Christine Kolbe

Der andere Jesus


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vor dem heiligen Bezirk von der Tempelpolizei festgenommen worden, als er dort sein Morgengebet verrichten wollte. Die Anklage lautete offenbar auf Verletzung heiliger Gebote, der Gesetze der Thora und Aufrührertum. Er hatte vor einer großen Menschenmenge Gebete angestimmt, und dies sei unzulässig und allein den Priestern vorbehalten. Er war im Kerker des Herodes inhaftiert worden.

      Bestürzt legte er das Schriftstück nieder. Nun war das geschehen, was er um jeden Preis hatte verhindern wollen.

      Wenn es um religiöse Verstöße ging, konnte der Hohe Rat selbst Inhaftierungen und Verurteilungen vornehmen. Er musste bei schweren Strafen jedoch seine Zustimmung geben und das Urteil bestätigen. Bisher hatte er erst einmal diese Bestätigung verweigert, weil er das Urteil als unbotmäßig hoch empfand. Daraufhin wurde mit einem Aufstand gedroht, der ihn seinen Posten hätte kosten können. Man wusste, dass er um jeden Preis eine Eskalation würde vermeiden müssen, denn die römischen Soldaten würden nicht lange einer aufständischen Bevölkerung standhalten.

      In diesem Fall war er nun machtlos. Er konnte in solchen Angelegenheiten nicht allein entscheiden, ihm waren die Hände gebunden. Eilig warf er einige Zeilen auf einen Bogen Papier, worin er Josef bat, so schnell wie möglich bei ihm vorstellig zu werden. Ein Bote sollte das Papier sofort zum Hause Josefs bringen und es ihm persönlich übergeben. Josef war Mitglied des Hohen Rates. Er musste einen Ausweg finden.

      Abdul Ben Massa hatte gute Geschäfte gemacht. Jemand hatte ihm angeboten, in seinem Haus zu wohnen. Seine kleine Tochter, gerade zehn Monate alt, litt an gefährlichem Durchfall. Das Kind war schon so geschwächt, dass es kaum reagierte. Der Mann hatte Abdul gebeten zu helfen. Dafür sollte er eine Unterkunft und Verpflegung von ihm erhalten. Er hatte dankend abgelehnt, da es ihm nicht behagte, so dicht mit fremden Menschen zusammenzuleben. Doch das üppige Mittagsmahl hatte er gern angenommen.

      Der Tisch war mit Tonschüsseln und länglichen Tontellern gedeckt, auf denen verschiedene Speisen angerichtet waren wie gekochtes Gemüse, geschmortes Fleisch, Joghurt und ein Krug Wein.

      Abdul hatte dem Mädchen etwas von einer Kräutertinktur eingegeben, die er schon oft bei Erkrankungen dieser Art erfolgreich eingesetzt hatte. Er gab der Mutter noch ein Fläschchen davon, bevor er sich nach dem Mahl von seinen Gastgebern verabschiedete.

      Er überquerte den großen Platz und steuerte auf eine kleine Taverne zu, als er laute Stimmen und Pferdegetrappel hörte. Instinktiv bog er in eine der kleineren Gassen ab, denn nur römische Soldaten patrouillierten zu Pferde in der Stadt. Über einige Umwege erreichte er die Herberge, wo er sich auf der von Wein überrankten Terrasse an einem der einfachen Holztische niederließ.

      Wieder spürte er diese Anspannung, diese Nervosität, die ihm schon am Abend zuvor aufgefallen war. Es herrschte eine Atmosphäre der Aggressivität. So stark hatte er sie noch niemals wahrgenommen. Immer da, wo viele Menschen beieinander leben, kam es zu solchen geballten Energien. Doch dieses Mal, das spürte er ganz deutlich, lag etwas anderes in der Luft. Eine Atmosphäre, die etwas ankündigte, wie etwa ein schweres Gewitter oder ein Erdbeben. Aber auch das spürte er ganz deutlich, es war keines von beidem. Er schloss die Augen, um sich stärker auf die Empfindung zu konzentrieren. Ja, es lag etwas in der Luft. Ein Ereignis von großer Bedeutung, eher bedrückend als erfreulich.

      Er griff nach seinem Becher, den der Wirt der Herberge ihm bereitgestellt hatte. Der Tonkrug war mit frischem, kühlem Wasser gefüllt, das ihm in der schwülen Wärme, die in den Gassen stand, guttat.

      Ein Fremder betrat die Terrasse. Von seinem Gewand her ein Mann aus dem Norden, wo man diese grob gewebten Wollgewänder trug. Sein geschnitzter Stab war der eines Hirten, doch sein Gebaren deutete eher darauf hin, dass er mit seinen Händen arbeitete. Abdul betrachtete eher abwesend den Fremden, der ebenfalls gierig seinen Becher leerte. Sein Gesicht sah sorgenvoll und angespannt aus. Was mochte den Mann bedrücken?, so fragte er sich.

      Er nickte ihm freundlich zu, und der Fremde maß ihn mit einem forschenden Blick, in dem eher Misstrauen als Freundlichkeit lag. In diesen Zeiten, in denen so viele Menschen die Stadt bevölkerten, mochten auch viele Gauner unter ihnen sein, und ein gewisses Maß an Misstrauen war wohl angebracht.

