Sophie Lang

Violet - Dunkelheit / Entfesselt - Buch 4-5


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Gebirgszüge, Flüsse, Täler, ganze Landschaften, Städte und Felder und an den Seiten ein blauer Ozean. Ein Miniaturmodell so realistisch, als könne man es tatsächlich anfassen.

      „Weißt du, was das ist?“, fragt der Oberste. Trish bleibt weiter stumm. Die Frage ist an mich gerichtet.

      „Eine Karte eines Kontinents. Nordamerika“, sage ich.

      „Vor 60 Jahren wäre diese Frage eine der einfachsten auf der Welt gewesen. Heutzutage ist es keine Selbstverständlichkeit, das zu wissen. Aber ich muss gestehen, ich habe damit gerechnet, dass du die Antwort kennst. Genauso wie du bestimmt weißt, dass es nicht die Bestien sind, denen dieses Land gehört, sondern dass ich es bin.“

      Ich sage nichts, schaue zu Trish, die mir direkt in die Augen sieht. Nicht wie damals im Skygate, sondern interessiert, neugierig, ja fast schon so, als würde sie jede meiner Bewegungen, meiner Gebärden und Äußerungen studieren. „Weißt du, warum das so ist? Warum es wichtig ist, dass sich die Anzahl der Wissenden in überschaubaren Grenzen hält?“ Ich sitze da und sage, wie schon fast die ganze Zeit über, nichts, komme mir vor wie bei einer Prüfung der Gesandten.

      „Weil Wissen Macht bedeutet“, antwortet Trish anstatt mir. Es ist das erste, das sie sagt. Sie hört sich an wie immer.

      „Würdest du sagen, dass ich mächtig bin?“, fragt er mich jetzt. Wieder eine Frage, die für mich nichts bedeutet, außer dass ich mehr über meinen Feind erfahre, dem ich noch nie so nahe war.

      Könnte ich alles beenden, wenn ich ihn hier und jetzt umbringen würde? Wäre Nordamerika dann frei? Ist es das, was die Prophezeiung von mir erwartet? Das Ende, das in dem kleinen Buch beschrieben wird, das direkt vor mir auf dem Tisch liegt. Er hat es gelesen und fürchtet sich nicht vor mir. Warum fürchtet sich niemand vor mir?

      Wegen meiner Freunde, fällt mir Fischers Erkenntnis wieder ein. Wegen Adam, denke ich. Plötzlich habe ich einen Gedanken, der mich aus der Spur wirft. Der Oberste ist im Besitz des weißen Buches, der Prophezeiung. Hat er womöglich auch Jesses Flexscreen mit den geheimen Botschaften und hat er auch mein Tagebuch? Er weiß, dass ich Adam liebe. Hat er mich dadurch in seiner Hand?

      „Ja, ich denke du bist mächtig“, sage ich dann und hoffe, dass meine plötzliche, zurückgekehrte Nervosität niemand bemerkt. Bei Trish bin ich mir da nicht sicher, sie hat eins ihrer Augen wie früher verengt und sieht mich scharf an. Der Oberste tippt etwas Neues auf dem Touchfeld ein und die Karte von Nordamerika schwebt jetzt über dem Tisch und verformt sich, erweitert sich, bis sich daraus eine Kugel, ein blauer sich drehender Ball manifestiert. Die Kugel ist der Planet Erde, nur hunderttausendmal kleiner.

      „Falsch“, sagt der Oberste und ich schrumpfe unwillkürlich ein paar Zentimeter zusammen. „Der, dem das alles gehört, der kann sich wahrhaftig mächtig nennen.“

      Er spricht von der ganzen Welt. Er ist geisteskrank.

      „Sieben Kontinentalplatten werden von sieben Obersten regiert.“ Ich denke, Regieren ist nicht der richtige Ausdruck, aber ich schweige. „Überall gibt es Bestien. Hier und hier und hier“, sagt er und tippt wahllos auf die Erde, die dabei flimmert, als gefiele es ihr, der Projektion, nicht von ihm berührt zu werden. „Und jeden Tag kommen Tausende dazu. Wir halten sie überall auf allen Kontinenten in Schach.“ Genauso wie alle unwissenden Menschen, ergänze ich in Gedanken. „Aber stell dir vor, es gäbe eine Möglichkeit, sie zu mobilisieren, alle zu kontrollieren.“ Jetzt weiß ich, was er vorhat.

      „Asha“, purzeln die zwei Silben über meine Lippen. Trish zieht eine Augenbraue hoch. Der Oberste sieht mich verwundert an, dann spricht er weiter. Mist, denke ich, sie wissen nicht, dass ich es weiß. Dass ich Ashas Fähigkeiten kenne. Sie können nicht im Besitz von Jesses Flexscreen sein, denn sonst wüssten sie, dass Asha mit Bestien kommunizieren kann.

      Aber wer hat es stattdessen? Fischer, überlege ich. Der Mann, der für die Sicherheit zuständig ist und die Röhren hat durchsuchen lassen, aus denen Hope, Neo, Adam und ich gekrochen kamen.

