Christine Kolbe

Der andere Jesus


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greifen würde.

      Quintus packte sein Schwert, um nach dem Rechten zu sehen, als zwei Wächter, die am anderen Ende des Ganges Dienst taten, auf ihn zugestürzt kamen.

      „Er ist fort“, schrien sie. „Er ist einfach durch die verschlossene Tür gegangen.“ Von allen Seiten hörten sie laute Schreie und Getöse. Die Wächter waren, so schnell sie konnten, herbeigeeilt, um zu sehen, was da vor sich ging. In allen Zellen drängten sich die Gefangenen dicht an die Gittertüren, um einen Blick zu erhaschen.

      Quintus rieb sich gähnend die Augen. Wahrscheinlich war es dieser Wahnsinnige, der diesen Tumult verursachte. Er würde ihn ein wenig zur Raison bringen und sich gleichzeitig diesen Verrückten einmal näher anschauen.

      Er torkelte hinter den anderen her, die enge Treppe nach unten, von wo das lauteste Geschrei ertönte. Die Wärter hieben mit Knüppeln auf die Gefangenen in den Zellen ein, sodass diese entsetzt zurückwichen.

      In der Zelle, wo der Verrückte sein musste, war alles still. Die verdreckten Gestalten knieten auf dem Boden oder kauerten in der Ecke. Keiner von ihnen gab den geringsten Laut von sich. Sie schienen wie gelähmt, völlig abwesend zu sein.

      Er stieß die Tür auf und schrie in die Zelle hinein: „Wer ist der Verrückte aus Nazareth?“ Doch es kam keine Antwort zurück. Die anderen Wächter drängten sich am Eingang. Keiner mochte die Zelle betreten. Sie fürchteten einen Hinterhalt, einen bösen Zauber oder sonst etwas Grauenvolles. Die lähmende Atmosphäre irritierte sie.

      Polternd hielt Quintus auf einen Gefangenen zu, der sich in der Ecke zusammengekauert hatte.

      „Wer bist du?“, schrie er. „Steh auf, wenn ich mit dir rede!“

      Der Mann erhob sich langsam. Die Ketten an seinen Füßen rasselten. Er hob die Hände, wie um bevorstehende Schläge abzuwehren. Quintus versetzte ihm einen Tritt. „Sprich mit mir. Wo ist dieser verdammte Nazarener? Er ist doch hier gewesen!“

      Einer drängte sich vor. „Er war vorhin noch hier. Ich habe ihn gesehen. Er lag am Boden wie die anderen. Es ist ein böser Zauber, der uns verhext. Lass uns gehen.“ Er zerrte Quintus am Ärmel.

      Dieser drehte sich widerwillig um. Er glaubte nicht an Zauber und Hokuspokus und stieß den Gefangenen mit seiner Lanze.

      „Sprich, Elender, wo ist er? Wo habt ihr ihn versteckt?“

      Der Gefangene machte einen Schritt auf Quintus zu und spuckte ihm ins Gesicht. „Er ist weg, einfach weggegangen!“

      Er zog sein Schwert und hieb auf ihn ein. Der Mann strauchelte. Blut strömte aus einer tiefen Kopfverletzung. Es rann in Strömen über eine Gesichtshälfte. Wieder machte er einen Schritt auf ihn zu.

      Quintus wich zurück. Er wollte nicht mit dem Blut besudelt werden. Noch bevor der Mann den Mund öffnete, um ihn erneut anzuspucken, kippte er vornüber und schlug auf den Boden auf, dass er das Knacken des Schädels hören konnte.

      Quintus machte kehrt und schlug die Gittertür hinter sich zu. Die Wärter waren zurückgewichen. Sie durften die Gefangenen quälen und foltern, aber nicht töten. Jedenfalls nicht, solange sie noch auf ihren Prozess warteten.

      Dieser Mann war erst gestern gekommen. Sie hatten Anweisungen, ihn morgen zum Verhör zu bringen. Erst danach wandte man die Folter an. Quintus stieß einen Fluch hervor. Er war wütend auf diesen Nazarener, der den ganzen Spuk angerichtet hatte.

      „Verteilt euch, sucht alle Gänge ab. Er muss noch hier sein!“ Keuchend rannte er durch die Gefängnisgänge. Irgendwo musste dieser Wahnsinnige sein. Er würde ihn zur Strecke bringen, nahm er sich vor.

      Der Präfekt, dem sämtliche Wachoffiziere des Gefängnisses unterstellt waren, war außer sich vor Wut. Er stieß den Stuhl zurück und ließ sämtliche Wachmänner im Hof antreten. Sie hatten alle Vorkehrungen getroffen, und doch war er ihnen entkommen. Er glaubte zutiefst, dass die Wächter gegen ein ordentliches Bestechungsgeld die Tür zu schließen vergaßen. Jeden von ihnen wollte er persönlich verhören, und Gnade dem, der es gewesen war.

