Christine Kolbe

Der andere Jesus


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glauben, was alle soeben gehört hatten. Sollte er sie zurücklassen? War er womöglich schon im Gefängnis gestorben?

      Der Fremde meldete sich zu Wort: „Der Meister lebt. Er hat sich seines Geistkörpers bedient. Das tun viele hohe Eingeweihte.“

      Er war noch immer tief beeindruckt von der Strahlkraft, die die Lichtgestalt ausgesandt hatte. Schützend hatte er die Hand vor die Augen gehalten, so geblendet war er.

      Die Gruppe hatte sich um Maria Magdalena geschart, um sie zu trösten. Doch waren alle in ihrem Innersten tief betrübt. Sollte ihre gemeinsame Zeit mit ihrem Meister schon beendet sein? Sollte er niemals zu ihnen zurückkehren? Sie wollten und konnten dies nicht glauben.

      Pontius Pilatus hatte lange seiner Gemahlin gelauscht, als sie, nachdem sie einen stärkenden Trunk zu sich genommen hatte, alles berichtete.

      Vor Abscheu hatte sie die Hände vor die Augen gelegt, während sie detailgetreu alles berichtete. Jetzt, wo sie wieder in ihrem prächtigen Gemach war, war sie selbst verwundert, wie sie die Kraft hatte aufbringen können, diesen schrecklichen Ort aufzusuchen. Sie war stolz auf sich. Und sie war entschlossen, auch erneut um einen Besuch zu bitten, wenn dies ihrer Sache dienlich war.

      Der Prokurator hatte die Hände auf ihre Schultern gelegt. Er war von ihrer Stärke und ihrem Mut stark beeindruckt. Niemand würde freiwillig in diesen Teil des Palastes des Herodes eindringen. Er war stolz auf seine Frau, die fest entschlossen auch ein zweites Mal diesen Weg gehen würde.

      Er hatte wieder Mut gefasst, denn sollte sein Plan gelingen, so würde es ihm möglich sein, ihn zu retten. Noch war allerdings alles in Unwägbarkeiten gehüllt. Der Meister lebte, und das war das Wichtigste.

      Der Morgen dämmerte bereits, als die Gemeinschaft sich trennte. Sie hatten die ganze Nacht hindurch gebetet, um dem Meister Kraft und Unterstützung zukommen zu lassen. Alle waren am Morgen erschöpft in ihre Häuser oder Herbergen zurückgekehrt. Josef hatte, nachdem der letzte Besucher das Haus verlassen hatte, noch eine Weile niedergekniet. Er war tief in seinem Inneren davon überzeugt, dass ihr Plan gelingen konnte. Den Fremden hatte der Himmel geschickt, damit er ihnen zu Hilfe kommen konnte. Wenn alles glückte, würde der Meister die Kreuzigung überleben.

      Abdul Ben Massa hatte die Zusammenkunft mit den anderen verlassen. Er spürte eine seltsame Zuneigung zu Simon, der ihm irgendwie vertraut vorkam. Er beschloss, am kommenden Morgen allein einen Versuch zu unternehmen, mental mit dem Meister in Kontakt zu kommen. Dazu würde er sich ebenfalls seines Geistkörpers bedienen und versuchen, in das Gefängnis zu gelangen. Vielleicht konnte er helfen, die Absichten des Inhaftierten zu ergründen. Er hatte am Abend das Gefühl, der Meister sei gekommen, um sich zu verabschieden. Aber er spürte auch, dass er nicht durch die drohende Verurteilung sterben würde.

      Pontius Pilatus hatte an seinem, von Schriftstücken übersäten Schreibtisch Platz genommen. Noch in der Nacht hatte er ein Schriftstück verfasst, welches allen Dieben und Hausierern, die vor dem Passahfest in die Stadt gekommen waren, eine Generalamnesie gewährte.

      Er wollte damit ein Zeichen setzen, dass er das heilige Fest der Juden achtete und die besondere Zeit dieser Tage dazu nutzen wollte, Milde walten zu lassen. Vielleicht würde der Hohe Rat diesem Beispiel folgen, schon um nicht hinter den verhassten Römern in der Gunst des Volkes zurückzustehen. Alle leichten Vergehen sollten ungestraft bleiben, wenn die Betroffenen sofort die Stadt verließen.

      Er hatte für den späten Nachmittag eine öffentliche Kundgebung dieses Beschlusses angekündigt und den römischen Rat zur festgesetzten Stunde in das Palais gebeten. Die öffentlichen Ausrufer amtlicher Mitteilungen würden dann im Anschluss die Nachricht unter das Volk bringen. Er wusste in diesem Moment nicht, ob diese Maßnahme die Wirkung, die er wünschte, zeitigen würde. Aber es war gewiss ein kluger Schachzug, die Öffentlichkeit auf diese Haltung zu lenken.

      Gerade hatte er ein Schriftstück begutachtet, als es leise an der Tür zu seinem Amtszimmer klopfte. Ein Diener trat herein und meldete einen fremden Gast, der um eine Unterredung mit dem Prokurator bat. Es sei eine sehr fragwürdige Person, fügte der Diener mit gesenktem Blick hinzu.

