Christine Kolbe

Der andere Jesus


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niederließen.

      Pontius Pilatus hatte einige Schriftstücke verfasst, worin er den Sanhedrin bat, den Gefangenen den römischen Gerichten auszuliefern. Immerhin konnten Aufrührertum und unerlaubtes öffentliches Auftreten auch vor dem Prokurator und der römischen Aufsichtsbehörde verhandelt werden. Er glaubte nicht recht daran, dass dies möglich wäre, aber es war einen Versuch wert.

      Josef hatte still und mit ernstem Gesicht den Ausführungen des Freundes gelauscht: „Was, wenn sie es nicht tun?“, antwortete er. Sein Kopf war auf seine Arme gestützt, so, als wäre dieser zu schwer für ihn geworden.

      Pontius Pilatus schüttelte zögernd den Kopf: „Nun, ich weiß es nicht, Josef. Wenn sie mich nicht eingreifen lassen, wird er schon bald verurteilt. Was das bedeutet, weißt du. Noch nie haben wir jemanden davor retten können, selbst wenn der Anlass zur Verurteilung noch so nichtig war. Sie werden ein großes Spektakel daraus machen, um ihre Macht zu demonstrieren. Ich werde als letzte Instanz in dem Prozess zugegen sein. Bitte die Götter, dass sie mir mehr Handlungsspielraum einräumen und ihn meinem Gefängnis überstellen. Ich werde noch heute das Schriftstück überbringen lassen. Wenn ich erst allein Verfügungsgewalt habe, können wir den Prozess nach unseren Wünschen lenken.“

      Josef schüttelte ungläubig den Kopf. „Ich kann nicht glauben, dass sie dem zustimmen. Wir müssen einen anderen Weg finden, um ihn zu retten.“

      Mit wenigen Worten schilderte er die Ausführungen des fremden Magiers, der am vergangenen Abend seine Hilfe erboten hatte. Er erwähnte die Tinktur, die, richtig angewandt, den Körper schmerzfrei machen konnte.

      Pontius Pilatus dachte einen Augenblick lang nach. Wie sollte das vonstattengehen? Wer konnte gefahrlos die Gefängnismauern betreten? Er wusste, es war nur in Ausnahmefällen erlaubt, Angehörigen den Weg in die Zellen zu öffnen, und das auch nur, wenn die Gefahr bestand, dass der Inhaftierte zu sterben drohte.

      Sie redeten noch einige Stunden, bis ein Plan herangereift war, der gelingen konnte.

      Noch am Nachmittag desselben Tages machte sich die Gemahlin des Prokurators in Begleitung ihrer Dienerin und zweier Soldaten auf den Weg zum Gefängnis. Sie trugen Körbe mit Wein, Brot und Früchten bei sich, ferner etwas Öl, um heilende Verbände anzulegen. Man wusste, dass die Inhaftierten oftmals bis zur Bewusstlosigkeit gepeinigt wurden.

      Die Anordnung des Prokurators, seiner Gemahlin Einlass zu gewähren, sollte befolgt werden, und so stand sie einige Zeit später in den dunklen Gängen, die zu den Zellen führten. Der Gestank, der ihr hier entgegenschlug, war betäubend. Sie drückte ihren Schleier fest vor das Gesicht.

      In einigen Zellen konnte sie im Halbdunkel zerlumpte Gestalten erkennen. Sie lagen oder hockten auf dem von Unrat übersäten Steinboden. Sie reichte in die Zellen, die sie passierten, einige Brotlaibe, die mit gierigen Händen ergriffen wurden. Tränen rannen über ihr Gesicht. Die Soldaten, die sie begleiteten, mussten erst den Gang von Unrat und Schmutz befreien, bevor sie ihren Weg fortsetzen konnte.

      Jedes Mal war es dasselbe Bild. Die Zellen waren vollgestopft mit Menschen, die an Händen oder Füßen Ketten trugen. Nach einiger Zeit hatten sich ihre Augen an die Dunkelheit gewöhnt. Sie stiegen in tiefere Gefängniskeller, die über enge Treppen, mit Schmutz bedeckt, zu erreichen waren.

      Beinahe wollte sie aufgeben, die Zelle des Meisters zu finden, als ein alter, zahnloser Mann sie heranwinkte. Die vor Schmutz starrenden Hände wiesen auf den am Boden liegenden Gefangenen. Sie erkannte sofort den Meister. Er war bewusstlos oder in tiefem Schlaf. Jedenfalls bewegte er sich nicht. Sein Körper war über und über mit Wundmalen bedeckt.

      Übelkeit stieg in ihr hoch. Sie wies den Wärter an, die Gittertür zu öffnen, was dieser widerwillig befolgte. Sie gab den Mitgefangenen Brotlaibe und Früchte.