      Er würde sofort selbst in der stinkendsten Zelle landen, um dort auf immer sein Leben zu fristen.

      Er lachte höhnisch auf, als er die Geschichte der Wächter hörte, er sei durch geschlossene Türen gegangen. Seine Wut und sein Zorn steigerten sich ins Unermessliche.

      „Ihr armen Würmer“, schrie er. „Ihr glaubt wohl, mir solch ein übles Lügengespinst vortragen zu können. Dafür sollt ihr alle ausnahmslos eure Strafe bekommen. Führt sie ab, legt sie in Ketten und lasst sie auspeitschen, bis ich die Schuldigen finde.“

      Soldaten packten die Wächter und schleppten sie in die Zellen, in denen die Schwerverbrecher und Mörder saßen. Sollten die sich an ihnen gütlich tun.

      Quintus schrie auf. Der Soldat, der ihm die Hände in Ketten legte, trat mit den Füßen auf seine Handgelenke. Knochen knirschten, Fingerknöchel brachen. In der düsteren Zelle brach Gejohle und Gelächter aus.

      Sie kamen zu fünft auf ihn zu und packten ihn an den Ketten, die er an Händen und Füßen trug. Einer von ihnen legte ihm eine Kette hinterrücks um den Hals. Er fühlte, wie ihm schwarz vor Augen wurde. Es schnürte ihm die Luft ab, während die anderen in seine Magengrube schlugen und ihn mit Füßen traten. Nachdem er halb bewusstlos am Boden lag, schrie einer von ihnen: „Lasst ihn leben, damit wir noch eine Weile Spaß mit ihm haben.“

      Sie hatten seine Hände auf den Rücken gedreht und die Ketten so ineinander geschlungen, dass er sich nicht mehr rühren konnte. Bäuchlings lag er in Kot und Unrat, mit dem Gesicht nach unten.

      Pontius Pilatus hörte erst von dem Vorfall, als bereits alle in der Stadt die Geschichte verbreiteten. Herodes' Präfekt hatte sich nicht die Mühe gemacht, ihn zu unterrichten. Wieder einmal ein offener Affront, so dachte er bei sich.

      Eilig ließ er sich ankleiden und in einer Sänfte durch die Straßen von Jerusalem tragen. Er musste mit Josef sprechen. Sie hatten ein altes Kloster am Rande der Stadt ausgesucht, um mit den übrigen, die zum inneren Kreis gehörten, über diese neue Situation zu beraten. Alle Welt war nun davon überzeugt, dass es sich um den Messias handelte. Wer so etwas vermochte, war entweder ein Zauberer oder der Auserwählte.

      Das schlichte Gebäude, das einstmals eine kleine Bruderschaft beherbergte, lag am Fuße des Berges versteckt hinter hohen Mauern und war nur über steinige Wege zu erreichen. Sie hatten diesen Ort gewählt, weil sich nur selten jemand hier heraus verirrte. Allenfalls kamen Ziegenhirten mit ihren Tieren hierher, wo außer Staub, Disteln und Steinen nichts war, nur glühende Hitze bei Tage und eisige Kälte in der Nacht.

      Miriam hatte über dem Feuer in der geräumigen Halle einen großen Topf Suppe bereitet. Einige Brotlaibe stapelten sich auf dem blanken Holztisch.

      Der letzte Bruder dieser Gemeinschaft, ein Greis von über achtzig Jahren, lebte hier sein Einsiedlerleben.

      Was niemand von draußen sehen konnte, war ein üppiger, wilder Garten, in dem blühende Sträucher, ausladende Feigenbäume und wilde Kräuter wucherten. Der Alte versorgte noch einen kleinen Gemüsegarten, der dank der sprudelnden Quelle im Zentrum des Hofes üppig gedieh.

      Sie hatten unter der großen Feige einige Tische zusammengerückt. Die Kunde von seinem Verschwinden hatte sie alle in helle Aufregung versetzt. Auch jetzt noch herrschte diese freudige und erleichterte Stimmung, die alle ergriffen hatte, nachdem sie von dem Ereignis erfahren hatten.

      Simon Petrus hatte sich im Schatten nahe dem Brunnen niedergelassen. Seine Gedanken schweiften umher. Vor seinem inneren Auge ließ er alle Orte Revue passieren, an denen sie in den letzten Monaten gewesen waren. Noch niemand hatte den Meister zu Gesicht bekommen und alle erwarteten, ihm bald zu begegnen, ihn wiederzusehen.

      Wo mochte er in diesem Augenblick sein? War er wirklich entflohen oder war es eine trickreiche Geste des Sanhedrin, ihn für immer einfach verschwinden zu lassen? Hatten sie ihn hinter den Palastmauern schon ermordet?

      Seine Anspannung war mit der Nachricht keineswegs von ihm gewichen. Vielmehr wuchs seine Sorge, wenngleich