Christine Kolbe

Der andere Jesus


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hatte Speisen zubereitet, so, wie es zur Passahzeit üblich. war. Der Fremde war auch zugegen. Er hatte seinen roten Turban abgelegt und trug nun wie sie das braune Wollgewand der Galiläer. Er wollte zu ihnen gehören, seine Lehre erfahren und daran mitwirken, sie zu verbreiten.

      Er hatte in der Nacht den Meister aufgesucht und ihm seine heilende Kraft gebracht. Der Meister hatte ihn gesegnet und seinen Geistkörper mit seiner Kraft gespeist. Mit bewegter Stimme schilderte er seine Erfahrung und dass der Meister sich ein wenig erholt habe.

      „Seine Peiniger haben ihn nicht mehr geschunden, damit er zur Verhandlung ohne fremde Hilfe erscheinen kann. Er hat sogar etwas wässrige Suppe und Brot bekommen.“

      Abdul Ben Massa schilderte all dies so, als wäre er tatsächlich in der Zelle des Meisters gewesen. Alle hatten seine Ausführungen gebannt verfolgt. Es war ihm ohne Zweifel möglich, allein mit seinem Geistkörper solche Besuche abzustatten.

      Simon lehnte sich stolz zurück. Er hatte den besonderen Fremden mitgebracht, und ein wenig war es auch sein Verdienst, dass die Gruppe in den Genuss dieser besonderen Fähigkeiten kam.

      Stephanus hatte die Abendgebete gesprochen, als sich plötzlich eine seltsame Stimmung im Raum bemerkbar machte. Abdul Ben Massa hielt inne.

      „Er ist da“, rief er aufgeregt. „Ich spüre ihn.“ Alle verstummten. Mit aller Kraft versuchten sie, ihre Sinne darauf zu konzentrieren, ihn wahrzunehmen. Doch anders als beim ersten Mal war es keine Lichtgestalt, sondern seine Stimme, die zu ihnen sprach.

      „Fürchtet euch nicht. Ich bin es, euer Meister“, sprach er.

      Die Anwesenden fielen auf die Knie. Eine starke Kraft durchströmte sie, so, als würden sie mit besonderen Gaben ausgestattet. Simon Petrus fiel zu Boden. Sein Blick war ins Leere gerichtet und seine Arme zuckten. Vor Schreck fuhr Maria Magdalena auf. Sie stand starr vor ihm und hatte die Augen geschlossen. Wie ein Blitz durchfuhr es sie. Sie, die dem Meister so nahe gestanden hatte, musste auch jetzt auf besondere Weise mit ihm in Kontakt getreten sein. Sie ließ die Arme sinken und begann leise zu flüstern, was der Meister ihr eingab.

      „Nehmt meinen Leib und nehmt auch mein Blut als mein Geschenk an euch, damit ihr wirkt wie ich und lehrt, wie ich es tat.“

      Damit verschwand die Kraft so plötzlich, wie sie gekommen war. Alle hielten sich bei den Händen, wie um einander zu stützen und ihre Verbundenheit auszudrücken. Simon erhob sich zögernd vom Boden. Er strich sein Gewand glatt und setzte sich still auf seinen Stuhl. Tränen rannen über sein Gesicht.

      „Warum nur?“, murmelte er. „Warum dieses Opfer?“

      Er vergrub sein Gesicht in den Händen. Maria Magdalena hatte sich umgewandt und blickte die Versammelten geradewegs an.

      „Er ist bereit, den bitteren Weg zu Ende gehen, aber es wird nicht das Ende sein. Glaubt mir, meine Freunde, ich spüre es ganz stark. Er will die Prophezeiung vollenden, aber er tut es auf seine Weise. Wir müssen ihm helfen. Wir sind es, die den entscheidenden Teil dazu beitragen müssen. Glaubt mir, meine Brüder, es ist an uns, die Wege zu ebnen und dies möglich zu machen.“

      Weinend brach sie zusammen. Sie hatte die kommenden Ereignisse im Voraus erschaut und war darüber zusammengebrochen. Aber sie hatte auch gesehen, dass es ganz anders kommen würde, als alle es bisher angenommen hatten. „Fürchtet euch nicht“, murmelte sie, wie um sich selbst zu beruhigen. „Er wird sein Werk vollbringen und wir werden daran teilhaben.“

      Abdul Ben Massa erhob sich. Zögernd blickte er sich um, ob er sich als fremder Gast würde zu Wort melden dürfen. Doch in seinem Inneren wirbelten die erfahrenen Eindrücke, die er nicht für sich behalten konnte.

      „Ich habe ihn gesehen“, stammelte er. „Er hatte die Wundmale des Gekreuzigten, aber er lebte. Er wird es überleben“, stieß er hervor. Er war sich so sicher, dass Freude in ihm aufkeimte.

