommen. Sie schien ihn zu erwarten. Ernst blickte sie ihn an. Er wich ihrem forschenden Blick aus und legte seine Gewänder ab, ehe er in das Bassin mit warmem Wasser stieg. Er ließ sich hinabgleiten und schloss die Augen. Die Bilder des eben Erlebten stiegen in ihm auf. Konnte er ihr davon berichten, sie einweihen?, so fragte er sich. Sie war eine gläubige Frau. Jeden Tag wurden die Hausaltäre mit frischen Blumen geschmückt.

      Sie hatte sich auf den Rand des Bassins gekniet und begann seine Schultern zu massieren. Niemand konnte das so wie sie. Ihre Hände waren so erfahren, genau die Muskeln zu bearbeiten, die es so dringend brauchten.

      Ihre Stimme durchschnitt die Stille: „Und, hast du ihn gesehen?“

      Er schnellte herum. Nervös blickte er zu ihr auf. Sein Herz pochte. Zitternd umklammerte er ihre Hände. Ungläubig blickte er auf: „Auch du?,“ flüsterte er. Sein Atem ging stoßweise vor Aufregung. „Dann weißt du um ihn?“

      Sie nickte nur stumm: „Ich wusste, dass auch du eines Tages auf ihn stoßen würdest. Jeder findet ihn auf seine Weise. Es war meine Dienerin, die mir zuerst von ihm erzählte. Sie war zugegen, als er am See Genezareth eine Weile Menschen unterrichtete. Es ging die Kunde um, ein bedeutender Rabbiner sei gekommen, um die Lehre der Juden neu auszulegen und zu reformieren. Sarah ist gläubige Jüdin und hat seinen Belehrungen beigewohnt. Seitdem spricht sie von nichts anderem mehr. Jeden Tag erzählt sie mir von ihm. Sie sprach sogar davon, dass er Wasser in Wein verwandelt habe, als er Gast bei einer Hochzeit in Kanaan war. Ich hielt all dies für ausgemachten Unsinn. Ich dachte, sie sind ja in ihrem Wunderglauben noch schlimmer als die Römer.

      Seitdem bin ich viele Male zugegen gewesen, wenn er in die Stadt kam. Immer geschah etwas Unglaubliches. Ich sah, wie er eine blinde Bettlerin heilte und ein tot geborenes Kind zum Leben erweckte. Ich habe dir nie von all dem erzählt, weil ich glaubte, es würde dich beleidigen, wenn ich zu dem wundersamen Juden ginge. Jedes Mal nahm ich mir vor, dich zu bitten, mich zu begleiten. Doch meine Freunde, die ich unter der Anhängerschaft des Meisters fand, rieten mir davon ab. Sie sagten, wenn es so sein soll, wird sich dein Weg mit dem Seinen kreuzen. Und so ist es jetzt gekommen.

      Sarah berichtete mir, dass sie dich unter den Anwesenden im Hause Josefs gesehen habe. Ich war zutiefst überrascht, aber auch sehr erleichtert. Ich kann nun offen zu dir sprechen. Aber erzähl mir, was hast du gesehen? Hat er wieder geheilt?“

      Nach einigem Zögern begann er die Geschehnisse zu schildern. Sie fuhr erschreckt auf, als sie hörte, was der König und der Hohe Rat von ihm forderten. Bestürzt sprang sie auf. Ihre Augen füllten sich mit Tränen.

      Er war in sich zusammengesunken. Tränen, die schon lange darauf gewartet hatten zu fließen, rannen nun an seinem Gesicht hinab. Schützend umklammerte er seine Gemahlin.

      An ihrem Ohr flüsterte er: „Ich werde es nicht tun, das verspreche ich dir. Ich werde nicht tun, was sie von mir fordern. Ich bin der Prokurator Judäas, und sie haben mir nichts zu befehlen.“ Lange lagen sie sich in den Armen.

      Am kommenden Morgen erwachte er gestärkt und erfrischt. Trotz der Erfahrung des vergangenen Abends war er beruhigt und zuversichtlich, eine Lösung zu finden. Er wartete nervös auf das Eintreffen seines Freundes, der sein Kommen ja angekündigt hatte.

      Er bearbeitete einige Schriftstücke, nahm ein kleines Frühstück zu sich und beäugte jeden seiner Bediensteten so genau, dass sie nervös aufblickten. Jedes Mal fragte er sich, ob auch sie den seltsamen Meister kannten, womöglich dazugehörten? War es bereits eine geheime Gemeinschaft, die sich im Verborgenen gebildet hatte? Das konnte der Grund sein, warum man ihn weg haben wollte, so gingen ihm seine Gedanken durch den Kopf.

      Am späten Vormittag klopfte es leise an die Tür. Ein Diener brachte ein Schreiben, das an ihn persönlich adressiert war. Er brach das Siegel und entrollte die Handschrift. Es war die Schrift Josefs, die er gut genug kannte. Mit zitternden Händen begann er zu lesen. Die Buchstaben waren augenscheinlich in aller Eile aufgezeichnet worden. Manches konnte er kaum entziffern. Den wenigen Zeilen konnte er entnehmen,