Sophie Lang

Violet - Dunkelheit / Entfesselt - Buch 4-5


Скачать книгу

Durchqueren Hallen in unterirdischem Fels, auf Stegen und Brücken aus Metall, die alt und verrostet sind. Ein Wirrwarr aus verschachtelten Höhlen. Ein Labyrinth.

      Das ist kein offizieller Weg, denke ich.

      „Das ist keine Abkürzung“, sagt Fischer, als könnte er meine Gedanken gelesen. „Ich habe diesen Weg gewählt, weil er nicht überwacht wird. Hier werden wir nicht belauscht.“

      Warum verrät er mir das? Kann ich ihm vertrauen? Keiner meiner Sinne schlägt Alarm. Fischer bleibt stehen, damit ich zu ihm aufschließen kann. Er trägt eine wattierte Weste, eine braune Cordhose und schwarze Stiefel. Hat den Anzug eines Geschäftsmannes abgelegt. Eine seltsame Wandlung? Sicherheitschefs können offensichtlich tragen, was sie wollen. Anders als Vollstrecker in ihren kitschigen roten Rüstungen.

      Wir stehen auf einer wackeligen Brücke. Auf einem Metallgitter, das mir Blicke auf den 20 Meter entfernten, unter uns liegenden Boden ermöglicht, gerade so breit, dass wir nebeneinander Platz haben. Die Vollstrecker bleiben hinter uns zurück, die Waffen immer im Anschlag. Ich muss mich am Geländer festhalten, bin etwas außer Puste, vom langsamen Humpeln. Prima.

      Mechanischer Lärm umgibt uns.

      Diffuses, dumpfes, graues Licht.

      Beides stammt von einer gewaltigen Maschine mit tausenden blinkender Lämpchen und Rohren und metallenen Aufbauten, Kesseln Platten, Leitern und Leitungen. An einigen Stellen ist sie triefnass. An anderen staubtrocken. Die Maschine sitzt wie ein gewaltiger Drache aus Metall in dieser, ich nenne es: Höhle. Sie speit Dampf und heiße Luft hier und da aus. Es fehlt nur das Feuer, dann wäre alles perfekt inszeniert.

      Fischer spricht und ich habe Mühe ihn zu verstehen, weil die Maschine, der Drache zu laut atmet.

      „Faszinierend, wozu Ingenieure in der Lage sind. Sie kann Wasser und Sauerstoff wiederaufbereiten. Ein Relikt aus der Zeit vor der Sektionierung. Eine Vorkehrung für den Fall, dass man lange unter der Erde verbringen muss.“

      „Wozu sollte das nötig sein? Lange unter der Erde leben zu müssen?“, frage ich nach einer Sekunde heißer.

      „Die Angst vor Atomwaffen. Ein paar Kilo einer Substanz, die millionenfache Energie freisetzen kann. Der Komplex der neuen Forschungseinrichtung wurde über sehr alten Strukturen, alten militärischen Anlagen errichtet. Ab Sektorebene fünf kann alles abgeriegelt werden. Kein Luftmolekül, keine Funkwelle, nichts kann dann mehr raus oder herein. Bis sich die Schleusen wieder öffnen. Ein verlockender Gedanke. Findest du nicht?“

      Ich sage nichts, versuche mich nur irgendwie auf den Beinen zu halten, was ein Großteil meiner Aufmerksamkeit erfordert.

      „Die Maschine wurde nie abgeschaltet. Aus Furcht, man bekäme sie nicht mehr zum Laufen. Ich denke, es gibt keine Welt ohne Angst. Wirst du das tun, was der Oberste von dir verlangt?“, fragt Fischer.

      „Was verlangt er denn von mir?“

      „Dass du seiner Gruppe angehörst, seine Ziele verfolgst.“

      „Niemals“, sage ich. „Und du? Bin ich hier, weil du mich aushorchen willst, oder ist es etwa das hier, das du mir zeigen willst? Eine Maschine aus der Vergangenheit“, frage ich. Eine Vergangenheit, die sich nicht besser als meine Gegenwart anhört. Angst vor Atomwaffen? Streben die Menschen denn immer danach, etwas zu erfinden, das dazu geeignet ist, sich selbst auszulöschen.

      „Ja. Sie gehört dazu. Die Maschine soll dir zeigen, dass sich manche Dinge nie ändern, aber andere schon“, sagt er und dann holt er etwas aus seiner Jackentasche.

      Ich sehe ein kleines Buch. Kein zusammengefaltetes Flexscreen. Es ist altmodisch. Es besteht aus Papier, so wie mein Tagebuch. Mein Tagebuch, das ich verloren habe und ich nicht weiß, wer es hat.

