Christine Kolbe

Der andere Jesus


Скачать книгу

ohne dass jemand etwas davon erfährt, ohne in Amt und Würden zu sein? Sag, ist es möglich? Es liegt mir sehr viel daran, mir selbst ein Bild von ihm zu machen, bevor ich ihm den Prozess machen muss. Sag, ist es möglich?“

      Eindringlich klang seine Stimme und Josef nickte nur still.

      „Komm heute Abend zu meinem Haus. Komm allein, ohne deine Leibgarde. Ich werde dir meine Söhne schicken, dich zu begleiten. Nimm einen einfachen Umhang und sorge dafür, dass niemand dir folgt.“

      Mit diesen Worten erhoben sie sich, umarmten sich kurz und Josef verließ das Palais mit schnellen Schritten.

      Es war kein Laut zu hören, als er unbemerkt das Haus verließ. Josefs Söhne warteten bereits. Sein dunkler Umhang verbarg auch sein Gesicht und das schlichte Gewand, das er an diesem Abend trug. Er hatte all seinen Schmuck abgelegt und sorgsam darauf geachtet, mit einfachen Sandalen und einem schlichten Stock zur vereinbarten Zeit an der hinteren Pforte zu warten.

      Jetzt, wo es bereits dämmerte, wurde es stiller in den Gassen. Er war überrascht, wie schmutzig und schwül es hier war. Noch nie war er zu Fuß in diesen Teil der Stadt gekommen, wo sich nach Anbruch der Dunkelheit seltsames Volk in die Mauernischen drückte. Es war ihm, als würde er beobachtet, doch seine Begleiter eilten in schnellem Schritt voran, sodass er kaum Zeit hatte, sich umzusehen.

      Als sie in den unteren Teil der Stadt gelangten, war das letzte Licht erloschen und die wenigen Fackeln erleuchteten nur spärlich den Weg. Er war es nicht gewohnt, so lange Strecken zu Fuß zu gehen und sein Atem ging schnell. Schweiß rann ihm von der Stirn. Jedermann, dem sie begegneten, musste den Römer in ihm erkennen mit seinem sorgfältig rasiertem Gesicht.

      Sie erreichten einen kleinen, von Zedern umstandenen Platz. Hier befand sich das Essener-Tor, wo der Weg hinaus aus der Stadt führte, und hier lag das Haus Josefs, das eingerahmt von hohen Mauern direkt an die Stadtmauer angrenzte. Hinter der Mauer lag ein prächtiger Garten, ebenfalls von hohen ausladenden Bäumen überragt. Ein kleiner Weg führte zum Haus, wo schwaches Licht aus den Fensteröffnungen den Vorplatz beleuchtete. Es war in jeder Hinsicht ein bemerkenswertes Haus, ganz schlicht konstruiert, doch mit einer Vielzahl von Besonderheiten ausgestattet. Ein großer ausladender Steintisch flankierte eine prächtige Rosenhecke, die über und über blühte. Duftende Kräuter und breite Rabatten von Lavendel säumten den Weg, der aus kleinen Steinen in einem Muster aus Rauten und Kreisen kunstvoll gestaltet war. Das Haus selbst war von Wein bewachsen, der ein dichtes Blattwerk bildete. Die obere Etage war mit einer Aussparung zu einer Terrasse gestaltet, wo Josef zuweilen Sternenkunde betrieb und den Himmel beobachtete.

      Beim Eintreten bemerkte der Prokurator eine große Versammlung in dem ersten Raum, an dem er vorbeigeführt wurde. Er hatte nicht damit gerechnet, dass so viele Menschen zugegen sein würden. Er schlug die Kapuze seines Umhangs zurück und ließ sich dankbar auf einen Stuhl fallen, der am Eingang des zweiten Raumes stand. Er sah eine Vielzahl von Personen, die hin- und hergingen, und eine spürbare Unruhe breitete sich aus. Er beobachtete all die Menschen, die ihm völlig fremd waren und die er noch nie zuvor zu Gesicht bekommen hatte.

      Seine Hand glitt zu einem Beutel, der gut versteckt unter seinem Gewand an einem Gürtel befestigt war. Er hatte einige Silbermünzen bei sich, die er den Söhnen zum Dank für ihre Führung zu übergeben gedachte. Gerade als er sich erheben wollte, hörte er laute Stimmen, die vom Eingang her zu ihm drangen.

      Er sah seinen Freund Josef, wie er gerade einen groß gewachsenen Mann begrüßte. Er trug ein staubiges Gewand und einen dichten dunklen Bart. Er hatte sein Gesicht noch nicht erkennen können, doch beim Nähertreten war er sich sicher, dass er es sein musste.

      Viele begrüßten ihn, indem sie ihn umarmten. Viele verneigten sich nur scheu vor ihm, bevor er ganz den Raum betreten konnte. Josef steuerte direkt auf den Prokurator zu, der still die Situation beobachtet hatte. Mit dem ersten Blick, den der Fremde auf ihn richtete, ging etwas wie eine Woge von Energie durch seinen Körper. Er bemerkte, wie seine Knie zitterten und sein Herz pochte. Der Blick des Mannes war genauso, wie er es geträumt hatte. Tief und eindringlich, als ob für diesen Blick nichts verborgen bleiben könnte.

