Christine Kolbe

Der andere Jesus


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      Abdul Ben Massa hatte etwas abseits in einer Ecke des kleinen Raumes Platz genommen. Er hatte alle Anwesenden nur still beobachtet und den Gebeten gelauscht. Jetzt blickte Josef freundlich zu ihm herüber: „Komm doch näher, Fremder, und erzähl uns, wer du bist und was dich zu uns geführt hat.“

      Zögernd verbeugte er sich leicht und stellte sich vor.

      Alle Anwesenden richteten ihre Aufmerksamkeit auf den Fremden, der ihnen trotz allem irgendwie vertraut erschien.

      Abdul Ben Massa begann zu erzählen: „Ich stamme aus einem fernen Land, weit von hier. Ihr würdet es Gallien nennen. Meine Eltern sind vor vielen Jahren dorthin verschleppt worden, und ich bin in diesem Land geboren, dessen Sprache ich auch beherrsche, denn bis zu meinem sechsten Lebensjahr habe ich dort gelebt.

      Dann gelang uns auf mysteriöse Weise die Flucht, denn meine Eltern dienten dort als Sklaven bei einem reichen Kaufmann. Ich selbst musste schon früh den Herrschaften zu Diensten sein und habe bereits als kleines Kind Wasserkrüge geschleppt und im Garten geholfen. Meine Mutter wurde plötzlich sehr krank, und wir alle befürchteten, dass sie sterben würde. Doch die Heilkunst eines Magiers aus einem benachbarten Land ließ sie sehr schnell wieder genesen. In diesem Moment war für mich entschieden, was ich einmal aus meinem Leben machen wollte, und der Mann, der meine Mutter geheilt hatte, eine große, aufrecht stehende Persönlichkeit mit ausdrucksvollem Gesicht, lächelte mich nur an, als verstünde er meine Gedanken zu lesen.

      Er war es auch, der uns zur Flucht verhalf, denn meine Eltern wollten unbedingt noch einmal ihr Heimatland sehen, bevor meine Mutter sterben würde, denn der Fremde sagte uns, dass sie zwar zunächst geheilt sei, aber die Krankheit wiederkommen werde. Ich fragte mich damals, unwissend, wie ich war, wie er das wissen konnte? Heute ist es für mich selbstverständlich, in den Geist eines Menschen einzutauchen und sowohl seine Vergangenheit als auch seine Zukunft zu lesen.“

      „Welche Zukunft hat unser Meister?“, wurde Abdul von Miriam unterbrochen.

      „Ich sehe einen Mann, der ans Kreuz geschlagen wird. Aber er wird die Kreuzigung überleben!“

      Alle starrten Abdul mit weit aufgerissenen Augen und völlig fassungslos an. Maria Magdalena begann leise zu weinen und Simon Petrus wurde wütend. Er begann zu schimpfen und die Römer zu verfluchen.

      „Was, was können wir tun?“, stammelte Josef, der als erster die Fassung wieder zu erlangen schien.

      „Wir können ihm den Schmerz nehmen, indem ihr ihm eine Tinktur verabreicht, die ich eigens für diesen Zweck herstellen kann.“

      „Was ist das für eine Tinktur?“, wollte Judas wissen, der bisher ziemlich teilnahmslos in der Ecke gestanden hatte und still in sich versunken war.

      „Es ist eine besondere Rezeptur, die mir mein Meister anvertraut hat. Sie wirkt sehr schnell und lässt den Einnehmenden in eine Art Rausch fallen, der ihn zwar noch seine Umwelt wahrnehmen lässt, der aber auch dazu führt, dass der körperliche Schmerz größtenteils ausgeschaltet wird.“

      „Wie sollen wir ihm diese Mixtur verabreichen?“, fragte Josef, der keinen Augenblick an den Aussagen des Fremden zweifelte, der über ein so großes Wissen zu verfügen schien.

      „Ich werde es tun!“, meldete sich Karim zu Wort. Er war Gewürzhändler seines Zeichens, hatte aber einige Jahre bei den Essenern verbracht, einem geheimnisumwitterten Orden in der Wüste, der zu vielen Spekulationen anregte. Für die einen handelte es sich um Verrückte, die auf den Weltuntergang warteten, für die anderen galt dieser Orden als Stätte großen Wissens und tiefer, besonderer Kenntnisse, in die auch der Meister eingeweiht worden war.

      Nun schaute Josef Karim an. „Wie willst du das bewerkstelligen?“

      „Lass das nur meine Sorge sein. Ich habe da so meine eigene Vorstellung.“

      Niemand zweifelte daran, denn Karim war dafür bekannt, über besondere Beziehungen zu verfügen, die ihm Wege in die höchsten Kreise ebneten. Er galt als Chamäleon, weil er es verstand, sich stets den Umständen entsprechend zu verwandeln. Mal als Bettler, mal als kluger und erfolgreicher Geschäftsmann, mal als Eingeweihter, der den engsten Schülern Jeheshuas Meditations- und Übungsanleitungen gab. Er stand dem Meister besonders nah, hatte er doch einige Jahre mit ihm gemeinsam bei den Essenern verbracht und war seit seinem öffentlichen Wirken nicht mehr von seiner Seite gewichen.

