Sophie Lang

Violet - Dunkelheit / Entfesselt - Buch 4-5


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Schüsse explodieren. Ich spüre das Schild verschwinden, das nur für einige Sekunden da war. Zu mehr war ich nicht imstande.

      Ich hoffe, bete einsilbig, inbrünstig zu Gott.

      Und das alles in dieser kurzen Zeit und dann komme ich auf, weicher als gedacht. Körper haben mich aufgefangen und ich weiß nicht, ob es mit Absicht war, ob sie lebendig sind. Oder tot.

      Jesse?

      Ich sehe Blut, ein Junge, der in der Brust getroffen wurde, liegt unter mir. Oh Gott, wie schrecklich. Er ist fast tot, aber er ist nicht Jesse. Was ist das nur für ein schrecklicher, egoistischer Gedanke? Ich schaue mich um, sehe noch mehr Jungen die bluten, aber leben. Ich habe sie gerettet.

      Alle, wenn sie jetzt schnell ärztliche Hilfe bekommen.

      Dann ist er da. Endlich.

      Jesse ist über mir, sammelt mich auf. Ich liege in seinen Armen, seinem Gesicht so nah und dann treffen sich unsere Blicke und wir lächeln uns an. Und das Lächeln strengt mich so sehr an. Ich bin so unendlich schwach und habe mich total verausgabt.

      Ich lächle gequält. Ich lächle, weil ich Angst habe, dass es das letzte sein könnte, das ich tue. Weil ich mich so freue, ihn wieder zu sehen. Weil ich seinen Wunsch, den er mir über das Flexscreen mitgeteilt hat, nicht vergessen habe. Ich spüre nichts außer Vertrauen und Zuneigung und denke fast nicht daran, wie weich seine Lippen sich anfühlen könnten, oder wieso wir uns nicht jetzt und hier küssen sollten.

      Ich bekomme nicht mit, wohin plötzlich alle anderen verschwunden sind. Selbst die Verletzten und der arme, fast tote Junge. Nur Jesse, Halo, Fischer, die Vollstrecker und ich sind noch da, als sich unsere Blicke wie Lippen voneinander lösen. Als ich mich hinstellen möchte, auf eigenen Füßen stehen will, aber ich es nicht aus eigener Kraft schaffe, als ich jemanden in die Hände klatschen höre, als ich noch so vieles andere um mich herum wahrnehme. Als die Welt erneut zusammenzubrechen scheint.

      Halo klatscht spöttischen Beifall.

      Es sind sein Blick, seine hasserfüllten Augen, seine abgrundtief böse Ausstrahlung, die mir unendlichen Kummer bereiten.

      Es ist Halo. Er ist der, der mich ansieht, als wäre er ein Gewinner. Er, der gesehen hat, wie ich versucht habe, alle zu retten, weil ich so dumm war, Jesse nicht zu verraten.

      Es sind seine grausamen, schönen Augen, die mir dabei zugesehen haben. Verdammt. Halo.

      Er hat das eingefädelt. Er hat den Tötungsbefehl ausgesprochen, er ist ein Monster.

      Es ist alles ein Spiel. Mit mir wird gespielt. Ich spüre erneut die Wut und den Hass in mir, mit dem ich eine Lampe zerstören konnte. Wow, eine Lampe. Wie mächtig ich doch bin.

      Aber ich weiß, es bedeutet so viel mehr. Ich habe mehr Fähigkeiten, habe Adams Computer mit Energie versorgt und Elektrizität erzeugt, habe Hopes Schild für einige Sekunden erschaffen. Ich bin zu mehr fähig, als nur die Luft anzuhalten und schnell zu rennen. Wenn nur mein Bein wieder funktionieren würde, wenn ich mich doch nur nicht so schwach, leer und ausgesaugt fühlen würde.

      Ich will Halo umbringen. Jetzt. Will ihm die Kehle aufschlitzen und sein Leben aussaugen. Ich bin eine Missgeburt, hat er gesagt.

      Ich löse mich aus Jesses Armen und mache einen Schritt auf meinen Feind zu und breche einfach nur hilflos auf der Stelle zusammen, bin tatsächlich leer, ausgebrannt, ohne Energie. Habe alle Reste aufgebraucht. Verdammt.

      Halo lacht, immer noch. Oder schon wieder?

      „Leck doch das Blut vom Boden auf, du Missgeburt. So wie alle anderen Missgeburten“, lacht er und ich habe nicht einmal mehr die Kraft zu weinen. Jesse ist es, der mich wieder aufhebt. Der mich stützt und mir ins Ohr flüstert, dass alles gut wird, bevor sie auch ihn von mir wegreißen und mich fortbringen. Weg von Jesse. Weg von diesem Ort, dem ganzen Blut und meinem Tagebuch.

      Zurück, dorthin, wo ich erschaffen wurde.

      Eine Missgeburt?