      „Er wird es überleben. Er ist der Meister über Leben und Tod und es obliegt ihm, darüber zu entscheiden.“

      Jetzt waren alle wie elektrisiert aufgesprungen. Sie spürten, dass Hoffnung in ihnen aufkeimte. Sie mussten nur fest genug daran glauben, so, wie er es sie gelehrt hatte. Dann würden auch genau diese Ereignisse eintreten. Sie hielten einander an den Händen, um ihren Glauben daran zu verstärken und mit aller Macht in die physische Welt zu holen. Die Hoffnung gab ihnen Kraft und sie wussten, dass es möglich war.

      Die Wächter hockten am Boden und würfelten. Jeder von ihnen hatte einige Münzen vor sich liegen. Der Weinschlauch kreiste und sie nahmen einen Schluck, bevor sie sich wieder dem Spiel widmeten.

      Der Älteste von ihnen war schon seit Jahrzehnten Wärter im Gefängnis des Herodes. Er hatte schon dem vorigen König gedient, und sein Leben spielte sich beinahe völlig in den Gefängniskatakomben ab, wo er täglich seinen Dienst versah. Es gab nichts, was ihn schockierte, kein Leid, das ihn rührte. Er war meist im Rotweinrausch und auch den beißenden Gestank nahm er kaum wahr. Wenn er nicht in den Gängen patrouillierte oder dafür zu sorgen hatte, dass neue Inhaftierte in die Zellen geworfen wurden, vertrieb er sich die Zeit damit, kleine Holzfiguren zu schnitzen. Meist hatten sie grässliche Fratzen und sahen kleinen Dämonen ähnlich. Er hatte Freude an den schauerlichen Figuren.

      Heute hatte er Gesellschaft, denn die Riege der Wachtposten war verstärkt worden. Dies kam nur selten vor, denn wer sollte sich schon aus Ketten und verschlossenen Zellen befreien können? Vielleicht, so schoss es ihm durch den Kopf, hatte es mit dem Passahfest zu tun. Die Zellen waren mehr als überfüllt, auch jetzt noch, wo die ersten Prozesse stattfanden und stündlich Gefangene abgeholt wurden, um vor dem Tribunal ihre Strafe zu erfahren.

      Das Volk johlte auf dem Vorplatz. Es war eine beliebte Sensation, den öffentlichen Auspeitschungen und Folterungen zuzusehen. Der Platz für die Steinigungen lag weiter draußen, und auch dort hatte sich, wie jedes Mal, viel Volk versammelt. Er hörte von fern, die Mauern waren dick und ließen nur wenige Geräusche von draußen durch, wie das Volk grölte, wenn wieder einer der Sträflinge strauchelte und zusammenbrach.

      Quintus war einer der neuen Wächter. Er hatte schon an anderer Stelle für Herodes gedient. Obwohl er Römer war, ließ er sich für Geld anheuern und erfüllte auch die schmutzigsten Dienste, wenn nur genug dafür gezahlt wurde.

      Er bohrte mit den Fingern in seinen Zähnen. Er hatte alles Zivilisierte, das die Römer ausmachte, aufgegeben. Sein Bart war lang und verkrustet und sein Haar, hellbraun und gelockt, fiel strähnig an seinem Kopf herab. Er hatte stets ein Würfelspiel bei sich, um sich die Zeit zu vertreiben. Sein Dienstherr hatte ihn den Wachen des Kerkers zur Seite gestellt, weil man befürchtete, dass der verrückte Gefangene womöglich gewaltsam befreit werden könnte. Er hatte dies nur am Rande vernommen, als sein Dienstherr sich mit dem Kommandanten des Gefängnisses unterhielt.

      Alle waren gespannt, wann man ihm den Prozess machen würde. Es ging die Kunde um, er könne sich unsichtbar machen und durch Wände gehen. Man würde für den Prozess besondere Sicherheitsvorkehrungen treffen, denn die Anhängerschaft war beträchtlich und man wollte sichergehen, dass keine Unruhen ausbrachen.

      Quintus hatte zum fünften Mal gewonnen, was seine Mitspieler sehr verdross. Sie murrten und nannten ihn einen Gauner, der das Spiel zu seinen Gunsten zu lenken vermochte. Er hatte schon zuviel des Weines und war dadurch streitlustig geworden. Er packte einen der anderen Wächter am Hals und bohrte ihm seinen Daumen in die Kehle. Der Arme schrie vor Schmerz laut auf und raffte seine verbliebenen Münzen zusammen, nachdem er von ihm abließ.

      Der Schrei hatte die Gefangenen aufgeweckt. Ein Kettenrasseln, gefolgt von lauten Rufen nach Wasser und Brot, brach aus. Eine unnötige Störung, wo sie doch gerade erst angefangen hatten zu würfeln. Die nächste Runde sollte entscheiden, wer den stündlichen Rundgang durch die Gefängnisgänge machen sollte. Der Verlierer würde mit dem Stock und dem Öllicht durch die stinkenden Gänge patrouillieren und den Schreihälsen das Maul stopfen, indem er ihnen den Knüppel in die Rippen stieß.

      Gerade war der Dritte von ihnen an der Reihe, als ein großes Geschrei ausbrach. Laut hörten sie die Ketten an die Gittertüren donnern. Auch das noch, dachte Quintus, den der Wein müde und schläfrig