      Eile war geboten, denn das Passahfest nahte und Pontius Pilatus war bereits, das hatte man aus geheimen Quellen erfahren, dazu aufgefordert worden, das Urteil des Hohen Rates zu bestätigen, das ohne eine Verhandlung wohl schon verhängt worden war, so erzählte Josef weiter. Er verheimlichte jedoch einige Details, weil er wusste, dass diese die Anwesenden zu sehr bestürzen würden.

      Jeheshua lag auf dem kalten Steinboden. Blut rann aus vielen Wunden, die ihm seine Peiniger zugefügt hatten. Er war, nachdem man ihn in den Kerker geworfen hatte, aufs Übelste misshandelt worden. Die Wärter hatten sich einen Spaß daraus gemacht, ihm seine Kleider vom Leib zu reißen, um ihn übel zu beschimpfen und zu bespucken und mit ihren Peitschen zu traktieren. Sie hatten von oberster Stelle die Erlaubnis dazu erhalten, nachdem ein Zwiegespräch zwischen Herodes und dem Gepeinigten ergebnislos verlaufen war.

      Herodes hatte ihn gefragt: „Bist du der König der Juden? Bist du der neue König der Juden?“

      Doch dieser hatte nur geantwortet: „Mein Reich ist nicht von dieser Welt.“

      Der als cholerisch bekannte und deswegen gefürchtete Herodes ohrfeigte ihn daraufhin und ließ ihn erneut auspeitschen. Doch auch nach dieser unmenschlichen Behandlung hatte er keine andere Antwort erhalten.

      Er muss weg – dachte er bei sich –, er muss von der Bildfläche verschwinden. Er hatte die Wachen angewiesen, sich seiner anzunehmen, und die Umstehenden wussten nur zu gut, was das bedeutete. Die meisten überlebten diese Qualen und Folterungen nicht. Aber dieser Mann schien von außerordentlicher körperlicher Widerstandskraft zu sein.

      Jeheshua lag auf der Seite, denn die tiefen Wunden auf seinem Rücken, die die Peitschenhiebe verursacht hatten, erlaubten es ihm nicht, auf dem Rücken zu liegen. Er wandte sich an einen Mitgefangenen und bat ihn um einen Schluck Wasser. Dieser ging zu dem Wachtposten und fragte nach einem Schluck. Doch dieser lehnte lächelnd ab.

      „Soll euer selbsternannter König doch einen seiner Bediensteten schicken!“, antwortete er sarkastisch und lachte dabei lauthals.

      Der Mithäftling, ein stadtbekannter Dieb von großer Statur und nicht das erste Mal in Haft, neigte sich zu dem Gepeinigten und wollte ein paar tröstende Worte sprechen. Doch dieser war schon wieder in eine tiefe Ohnmacht gefallen. Zu stark waren die Schmerzen und der Verlust von Blut, das an seinem ganzen Körper klebte und immer noch in kleinen Bächen aus den tiefen Wunden rann.

      Die Anhänger hatten bis tief in die Nacht zusammengesessen. Sie vertrauten dem Fremden und glaubten seinen Worten. Der Sturm rüttelte an den Pforten, und es war menschenleer in den Gassen. Als die Öllampen heruntergebrannt waren, verließen sie das Haus Karims, wo sie sich getroffen hatten. Zuvor verabredeten sie sich, am kommenden Abend in Josefs Haus zusammenzutreffen.

      Abdul Ben Massa kehrte in seine Herberge zurück. Er spürte die Bedrohung, die auf dem Meister lag, aber er vermochte nicht zu sagen, wie man sie würde abwenden können.

      Am kommenden Morgen sollte Josef beim Prokurator vorstellig werden. Er fand dessen Nachricht vor, als er in sein Haus zurückkehrte.

      Der kommende Tag war grau verhangen. Der Sturm, der den Wüstensand mit sich in die Stadt trug, ließ die Menschen in den Häusern verharren.

      Josef machte sich frühzeitig auf, um mit Pontius Pilatus zu sprechen. Er hatte einige Paragraphen und Gebote ausfindig gemacht, die bestimmten, was den Verurteilten zustand, und ihnen ein zu langes Leiden ersparen konnten. Er wollte seinen Freund bitten, diese Regelungen dem Sanhedrin vorzutragen. So war es möglich, nach Sonnenuntergang den Leichnam vom Kreuz zu nehmen und zu bestatten. Er wollte von diesem Recht Gebrauch machen, wenn es so weit kommen sollte.

      Von Sorgen gebeugt und in tiefer Trauer