       Kapitel 6

      Ich laufe, renne. Immer weiter, schneller. Durch nicht enden wollende Korridore und Hallen, die zerfressen sind vom Alter der Zeit. Verlassen. Vergessen.

       Wasser perlt von der Decke ab, tropft wie schwarzes Blut herunter. Alles ist dunkel, nur dort wo ich bin, erleuchten meine Tattoos die Formen, hauchen den Schatten Leben ein, die um mich herum schleichen wie Dämonen in der Nacht. Ich träume und bin mir dessen bewusst. Schon wieder.

       Es scheint, die einzige Möglichkeit sich frei zu bewegen, ist zu träumen.

       Ein Luftzug streift meinen Körper, zieht an meinen Haaren. Ich blicke mich gehetzt um und entdecke einen weiteren Durchgang, folge ihm in eine weitere Halle. Noch ursprünglicher, noch dunkler und beängstigender als alle anderen zuvor. Ketten mit Arm- und Beinringen an den Seiten, ein schwarzer vom Alter gezeichneter schwerer Tisch. Es ist ein Operationstisch oder ein altertümlicher Opfertisch und er dominiert den Kern des Raumes. Chirurgische Werkzeuge oder Opferutensilien und furchteinflößende Klingen, Zangen, Drähte jagen mir eine Gänsehaut über meinen Körper. Ich nähere mich sehr langsam, als ich diesen gewaltigen Gestank wahrnehme. Ich weiß, er stammt von der Metalltür, die eine handbreit offen steht. Er weht unheilbringend in die dämonische Folterkammer herein. Mein Traumkörper bewegt sich auf die Tür zu. Die Schatten nehmen Formen an, die mir Angst einjagen. Ich bleibe nicht stehen, bis mich meine Schritte bis zur Tür getragen haben. Ein Quadrat, ein Dreieck und ein Kreis wurde auf die metallene Oberfläche geätzt. Darüber prangt das Zeichen der Gesandten. Nein, ich habe mich getäuscht. Es ist ein Schädel über zwei gekreuzten menschlichen Knochen.

       Ich öffne die Tür mit zittriger Hand und strecke meinen Kopf auf die andere Seite. Eine Sackgasse. Ein Korridor. Zu beiden Seiten befinden sich uralte Gefängniszellen mit nackten Metallstäben.

       Ich trete ein, gehe einen Schritt auf die in den Wänden eingemauerten Käfige zu und reiße die Hand vor mein Gesicht. Der Gestank ist gewaltig. Ich erschaudere, als ich Konturen, sich bewegende Schatten in der Dunkelheit ausmache, als sie sich zu Kreaturen hinter metallenen Gittern vor meinem Auge materialisieren. Schrecklich missgestaltet, furchtbar verkrüppelt. Dämonisch.

       Das schwache Licht, das von beiden Seiten durch die Gitter sickert, stammt von mir und von ihnen. Grässliche Tattoos zieren ihre schlimm zugerichtete Haut. Blicke treffen sich. Die ihren und meine und fürchterliche Qualen und Schmerzen und Ängste ziehen mich mit ihnen, mit der Traurigkeit und der Angst in ihren Augen wie in einem Strudel hinab. Sie sind Missgeburten und sie wurden gefoltert, weggesperrt und ich kann es mir nicht vorstellen, will keine Bilder in meinem Kopf zulassen, was sie alles Schlimmes mit ihnen gemacht haben. Plötzlich ist da ein Geräusch hinter mir. Ich blicke mich um, eine der Kreaturen hat mich gepackt. Ihr Arm ragt aus dem Gefängnis heraus, ihr Gesicht ist mir so nah. Ich erstarre, als ich ihn erkenne. Er ist einer von ihnen.

      

      Ein feines Weinen holt mich zurück in die Realität. In die Realität? Ich wische mir die Tränen aus dem Gesicht. Möchte wach bleiben und nie mehr müde werden, weil sich meine Träume so real anfühlen, als wäre ich tatsächlich dort gewesen, als wäre das tatsächlich passiert. Irgendwann in der Vergangenheit, Gegenwart oder es sind Erinnerungen an die Zukunft.

      Ich hocke da und die jüngsten Ereignisse senken sich wie ein graues Leinentuch über mich. Der mächtigste Mann dieses Kontinents hat mich heimgesucht und erwartet von mir, dass ich Asha überzeugen soll, ihre Kräfte in seinen Dienst zu stellen. Aber selbst wenn ich dazu bereit wäre, frage ich mich, wie ich das anstellen soll, wo ich die Energie hernehmen soll. Das Blut pocht gegen meine Schläfen, so als hätte ich Fieber, aber meine Haut ist eiskalt.

      Ich fühle mich total verausgabt, schaffe es nicht, mich zu bewegen, um auf Essen verzichten zu können. Es hätte sowieso keinen Zweck, mit der Natur zu tanzen, denn hier gibt es keine Natur. Nur Beton und unzerbrechliches Glas. Es bleibt mir also keine Wahl, ich muss essen,