      Ich folge wieder den Ausführungen des Obersten und wünsche mir, ich hätte keine Ohren, wäre taub für seine Ansichten der Dinge. Während er von der Herrschaft über die Erde spricht, blicke ich immer wieder zu Trish. Erkennt sie mich tatsächlich nicht wieder? Und kann sie das gut finden, was dieser kranke Geist neben mir von sich gibt?

      Als sich unsere Blicke wieder treffen, lächle ich. Ein Versuch, die alten Zeiten zurückzuzaubern. Wir haben uns nie gut verstanden, fällt mir jetzt ein. Aber sie hat mich ans Ende der Liste bei der Prüfung gesetzt, als ich schwer verletzt war. Ich war ihr nicht gleichgültig. Ich weiß, sie wurde gelöscht, aber sie ist immer noch Trish.

      Ich weiß nach dem Aufenthalt in Kristens Einrichtung nur zu gut, wie sich die Welten, die äußere und die innere anfühlen, wenn man gelöscht wurde. Aber ich weiß auch, dass ich einen freien Willen hatte. Zumindest bis zu dem Zeitpunkt, als ich Adam an die Kehle gesprungen bin. Ich frage mich, wie ich einen Zugang zu ihr bekommen kann? Eine Tür aufstoßen kann, denn meine innere Stimme sagt mir, dass wir sie mehr brauchen als sie ahnt. Nun, vermutlich lächle ich genau aus diesem Grund und weil mir nichts Besseres einfällt. Trish lächelt aber leider nicht zurück. Sieht mich stattdessen nur weiterhin ununterbrochen kühl und forschend an. Ich könnte sie etwas fragen, aber ich will nicht, dass der Oberste das Vertrauen in seine Assistentin in Frage stellt. Sie kann uns allen helfen, wenn sie nur auf der richtigen Seite stehen würde.

      „Du erinnerst dich, hast du gesagt. Du weißt also, dass Asha deine Schwester ist. Du liebst deine Schwester und ich will, dass du deine Schwester überzeugst, dass sie mir dient“, sagt der Oberste jetzt. „Ich habe Symbionten erschaffen und ihr beide seid die einzigen Überlebenden. Bis vor wenigen Tagen dachte ich, dass ihr keine Fähigkeiten entwickelt habt, dass ihr nichts wert seid. Bis Asha die Bestien kontrolliert hat. Das ist mehr wert als tausend Symbionten. Ich will, dass sie die Bestien für mich in den Krieg schickt und du wirst sie davon überzeugen, dass es richtig ist, das für mich zu tun.“

      Ich bin taubstumm. Er weiß es doch.

      „Freija, hör mir zu, ich werde dir keine zweite Chance geben zu kooperieren. Entweder bist du für oder gegen mich. Es gibt kein Dazwischen. Entweder identifizierst du dich mit mir, oder ich werde Adam und Hope und alle, die dir lieb sind, vernichten“, sagt er und ich bemerke, wie er zu Trish sieht. Sie nimmt davon keine Notiz. Ich schon.

      „Ich habe die Lampe im Bad aus Versehen kaputt gemacht“, sage ich wieder.

      „Was?“

      „Die Lampe im Bad ist kaputt“, sage ich.

      „Was erzählst du da für einen Schwachsinn?“

      „Die Lampe muss repariert werden…“, flüstere ich.

      „Ganz wie du meinst“, sagt der Oberste.

      Ich befürchte, er wird die Lampe nicht reparieren.

       Kapitel 4

      Die Zeit, Stunden verbringe ich wie in Trance. Die Uhr, die ich nicht besitze, zehrt Minuten auf. Ich kann nicht sagen, wie viele Stunden später es sind, als mich Fischer aus meiner Zelle befreit. Als ich zerknirscht hinter ihm herhumple. Schwerfällig dem Mann folge, der kein Gesandter ist, aber der die Drohnen kommandiert, die mich und Hope fast getötet haben. Er ist der Sicherheitschef von Halo. Das ist der Gesandte, der diese Forschungseinrichtung kontrolliert. Und er ist der, der gegen das Protokoll verstoßen hat, weil er mit mir gesprochen hat.

      Ich weiß nicht, wohin es geht, weiß nur, dass er mir etwas zeigen will. Ich denke an das Gespräch mit dem Obersten zurück und erwarte nichts Gutes.

      Uns folgen schwer bewaffnete Vollstrecker. Ich hätte nicht die geringste Chance zu kämpfen oder zu fliehen, bestimmt auch nicht mit einem gesunden Bein, denn ich fühle mich schwächer, so als ob das Gespräch mit dem Obersten von meinen Energiereserven gezehrt hat. So als ob mich seine bloße Anwesenheit erschöpft hat.

      Die Halle mit den Laboratorien, mein Zuhause, haben wir vor mehr als einer halben Stunde verlassen. Wir sind jetzt