Der Rest der Suppe steht immer noch drüben auf dem Tisch. Kalt. Sie war auch schon kalt, bevor ich eingeschlafen bin. Ich gehe hin, hebe etwas Metallenes auf. Ich blicke auf den Löffel in meiner Hand und fahre mit der Zunge unwillkürlich über meine Lippen.
Der Löffel sieht aus wie ein unbekanntes Werkzeug aus einer längst vergessenen Zeit, einem anderen Leben.
Die Vollstrecker sind nur Marionetten, führen Befehl aus, sind in rote Kleidung gegossene Körper ohne Erinnerungen. Offensichtlich haben die armen Figuren vor meiner Zelle ihre Anweisungen, nett zu mir zu sein, solange ich nach ihrer Pfeife tanze. Haben sie eine andere Wahl? Habe ich eine? Ich versuche des Zitterns Herr zu werden, das sich erneut meiner bemächtigt. Ich zittere ständig und weiß nicht, ob es meine eigene Haut ist, die mich frieren lässt oder die Ängste, die ich durchstehen muss.
Denn ich befürchte, sie werden sie alle töten. Nicht nur Adam, Hope und Neo. Auch Jesse. Aber was bedeuten die Leben meiner Freunde im Vergleich zu dem, was sie mit unseren, mit Ashas Fähigkeiten anzurichten vermögen.
Alles.
Stelle ich fest.
Jedes einzelne ihrer Leben bedeutet für mich alles.
Alles was ich habe.
Aber bedeutet das, dass ich kooperieren muss, dass sie mich egal wohin zitieren können, um dort verheerenden Schaden anzurichten? Ich denke an die Prophezeiung und beschließe, nicht zu kooperieren sondern mitzuspielen.
Aber nach meinen eigenen Regeln. Solange ich lebe.
Ich tauche den Löffel in meine Suppe, beobachte, wie die Nudeldinger vor dem ungebetenen, blanken Metall Reißaus nehmen und dann bemerke ich das Leuchten des Sensors an der Panzerglasscheibe. Jemand möchte mit mir reden. Vielleicht ist es ja ein Vollstrecker mit einem Salzstreuer, lächle ich, aber selbst das strengt mich an.
Ich quäle mich beim Aufstehen und beim Gehen. Jede Bewegung, jeder kleinste Schritt fordert Überwindung, höchste Anstrengung, schmerzt. Und es wird immer schlimmer. Die elektromechanische Schiene scheint für den Moment das einzige an mir zu sein, das noch über ausreichend Energie verfügt.
Wer es wohl dieses Mal ist? Vielleicht Halo mit einer neuen Folter, die er sich für mich ausgedacht hat. Für eine Missgeburt wie mich. So hat er mich genannt, eine Missgeburt.
Die Scheibe wird durchsichtig, mein Herz setzt für einen Atemzug aus. Mein armes Herz. Es ist wirklich Halo, dachte ich es mir doch, aber er ist nicht allein.
Was hat er nur vor? Warum ist Jesse bei ihm? Will er ihn jetzt töten lassen? Direkt vor meinen Augen? Bringt er ihn deshalb hierher zu mir, um ihn umzubringen? Mich zu quälen und mich dann zu töten?
Instinktiv weiche ich einen Schritt zurück, will mich irgendwo verstecken. Vielleicht im Badezimmer, dann fällt mir ein, dass die Lampe noch nicht repariert wurde. Spielt das überhaupt eine Rolle?
Halo öffnet die Gefängnistür und schiebt Jesse vor sich her, zu mir herein. Was soll das?
„Schmeckt die Suppe nicht?“, fragt Halo und lächelt sein falsches, hässliches Lächeln. Jesse sieht verunsichert aus, verändert. Sie haben etwas mit ihm gemacht.
Ich sage nichts, gehe langsam rückwärts, immer weiter, bis ich mit dem Rücken an der Wand anstoße. Halo hat mein Tagebuch. Er weiß, wer ich bin. Was ich bin. Was ich brauche. Oh Gott, ich will allein sein. Bitte Gott, teleportiere Jesse ganz weit weg. Weit weg von mir.
„Ich dachte, ein wenig Gesellschaft würde dir ganz gut tun. Eventuell kommst du dann ja wieder zu Kräften“, meint Halo, der dort an der Tür steht. Ich hasse ihn mehr als alles andere auf dieser Welt. Ich sage noch immer keinen Ton und dann verschwindet er, aber Jesse bleibt.
Es dauert einen Moment, bis die Panzerglasscheibe undurchsichtig wird und wir vermeintlich ungestört sind.