      Im nächsten Moment stand Josef vor ihm, um ihm den Fremden vorzustellen. Er verbeugte sich tief und ein Gefühl großer Freude durchwogte ihn. Der Fremde hatte nur kurz seine Hand erhoben, wie, um ihn zu segnen, als es plötzlich still in dem Raum wurde.

      Ein Sessel wurde herbeigeholt, und er ließ sich dort nieder, wo alle Versammelten ihn sehen und hören konnten. Er lächelte still und führte einen Becher zum Mund, den man ihm reichte. Er segnete alle Anwesenden, das Haus und den Gastgeber und begann dann in aramäischer Sprache, die dem Prokurator nicht geläufig war, zu sprechen. Seine Stimme war tief und wohlklingend und alle hingen gebannt an seinen Lippen. Er schien ein Gebet zu singen, in das alle von Zeit zu Zeit einfielen, um einen Refrain mit zu intonieren.

      Ein kleines Mädchen schmiegte sich fest an ihn, um ganz in seiner Nähe zu sein. Josef hatte eine Schale mit Räucherwerk entzündet, der Duft von Kräutern und Sandelholz durchzog den Raum. Der Fremde hatte sein langes lockiges Haar, das tief über seine Schultern fiel, zum Vorschein kommen lassen, als er seinen Umhang ablegte. Er lächelte unentwegt, und Freude und Glückseligkeit machten sich im Raum breit.

      Die Kleine war nun auf seinen Schoß geklettert. Sie hielt ihren linken Fuß hoch, der, es war nun deutlich zu sehen, verkrüppelt war. Er stand schief und verkrümmt ab, sodass sie nur einen Strumpf trug statt einer Sandale. Sie strahlte und herzte den Mann, der nun sanft und leise mit ihr zu sprechen begann. Die Kleine lachte und hörte andächtig zu, als er ihr etwas zu erklären schien. Sie hob abermals den verkrüppelten Fuß und der Fremde umschloss ihn vorsichtig mit seinen Händen. Er sprach währenddessen leise mit dem Kind und strich mit einer Hand sachte über den Fuß. Die Kleine hatte den Blick gesenkt und betrachtete ebenfalls den Fuß, der sich eigentümlich zu strecken begann. Er zuckte und zappelte mit einem Mal, so, als hätte sich eine fremde Kraft seiner bemächtigt.

      Die Kleine stieß einen Schrei hervor, aber es war nicht der Schrei eines Schmerzes, den ihr der Fuß bereitete, sondern den des überraschten Erstaunens. Sie hob und drehte den Fuß und sprang dann auf die Füße, vollführte Freudensprünge und tanzte in der Mitte des Raumes herum. Alle waren verstummt und blickten gebannt auf die Kleine, die Freudentränen weinte und allen stolz ihren geheilten Fuß entgegenstreckte.

      Die Eltern nahmen sie ebenfalls weinend in den Arm. Die Mutter kniete nieder, um dem Meister zu danken, der nur still dasaß und lächelte. Er hielt nun die Hand des Mädchens, das ihn überschwänglich herzte und umarmte. Er segnete die Familie und sagte den Eltern, dass ihre Tochter noch Großes vollbringen werde. Man solle sie in allem unterstützen, was die Kleine zu erlernen beabsichtigte.

      Die Versammelten begannen nun wild zu gestikulieren und ein Stimmengewirr erhob sich, sodass der Prokurator nicht erkennen konnte, was nun vor sich ging. Viele umstanden den Fremden, und als sich der Tumult lichtete, war er verschwunden.

      Die Menschen drängten nach draußen. Der Vater trug stolz die Tochter auf dem Arm, die unablässig auf ihren gesunden Fuß starrte. Alles strömte dorthin, wo ein Tisch mit Speisen angerichtet war. Sie bedeckten den ganzen Tisch. Oliven, Brot, Früchte und ein Gericht aus Linsen und Bohnen, das nur zur Fastenzeit zubereitet wurde. Alle füllten ihre Schalen, nachdem er sie gesegnet hatte. Sie redeten aufgeregt durcheinander und der Fremde stand da, hielt seine Schüssel in den Händen und antwortete auf Fragen, die die Umstehenden an ihn richteten.

      Nach dem Mahl wandte der Fremde, den alle Meister nannten, den Kopf und blickte den Prokurator mit ernster Miene an.

      „Nun, habt Ihr genug gesehen, um Euch ein Bild machen zu können?“

      Pilatus blieb der letzte Bissen beinahe im Halse stecken. Woher kannte er seine Beweggründe und was bezweckte er?

      „Ja“, antwortete er. „Ich habe genug gesehen, um zu bemerken, welche außerordentlichen Fähigkeiten Ihr beherrscht. Könnt Ihr mir ebenfalls helfen, meinen Gesundheitszustand zu verbessern?“ Er verneigte dabei leicht seinen Oberkörper, um seiner Hochachtung Ausdruck zu verleihen.

      Der Fremde antwortete: „Würde dann Euer Urteil milder ausfallen?“

      Der