      Fischer schlägt es auf, blättert durch die Seiten und ich sehe Bilder. Eine Frau mit braunen Haaren, mittleren Alters. Sie trägt einen locker gestrickter Pullover. Er ähnelt vom Stil Fischers Weste. Sie trägt eine Mütze und darunter befindet sich ein Gesicht, das lächelt und so glücklich wirkt. Sie umarmt zwei Kinder. Ein Junge und ein Mädchen. Vielleicht acht oder zehn Jahre alt. Das Mädchen ist klein und zierlich, sieht aus wie eine Maus. Wunderhübsch und der Junge hat ein Lächeln, dass mir das Herz wild in der Brust flattert. So unbekümmert und mild. Eine Familie. Eine echte Familie, denke ich wehmütig.

      „Das ist meine Liebe“, sagt Fischer und ein Lächeln ruht in seinen Mundwinkeln. Ich schweige und schlucke Staub in meiner Kehle hinunter.

      „Ich hoffe, ich werde sie eines Tages wieder in meine Arme schließen können. In einer besseren Welt. Ohne Angst.“

      Warum sagt er mir das?

       Kapitel 5

      Ich habe es von Fischer nicht erfahren, warum er mir seine liebe Familie offenbart hat.

      Stattdessen gehen wir weiter, lassen die Bilder, Erinnerungen an Frau und Kinder bei dem Drachen zurück.

      Ich folge ihm, humpelnd.

      Wir erreichen nach einer gefühlten Unendlichkeit eine Tür aus feuerfestem Stahl, das verrät mir das Piktogramm an ihrer Seite. Wir gehen hindurch, stehen wieder in einem Korridor. Weiße Fliesen, helle LEDs, kein Rost und Lärm. Hier ist es kälter oder bilde ich mir das nur ein. Die Gänge riechen nach Sauberkeit.

      Wir befinden uns wieder im überwachten Bereich, in offiziellen, unterirdischen Sektoren, erfahre ich von Fischer, der mir etwas verheimlicht, der aber auch auf meiner Seite zu stehen scheint. Hoffe ich. Oder will er auch nur, dass ich auf seine Seite wechsle?

      Noch eine Tür und ein weiterer Korridor. Diese Anlage ist so unüberschaubar, so groß, so unterirdisch und unnatürlich. Ich vermisse die Bäume und das Spiegeln der weißen Wolken im See. Den blauen Himmel und den Wind, der an meinen Haaren zieht.

      Wir sind angeblich da. Kommen jetzt in eine kleine Halle, blicken in etwas hinab, das mich an ein riesiges Hallenbad, nur ohne Wasser, erinnert. Unter mir, in den Wänden des großen Beckens, entdecke ich die gleichen Panzerglasscheiben wie die in meiner Zelle.

      Ich kann nicht sehen, wer oder was sich dahinter befindet und hier sind noch mehr Vollstrecker in Rüstungen, die uns gegenüber stehen und ihre Waffen in das Becken und auf mich richten. Ich habe schreckliche Vorahnungen und im Augenblick nur einen Wunsch, nicht an einem solchen Ort sterben zu müssen.

      Fischer führt mich in einen weiteren Raum, nebenan. Weiß gekalkte Mauern und eine Scheibe mit Blick in das Becken. Es ist hier so hell, dass sich meine Augen erst daran gewöhnen müssen. Dann sehe ich Screens, wo immer meine Augen hinblicken und Schaltpulte. Ich sehe Korridore auf den Screens und Zellen in denen Menschen, junge Männer wie Sardinen in einer Büchse zusammengepfercht wurden. Ein Schauer läuft mir über den Rücken. Für einen Moment glaube ich, ich habe etwas gesehen.

      Nicht etwas, sondern jemanden.

      Ich schüttle den Gedanken ab, weil ich mich getäuscht haben muss. Jetzt erst entdecke ich den Mann, der hinter mir steht. Wie ist er da hingekommen?

      Der Mann ist mir so nahe, dass ich die Staubkörner auf seinen Brillengläsern sehen kann.

      Er ist attraktiv, daran besteht kein Zweifel. Hat eine fast schon dramatische Ausstrahlung, die den Raum in seiner unmittelbaren Nähe zu krümmen scheint, sodass er in noch hellerem Licht erscheint. Als hätte jemand einen Spot auf ihn gerichtet.

      Er ist außerordentlich groß, wirkt extrem hoch, groß, breit, kraftvoll, etwas Felsiges geht von ihm aus und wenn ich Fischer neben ihm betrachte, wirkt er noch größer. Seine Gesichtszüge, sein dunkles Haar, die braunen Augen sind bemerkenswert schön. Sein Körper sieht zäh, geschmeidig, muskulös aus, von animalischer Grazie und herausfordernder Sexualität.

      Sein Mund ist breit und markant, sein Kinn breit und viereckig, wie es sein muss, um ein Gegengewicht zur Stirn zu bieten.

      Es ist seine Ausstrahlung, sein Aussehen, das mir einen Schauer verursacht. Nur der teuflische Ausdruck in seinen Augen macht mir Angst und jagt