Der Sensor zeigt an, wir wären es.
Kann ich ihm trauen?
Kann ich mir trauen?
„Freija, ich weiß nicht, was das bedeutet?“, stammelt Jesse und rührt sich nicht vom Fleck. „Wo warst du? Was ist geschehen?“ Pause. Und dann. „Ich habe dich so vermisst“, sagt er mit seltsamer, fast unverständlich leiser Stimme.
Jesse macht einen Schritt auf mich zu. Ich will ihm um den Hals fallen, stattdessen rutsche ich mit dem Rücken an der Wand runter, bis ich auf dem Boden sitze. Meine Arme schlinge ich um meine Knie, das blütenweiße Hemd ziehe ich so weit über meine Beine, wie es geht. Ich werde mir gerade bewusst, wie wenig ich eigentlich anhabe.
Jesse kommt mir ganz nahe und setzt sich neben mich auf den Boden. Gemeinsam starren wir Löcher in die Luft. Sein Duft ist mir vertraut, schenkt so viel Geborgenheit. Ich hatte vergessen, wie gut es sich anfühlt, in seiner Nähe zu sein.
„Der Gesandte…“, beginnt Jesse.
„Du meinst Halo“, helfe ich ihm.
„Ja, er hat mein Flexscreen.“
„Ich weiß. Er hat es mir abgenommen, nachdem…“, ich halte inne. „Nachdem Hope und ich besiegt wurden“, brumme ich dann. Jesse nickt.
„Ich denke, wir haben uns viel zu erzählen.“ Dieses Mal bin ich diejenige, die müde nickt. „Hast du sie gelesen. Ich meine die Nachrichten, die ich an Flavius geschickt habe?“
„Jede einzelne Silbe.“ Ich erinnere mich an Jesses Liebesgeständnis und an seinen Wunsch.
Einen Kuss. Von mir.
Mein Herz beschleunigt bei dieser Vorstellung, ohne dass es mich um Erlaubnis gefragt hat. Oder ist es wieder das kalte Fieber?
„Ich weiß nicht einmal, ob Flavius die Nachrichten erhalten hat. Er hat nie geantwortet“, murmelt er.
„Jesse, ich. Ich weiß nicht, was ich sagen soll. Wo ich anfangen soll. Es ist so viel passiert seitdem. Seitdem ich mit Adam mitgegangen bin.“
„Adam?“, fragt er. Ich schweige.
„Adam, ist das sein Name? Ist er der Gesandte, der dich mitgenommen hat?“
„Ja und er ist kein Gesandter und er hat eine Schwester. Ihr Name ist Hope.“
Kapitel 7
Halo benötigt eine LED um die Zeilen lesen zu können. Ihre Handschrift ist sehr schön, gut zu lesen und jeder Zeile schwingt Seele mit. Aber das ändert nichts an der Tatsache, was sie ist und was Halo tun wird.
Er weiß, dass die Bestien so alt sind wie die Erde selbst. Vielleicht sogar das ganze Universum. Dass sie nicht von den Menschen erschaffen wurden. Dass ihre Energiestrukturen lediglich entdeckt wurden. Die Technik ermöglicht es, dass sogar nicht privilegierte Menschen, Nunbones, die Bestien sehen können. Die Bestien gehören der spirituellen Welt an, der Welt der Energie. Heute nennen sie die Wissenschaftler die Astralwelt.
Die Wissenschaft machte in den letzten Jahrhunderten gewaltige Fortschritte. Vor zweihundert Jahren spannte sich ein Netz von Eisenbahnlinien und Telegraphendrähten über die Erde. Mit Hilfe von Dampfmaschinen, elektrischen Apparaten und vielen anderen Instrumenten machten sich die Menschen die feinstofflichen Kräfte nutzbar, obgleich man sie sich noch nicht erklären konnte. Das Zeitalter hatte längst begonnen, in der die Menschen umfassende Kenntnisse über Energie, über elektrische Eigenschaften erlangen. Der Einfluss der Zeit, die das Universum regiert, hat einen ungeheuren Einfluss. Niemand kann sich ihr entziehen.
Aber das spielt für Halo keine Rolle. Er verfolgt nur ein Ziel.
Die Symbionten waren schon Jahrtausende auf der Erde, bevor der erste Mensch geboren wurde. Damals, in längst vergessenen Zeitaltern, als Menschen und Symbionten aufeinander trafen, bekamen sie ihre Namen. Man nannte sie Vampire, Hexen, Dämonen. Heute nennt man sie Symbionten. Halo findet, dass dies der treffendste Name sei. Treffend für das, was sie wirklich sind. Wesen, die Kontakt