      Der Prokurator empfing niemals ohne Vorankündigung und zuvor geprüfter Gründe einen Besucher persönlich, sondern verwies alle Bittsteller an seine persönlichen Sekretäre. In diesem Fall jedoch war es ein innerer Impuls, dem er folgte, und er gewährte dem Besucher einzutreten.

      Mit hochgezogenen Augenbrauen öffnete der Diener die große Tür, um den Fremden hereinzubitten. Überrascht über die kuriose Erscheinung, erhob sich Pontius Pilatus.

      Ein Zwerg, kaum größer als ein zehnjähriges Kind, aber mit dem Gesicht eines alten Mannes, stand vor ihm. Ein wenig stieg Zorn in ihm auf. Wie konnte ein solcher Wicht in schmutzigen Kleidern es wagen, in sein Amtszimmer zu kommen?

      Doch bevor er seinem Zorn Ausdruck geben konnte, verbeugte sich der Zwerg und sprach mit lauter fester Stimme: „Ich habe den Auftrag, Euch eine Botschaft zu überbringen. Es ist sehr wichtig.“

      Der Prokurator ließ sich sprachlos auf seinen Sessel zurücksinken. Die Sprache und Wahl der Worte hatten ihn überrascht. Niemals hätte er dieser kuriosen, zerlumpten Person eine solche vornehme Ausdrucksweise zugetraut. Ein leises Lächeln glitt über das Gesicht des Zwerges.

      Er begann in kurzen klaren Sätzen über seine besondere Gabe zu berichten und erwähnte auch die allmonatlichen Umstände seiner Anfälle.

      „Doch dieses Mal, hoher Herr, war alles anders. Ich bin umgefallen und wand mich am Boden, Schaum auf den Lippen. Doch nicht das gewohnte zornige Wirrwarr von Worten und Beschuldigungen folgte, sondern eine zarte Stimme, die zu mir sprach, quoll aus mir heraus. Ich sage Euch, es war ein Engel, der durch mich sprach. Seitdem bin ich wie verwandelt. Ich will nicht mehr länger unter dem Bettelvolk leben. Aber der wahre Grund meines Kommens ist, dass ich angewiesen wurde, Euch eine Nachricht zu überbringen. Ich soll Euch sagen, dass es Eure Aufgabe sei, das Leben des Auserwählten zu retten. Nur diesen einen Satz, und mir wurde eindringlich versichert, hoher Herr, dass dies sehr wichtig für Euch sei und für alle Menschen in der Stadt.“

      Der Zwerg hatte den Kopf gesenkt, so, als würde er mit Ängsten der Reaktion des Prokurators entgegensehen. Doch dieser, ganz zur Überraschung des Zwerges, wollte nun mehr und Genaues über seine Anfälle wissen und ob er ein Seher sei.

      Er war näher an den Zwerg herangetreten und dieser begann von seinem Leben unter den Bettlern zu erzählen und dass er jedes Vergehen der anderen während seiner sonderbaren Anfälle zur Sprache brachte, so, als ob ein innerer Richter sich Gehör verschaffte. Neugierig hörte der Prokurator zu. Der Zwerg schien Wahres zu sprechen. Er kannte solche Orakelmedien aus Rom, die dort sehr geachtet und angesehen waren.

      Er wies seinen Diener an, den Zwerg neu einzukleiden. Er wolle ihn in seine Dienste nehmen. Vor Überraschung sperrte der Kleine den Mund auf. Er hatte damit gerechnet, gewaltsam vor die Tür gesetzt zu werden. Jetzt sollte er sogar in der Nähe dieses hohen Herrn leben und für ihn arbeiten. Er traute seinen Ohren nicht.

      Die Gesandtschaft des römischen Rates hatte im Amtszimmer des Prokurators Platz genommen. Die hohen Herren saßen mit geradem Rücken und besorgter Miene dem Prokurator gegenüber. Ihr Sprecher begann eine Zusammenfassung des Rates zu verlesen, worin dieser seine Bedenken und Vorbehalte ausdrückte, die die bevorstehende Amnestie betrafen.

      Pontius Pilatus hatte mit solchen Einwänden gerechnet. Er erläuterte seine näheren Beweggründe.

      Diese Maßnahme sei dazu gedacht, den Unruhestiftern den Wind aus den Segeln zu nehmen. Denn seine jüdischen Informanten hätten von geplanten Krawallen berichtet, die sich auf die strenge und willkürliche Verhaftung von gläubigen Juden bezogen, die angeblich völlig unbescholten in römischen Gefängnissen gelandet seien. Er wolle einem Aufstand zuvorkommen, um die Ruhe in der Stadt zu gewährleisten. Gleichzeitig kündigte er an, die Patrouillen zu verstärken und somit eine größere Präsenz von Soldaten in der Stadt anzuordnen.

      Die Ratsmitglieder nickten zustimmend. „Ja, das ist eine weise Entscheidung“, entgegnete ihr Sprecher. Noch am selben Tage wurden die öffentlichen Ausrufer ausgeschickt und die ersten Inhaftierten in die Freiheit entlassen.