Dirk Bierekoven

Kehrtwende


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schritt jemand ein und es wurde revidiert und korrigiert, was das Zeug hielt. Selbst der Oberstaatsanwalt war nur eine Marionette, gesteuert von einem kleinen Kreis von machtvollen eingeweihten Männern, die alle Fäden in den Händen hielten.

      Eines Tages bekam ich einen Fall auf den Tisch, in dem ein junger Grenzsoldat einen Zivillisten bei einer Routinekontrolle an einem Grenzübergang erschoss. Der Fall landete auf unserem Tisch, weil der mutmaßliche Täter, Max Schulte, der Sohn eines verdammt hochrangigen Militärsoldaten war. Und wenn ich hoch meine, meine ich, höher geht kaum mehr. Bei unseren Ermittlungen stellte sich heraus, dass es keinerlei Hinweise auf die Notwendigkeit zur Verwendung einer Schusswaffe gab. Wir deckten alle Schwachstellen seiner Aussagen auf, zerpflückten sie wie Pergamentpapier in der Luft und verbrannten sie, bevor sie am Boden aufkamen. Alles, was Max Schulte zu seiner Tat sagte, war erstunken und erlogen. Er hatte sich nicht einmal große Mühe gemacht, sich auch nur etwas halbwegs Intelligentes auszudenken, was ihm eventuell den Kopf retten konnte. Er war sich seiner selbst von Beginn an sicher gewesen. Viele Male zuvor war er bereits wegen verschiedenster Vergehen beobachtet und angezeigt worden. Nötigung, sexuelle Nötigung, Korruption etc. und nie kam er vor Gericht deswegen. Doch dieses Mal legten wir dem Oberstaatsanwalt eine zu einhundert Prozent dezidierte und unzerrüttbare Ermittlungsakte vor, die Schulte nicht den kleinsten Spalt für einen Durchflutscher bot. Es war perfekt. Es gab keinen Ausweg, keine Alternative zu einem Schuldspruch. Bis der Staatsanwalt im Prozess all unsere schönen Ermittlungsergebnisse dafür nutzte, um Max Schulte eine lückenfreie Rechtfertigung für die Nutzung der Schusswaffe zu basteln. Als Schulte daraufhin freigesprochen wurde und er mit einem schrägen Grinsen im Gesicht den Gerichtssaal verließ, tickte es bei mir aus und ich wollte dem verdammten Dreckskerl nur noch so lange seine verdammte Fresse polieren, bis ihm sein dämliches Grinsen auf ewig in seinem dämlichen Gesicht eingemeißelt blieb. Doch ich kam gar nicht an ihn heran. Laut fluchend wollte ich mich auf ihn stürzen, doch die anwesenden Bullen im Saal hielten mich fest, bevor ich auch nur halbwegs in Schlagdistanz zu ihm war. Nach diesem Vorfall beschlossen der Oberstaatsanwalt und ich, dass es für alle Beteiligten das Beste war, wenn ich mir zuerst einmal eine Auszeit nahm, um dann neu orientiert beim MUK zu beginnen.

       Ein Telefonat

       „Hallo?“

      „Hallo, ich bin´s!“

       „Wie geht es dir?“

      Die Stimme am anderen Ende der Leitung hörte sich blechern an, doch konnte er die Besorgnis herausfiltern.

      „Es ist alles in Ordnung. Es ist gut gelaufen. Hast du etwas gehört?“

       „Nichts, was dich beunruhigen muss. Es ist alles ziemlich chaotisch. Halt dich nur bedeckt!“

      „Hast du eine zweite Adresse?“

       „Ja.“

      „Schreib sie auf einen Zettel und klemm diesen heute Nachmittag hinter den öffentlichen Fernsprecher in der Tucholsky Straße, Ecke Oranienburger.“

       „Was wirst du tun?“

      „Das, was getan werden muss!“

       „Er ist nicht wie Er, vergiss das nicht. Er hat etwas anderes verdient.“

      „Überlass das mir, ich weiß, was ich zu tun habe.“

       „Wann sehe ich dich?“

      Kurz stockte er. Er wusste, dass er lügen musste, er hatte sich schon längst darauf eingestellt. Sein ganzes Leben war mittlerweile eine Lüge, doch diese fiel ihm besonders schwer.

      „Bald!“, antwortete er und hängte auf.

