Christine Kolbe

Der andere Jesus


Скачать книгу

schon ein frühes Mahl gerichtet wurde.

      Sheila, seine Frau, stand am Feuer und briet Brotfladen, die den Raum mit einem köstlichen Duft füllten. Erleichtert ließ Judas sich auf einen Schemel fallen.

      In kurzen abgehackten Sätzen erzählte er von der Versammlung, ohne jedoch zu erwähnen, wo sie zusammengetroffen waren. Seine Freunde hatten oft aufmerksam zugehört, wenn er von dem wundersamen Nazarener erzählte. Doch hatten sie nie so recht Zutrauen zu seinen Schilderungen. Zu seltsam waren seine Lehren und Heilungen. Aaron war ein Mann der Tat. Solange niemand kam, um handfest etwas gegen die römische Besatzung zu unternehmen, war er nicht bereit, einem dieser Wundertätigen zu folgen. Er hielt Judas insgeheim für zu gutgläubig. Er ließ sich schnell etwas vormachen, so lautete sein Urteil.

      Sie speisten miteinander, und allmählich wich die Angst von Judas. Hier im Haus seines Freundes fühlte er sich geborgen. Seine Gedanken kreisten nur um den Meister und seine Wiederkehr.

      Unruhig verließ er am Nachmittag das Haus seines Freundes. Er hatte Informanten, die auch für Herodes arbeiteten. Von ihnen erfuhr er stets eher als andere die neuesten Ereignisse.

      Einer von ihnen saß oft am Brunnen in der Nähe des Essener-Tors. Heute war sein Platz jedoch leer. Judas durchstrich noch einige Gassen, ehe er zum Brunnen zurückkehrte. Seine Nervosität und Unruhe wuchsen zusehends, da niemand von den Spitzeln an seinem gewohnten Platz zu finden war.

      Er beobachtete eine Weile gedankenverloren die Frauen, die Wasser schöpften, als ihm ein Mann auffiel, der mit langsamen Schritten näherkam. Er kniff die Augen zusammen, um im hellen Sonnenlicht besser sehen zu können. Von Ferne erinnerte ihn die Gestalt an seinen Meister. Groß, schlank, mit herabfallendem Haar und dunkelbraunem Gewand. Er rieb sich die Augen und war sich nun sicher: Es war der Meister.

      Von unbändiger Freude erfüllt sprang er auf, um dem Meister entgegenzugehen. Er rannte los, ohne auf die Menschen zu achten, die ihm im Wege standen. Krüge krachten zu Boden, Frauengeschrei erhob sich, er fasste Arme von zu Boden Gefallenen, um ihnen aufzuhelfen, und hastete vorwärts in die Gasse, aus der er ihn hatte kommen sehen.

      Doch als er die Stelle erreichte, wo der Meister eben noch gestanden hatte, lag die Gasse nun menschenleer. Nur eine Katze strich die Mauern entlang, in die schräg nur ein schmaler Streifen Sonnenlicht fiel.

      Der Prokurator saß in seinem Amtszimmer. Vor ihm standen zwei Männer, die, von den Soldaten aufgegriffen, ihm nun vorgeführt wurden. Beide predigten und der eine von ihnen hatte Menschen im Jordan einer heiligen Zeremonie unterzogen.

      Der Prokurator atmete schwer. Er war allmählich dieser verworrenen und bedrückenden Situation nicht mehr gewachsen. Er betrachtete die Männer genauer, die still und ernst blickend vor ihm standen. Der eine, groß mit dunklem Haar und dunklen Augen, blickte ihn tiefgründig an, ohne mit dem Blick abzuschweifen. Eine stolze Würde ging von ihm aus. Ähnlich wie bei Jeheshua umspielte ein leises Lächeln seinen Mund, wenngleich die Augen, tief im Schatten des üppigen Haares, ernst und angespannt wirkten.

      Der andere, etwas kleiner und von hagerer Statur, hatte ein feines Wollgewand an und sein Haar war glatt und von hellerer Farbe. Seine Züge ähnelten denen einer Frau durch zarte Linien, strahlende Augen und einen geschwungenen Mund mit vollen Lippen.

      Von beiden wurde behauptet, sie könnten Wunderdinge vollbringen wie Kranke heilen, Lahme gehend machen und Taube hörend.

      Pontius Pilatus rieb sich den Kopf. Wie sollte er mit diesen Männern verfahren? Der eine von ihnen, der Größere, behauptete, der Auserwählte zu sein, von Gott berufen zu predigen. Der andere behauptete nicht der Auserwählte zu sein, aber er widersprach nicht, wenn man ihn fragte, ob er Gottes Sohn sei. Was mochte dieser jüdische Gott im Schilde führen, so viele Auserwählte auszusenden?, so fragte er sich.

      Eine Weile standen die Männer wachsam blickend vor ihm. Welche Zauberkraft mochte ihnen innewohnen? Sollte er lieber die Wachen rufen oder sie einzeln vernehmen?