      Sarah hob vorsichtig das Haupt des Meisters. Sein Blick war gebrochen, seine Lider flackerten. Sie entrollten einige Tücher, legten ihn vorsichtig darauf und begannen seine Wunden mit Öl zu reinigen. Nur einmal blickte er kurz auf, stöhnend hob er die Hand, ehe er wieder bewusstlos wurde.

      Sie flößten ihm einige Schlucke Wasser ein und bedeckten ihn mit Tüchern, bevor sie die Zelle wieder verließen.

      Tränenüberströmt eilten sie durch die engen Gänge, in denen der Gestank ihnen fast die Sinne raubte.

      „Er lebt noch!“, flüsterte sie, wie um sich selbst zu beruhigen.

      Der Wachmann schloss hinter ihnen die Pforte, in die nur eine kleine Öffnung eingelassen war. Krachend fiel die Tür hinter ihnen zu.

      Auf dem Vorplatz waren nur wenige Menschen, vollkommen verhüllt, um die staubige Luft nicht einatmen zu müssen. Eilig kehrte sie in den Palast zurück, um ihrem Gemahl alles zu berichten. Ihre Knie zitterten und Schwäche befiel sie, als sie das Palais erreichten. Der Anblick des Gefängnisses war zu viel für sie gewesen.

      Dunkle Wolken hingen tief am Himmel, als die Gemeinschaft sich an diesem Abend zusammenfand. Die kleine Halle im Hause Josefs war hell erleuchtet. Alle hatten um den großen Tisch Platz gefunden, an dem der Meister noch vor kurzem die Speisen gesegnet hatte.

      Sarah hatte vor Aufregung glänzende Augen. Sie wolle den Versammelten von dem Besuch im Gefängnis berichten. Schon am Nachmittag hatte sie Josef aufgesucht, um ihn ins Bild zu setzen. Nun, da sie den anderen davon berichten sollte, war ihre Kehle wie zugeschnürt. Die Bilder und Eindrücke des im Gefängnis Erlebten ließen Tränen aufsteigen. Mit ganzer Kraft rief sie sich zur Ordnung, um mit zitternder tränenerstickter Stimme ihren Besuch mit ihrer Herrin im Gefängnis zu schildern.

      Nachdem sie geendet hatte, stand Simon Petrus abrupt auf. Er schleuderte seinen Stuhl zur Seite, mit dem Gesicht zur Wand hämmerte er mit den Fäusten auf die rohen Steine. Seine Verbitterung und Wut waren grenzenlos.

      Josef stand nun hinter ihm. Er legte beschwichtigend seine Hand auf Simons Schulter:

      „Bedenke, was der Meister dir in diesem Moment sagen würde“, flüsterte er.

      Stumm ließ Simon sich zurück an den Tisch führen. Er war bereit, sich ebenfalls einkerkern zu lassen, nur um dem Meister nahe zu sein. Alle Versammelten waren starr vor Schreck. Was sollte es nutzen, wenn noch einer von ihnen den Folterern zum Opfer fiel? Was konnte er im Gefängnis ausrichten? War es nicht viel besser, auf dem gleichen Weg, den Sarah gegangen war, erneut ins Gefängnis zu gelangen? Alle versuchten, Fluchtmöglichkeiten zu entwickeln, als der Fremde, der auch heute der Versammlung beiwohnte, sich zu Wort meldete.

      Mit unbewegter Miene bat er um Ruhe: „Ich habe eine starke Energie wahrgenommen, die sich hier im Raum befindet.“

      Er hatte seine Augen geschlossen und konzentrierte seine inneren Sinne auf eine helle Gestalt, die mitten unter ihnen wahrzunehmen war. Es war der Meister in seinem Geistkörper. Starke Schmerzen ließen seine Züge verschwimmen, aber seine Präsenz war so stark, dass nun auch Maria Magdalena ihn wahrnehmen konnte.

      „Er ist da!“, schrie sie. „Seht doch, er steht hier mitten unter uns!“

      Alle wirbelten herum, um an die Stelle zu blicken, auf die sie mit ihrer Hand deutete.

      Der Meister hatte einen hellen Lichtschein im Raum entstehen lassen. Besonders um sein Haupt schien er sichtlich stärker zu leuchten. Simon fiel auf die Knie: „Meister“, schluchzte er, „wie können wir dir helfen?“

      Der Meister legte segnend die Hand auf sein Haupt: „Simon“, flüsterte er, „ich möchte, dass du die Gruppe anführst. Du sollst die Unterweisungen fortführen. Ich werde nicht mehr lange unter euch sein.“

      Mit diesen Worten verschwand die Lichtgestalt ebenso plötzlich, wie sie gekommen war. Maria Magdalena schluchzte laut auf. Was bedeutete es, wenn er sagte, er sei nicht mehr lange unter ihnen? Sie wollte das eben Gehörte nicht begreifen. Er durfte sie nicht verlassen. Es war undenkbar, ohne ihn zu sein. Sie war weinend in sich zusammengesunken.

      Auch