      Dieser Mann jedoch strahlte Angst und Sorge aus. Eine Weile beobachteten sie einander, dann erhob sich der Fremde und stellte sich vor. Er war Fischer aus dem Galil. Sein Dorf lag direkt am See Genezareth und er war mit Freunden in die Stadt gekommen. Einer von ihnen sei jedoch am Morgen unter völlig fragwürdigen Umständen verhaftet worden. Sorge und Trauer lagen in seiner Miene. Es tat ihm gut, mit jemandem zu sprechen. Abdul legte seine Hand auf seinen Arm, um ihm ein wenig Zuspruch zu leisten.

      „Vielleicht ist er morgen schon wieder frei. An Tagen wie diesen wird schnell in den Kerker geworfen, um Ruhe in der Stadt zu bewahren.“

      Doch der Fischer schüttelte nur stumm den Kopf. „Sie haben ihn mitgenommen.“

      Mit einer Woge der Trauer erzählte der Fischer von dem Meister und von seinen Bedenken, er könne womöglich für immer von ihnen genommen werden. Er schluchzte in die aufgestützten Hände.

      Abdul Ben Massa begriff, dass dieser Meister etwas Besonderes sein musste. Er versuchte den Mann zu beruhigen, und als der Abend heraufkam, hatte der Fischer ihm so viel von seinem Meister erzählt, dass er beschloss, ihm zu helfen.

      Im Schutz der Dunkelheit machten sie sich auf den Weg zum Kerker des Herodes, der von dicken Mauern umgeben in dem nördlichen Teil der Stadt lag. Der Fischer wusste nicht genau, ob sie ihn dorthin gebracht hatten. Er hatte nur Stimmen gehört, die von diesem Kerker sprachen, und darum vermutete er, dass der Meister sich hier befinden müsse. Abdul Ben Massa schloss die Augen und vertiefte sich einen Moment. Er tastete in Gedanken das Gebäude ab, das schwer und drohend vor ihnen lag. Er spürte Leid, Schmerzen und Schmach. Der stechende Geruch von fauligem Fleisch und Exkrementen schlug ihm entgegen. Doch schon bald konnte er eine helle Lichtquelle wahrnehmen, stark, rein und liebevoll. Ja, das musste der Meister des Fremden sein, so, wie er ihn geschildert hatte.

      Abdul hatte den starken Wunsch, diesen Meister kennen zu lernen. Er holte einige Münzen aus seinem Beutel und trat zu der Wache, die ein gewaltiges Tor bewachte. Er sprach leise mit dem Mann und erfuhr für eine kleine Gegenleistung, dass man heute einen Verrückten eingesperrt habe, von dem alle behaupteten, er sei der Messias.

      Ein zahnloses Grinsen begleitete seine Ausführungen. „Sie werden ihm wohl den Garaus machen, ihr werdet schon sehen. So, wie sie ihn behandelt haben, wird nicht viel von ihm übrig bleiben.“

      Abscheu stieg in Abdul auf. Er wandte sich ab, um dem Fischer zu berichten, was er erfahren hatte. Simon, so hieß der Fischer, hatte Vertrauen zu Abdul gefasst.

      „Komm mit heute Abend zu einer der Versammlungen, wo wir uns treffen“, zischte er leise.

      Eine heftige Windböe wirbelte den Staub auf, der sich auf dem Platz angesammelt hatte. Die Fensterläden waren dicht verschlossen, und im Inneren des Hauses hatte sich eine kleine Gruppe von Menschen versammelt, die zum engsten Kreis des Meisters gehörten. Judas, Karim, Nikodemus, Sarah, Maria Magdalena und Simon Petrus, der den Fremden mitgebracht hatte.

      Bedrücktes Schweigen herrschte in dem Augenblick, in dem sie sich zusammengefunden hatten. Mit ernsten, tief besorgten Gesichtern saßen sie da, um Brot und Wein miteinander zu teilen, so, wie es der Meister stets tat. Nach den Gebeten hatten sie sich an den Händen gehalten, um gedanklich zu ihrem Meister zu reisen, der an diesem Abend nicht bei ihnen sein konnte.

      Nikodemus hatte ein Schriftstück entrollt, das er am Nachmittag mit Hilfe von Josef von Arimathäa verfasst hatte. Man bat darum, den Inhaftierten bis zur Verhandlung freizulassen und ihm zu erlauben, sich innerhalb der Stadt zu bewegen.

      Die Bedrückung steigerte sich noch weiter, als Josef von Arimathäa eintraf und nur schweigend den Kopf schüttelte. Sie hatten ihn der Ämter, die er im Hohen Rat bekleidete, enthoben und damit alle Befugnisse genommen. So konnte er den Versammlungen nicht mehr beiwohnen und die Debatten und Entscheidungen dort nicht mitverfolgen. Sie spürten, dass Jeheshua noch am Leben war, aber sie spürten auch Zorn und Wut auf den Hohen Rat und die Pharisäer, die mit allen Mitteln versuchten, ihn zu verurteilen.

      Das Öllicht