      Durch ein lautes Pochen wurde er aus seinen Gedanken aufgeschreckt. Sein Freund Josef betrat den Raum. Er hatte ihn rufen lassen, um sich mit ihm zu beraten und zu erfahren, ob Jeheshua zu seinen Anhängern zurückgekehrt sei.

      Josef wirkte erschöpft und angespannt. Neugierig blickte er auf die Männer, die er nicht kannte, die aber sein Interesse erregten. Der Größere von ihnen sah dem Meister zum Verwechseln ähnlich. Die Ausstrahlung und seine Haltung erinnerten ihn daran, wie der Meister oft so still dagestanden hatte, wenn wieder einmal alle durcheinanderredeten, bevor er mit seinen Unterweisungen fortfahren konnte. Er könnte ein Bruder sein, schoss es ihm durch den Kopf.

      Pontius Pilatus gab dem wachhabenden Tribun ein Zeichen, die Männer abzuführen. Er hatte Anweisung gegeben, sie sorgsam zu behandeln und mit Nahrung zu versorgen. Hier in seinem Palast sollten sie vorerst untergebracht werden, denn schließlich hatten sie sich nach römischem Recht nichts zu Schulden kommen lassen.

      Josef ließ sich erleichtert in einen Sessel fallen. Sie hatten bis zum Morgen gewacht und gebetet, aber der Meister war nicht erschienen. Maria Magdalena war später in ihr Haus zurückgekehrt, Simon und ihr Bruder Lazarus hatten sie begleitet. Karim, der Gewürzhändler, hatte alle seine Freunde und Verwandten ausgesandt, um zu erfahren, ob der Sanhedrin schon eine Spur von Jeheshua verfolgte. Jetzt, wo er selbst ausgeschlossen war und nicht mehr an den Versammlungen teilnahm, kannte er die internen Entscheidungen nicht. Er hoffte inständig, dass sie ihn nicht wieder ergreifen würden.

      Neugierig beugte er sich vor, nachdem er geendet hatte: „Und was hast du mir zu berichten?“

      Pontius Pilatus machte eine ausladende Geste: „Nun, im Grunde nichts Neues außer diesen zwei Männern, die man auf der Suche nach dem Entflohenen verhaftet hat. Beide behaupten, von Gott gesandt und dazu auserwählt zu sein zu predigen.

      Der eine von ihnen taufte Menschen im Jordan. Man hat ihn angetroffen, als Hunderte am Ufer standen, um ebenfalls seinen Segen zu erhalten. Der andere hat in Samaria Kranke geheilt. Sag, kennst du die Männer, gehören sie zu eurem inneren Kreis?“

      Josef schüttelte stumm den Kopf. Er hatte schon gehört, dass es zwei Männer gab, die predigten und herumwanderten, wie ihr Meister es tat, aber er hatte sie nie zu Gesicht bekommen.

      Forschend blickte er den Prokurator an: „Was gedenkst du mit ihnen zu tun?“

      Der ganze Palast erbebte für einen kurzen Augenblick. Die Männer warfen einander erschrockene Blicke zu. Eine Vase war polternd zu Boden gefallen. Es gab zuweilen leichte Erdbeben, doch dieser Erdstoß war sehr heftig gewesen, und mit bangen Blicken überflogen sie Decken und Wände, ob Risse oder Spalten in den Mauern zu sehen waren.

      Josef umklammerte seinen Sessel. Schwäche befiel ihn. Die Sorge und Anspannung wurden ihm jetzt erst so richtig bewusst. Jeden Moment konnten sie den Meister ergreifen und verurteilen, bevor er auch nur die geringste Maßnahme zu seiner Rettung ergreifen konnte.

      Die gesamte Situation musste schnell zu einem Ende geführt werden, bevor das Schlimmste geschah.

      Sie blickten einander stumm an. Es war, als hätten sie die gleichen Gedanken, ohne es auszusprechen.

      Josef begann als erster: „Wer sind die Männer, die du da festhältst? Wessen haben sie sich schuldig gemacht?“

      Pontius Pilatus rieb sich die Hände. Es war ihm unangenehm, zugeben zu müssen, dass er sie längst auf freien Fuß hätte setzen müssen.

      „Nun, sie sind Prediger, eher unbedeutend.“ Er erzählte das Wenige, was er wusste.

      Es gab in diesen Tagen viele, die öffentlich predigten und diskutierten.

      Josef beugte sich vor. „Was denkst du? Wird einer von ihnen bereit sein, die Prophezeiung zu erfüllen, nach der alle lechzen?“

      Der Prokurator schüttelte den Kopf. Ungläubig blickte er Josef an: „Was willst du damit sagen, mein Freund?“

      Josef vergrub die Stirn in seinen Händen. Zu absurd war sein Gedanke, ein anderer könne die Stelle des Meisters einnehmen. Es war eine kühne Idee, noch dazu, wo ein völlig Unschuldiger, Unbeteiligter,