       Eva Schulte

      Der Dezember war ein einziger verschwommener Albtraum, dessen Tage nur gleichbleibende Einheiten meines Zerfalls waren, wild übereinandergestapelt. Mit anderen Worten, ich erinnere mich an so gut wie gar nichts. Die gesamtdeutsche Euphorie und Aufbruchsstimmung, alle Ängste, alle Hoffnungen, der Westen ... der heilige Westen, endlich war er da und ich hing in einer delirischen Endlosschleife und bekam von alldem nichts mit.

      Der 24. Dezember.

      Schatten von Erinnerungen.

      Nicht Herr meiner Taten und Bewegungen, strauchelnd über die Straße, fiel ich hin, übergab mich und rollte mich auf einen Bahnsteig. Halb auf den Gleisen liegend und halb auf dem Bahnsteig sitzend sprach mich eine junge Frau an, zog mich hoch und setzte mich auf eine Bank, kurz bevor die Straßenbahn einfuhr.

      Ich schaute ihr in die Augen und sah Mitleid, Angst und Ekel.

      Kann man noch tiefer sinken?

      Ja, kann man, denn es machte mir nichts aus.

      Sie drehte sich um und ging und ich schaute ihr hinterher, gleichgültig wie ein Psychopath auf sein hilfloses Opfer, ohne Empathie oder Zweifel.

      Ich war am Ende meines Weges angekommen, hatte die Grenzmauer meines persönlichen Schamgefühls längst durchbrochen und weit hinter mir zurückgelassen und lebte gut damit. Es war einfach, keine Rücksicht mehr nehmen zu müssen. Und so kraftlos, wie ich war, konnte ich mir eh nicht vorstellen, jemals den Weg zurückzufinden, und alleine schon zweimal nicht.

      Ich saß noch lange auf der Bank und sah der jungen Frau hinterher, auch wenn sie längst in der nächsten Straße verschwunden war.

      So sollte es nicht sein.

      Ich wusste es, ich fühlte es, es nagte in mir, zuerst ganz tief unten, nur ein wenig, wie ein leichtes Jucken, doch je länger ich ihr nachschaute immer höher und störender.

      So sollte es nicht sein.

      Ich sollte so nicht sein.

      Ich sollte keine jungen Frauen zum Mitleid zwingen.

      Es nagte in mir.

      Doch ich verdrängte es, vorerst, sagte mir, würde mich später damit beschäftigen und dann die Welt retten. Doch wem machte ich was vor? Raffte Kräfte zusammen und beschloss, den Geburtstag des Heilands mit einem Schnaps für jedes seiner wenigen Lebensjahre zu begießen.

      Siebenundzwanzig?

      Zog mich hoch und sah mich um nach dem kürzesten Weg zur nächsten Kneipe. Ein Polizist kreuzte meinen Blick und schaute. Neigte seinen Kopf, um mich zu mustern. Es wurde Zeit zu verschwinden. Ich torkelte in entgegengesetzter Richtung über den Platz, in die Littenstraße hinein. Blieb kurz stehen und sah nach dem Polizisten. Er folgte mir. Ich schlurfte weiter die Littenstraße runter bis zur Waisenstraße. An der Ecke schaute ich erneut, der Polizist war noch da. Ganz unverhohlen lief er mir nach. Ich hätte stehen bleiben und ihn zur Rede stellen können, ich hatte nichts verbrochen, außer am helllichten Tag sternhagelvoll durch die Stadt zu wanken. Doch ich hatte keine Lust, blöde Fragen zu beantworten, mich zu streiten und in der Ausnüchterung zu landen. Ich lief die Waisenstraße weiter bis zu einer Kneipe mit Namen „Zur letzten Instanz“.

      Mann, ich schwöre bei meinem verschrumpelten, schwarzen Herzen, dass ich ausgerechnet diese Kneipe an diesem Tag aufsuchte, ließ mich, entgegen meiner sonstigen Überzeugung, für einen kurzen Moment tatsächlich an so etwas wie Schicksal glauben. Der Name war auf so vielen Ebenen gerade Programm. Und alleine des Namens willen hatte ich diese Kneipe seit Wochen umkurvt und gemieden. Jetzt aber erste Anlaufstelle, keine Zeit für Ängste oder Eitelkeiten.

      Sah mich auf der Schwelle noch einmal um, der Polizist war weg.

      Zweifelte kurz, ob er überhaupt je da gewesen war, dann:

      Tür auf und hinein.

      Nur drei Kerle waren zu sehen, inklusive Schankwirt.

      Sie hockten zusammen gleich links an der Theke, stoppten kurz ihre Unterhaltung, um zu sehen, welch gottlose Gestalt sie an diesem heiligen Tag begleiten würde, und sprachen weiter.

      Ich sah mir den Wirt genauer