Thomas Spyra

Es war nicht meine Schuld


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ein Musikant, spielte wunderbar mit seiner Fiedel zum Tanz, bei Hochzeiten und sonstigen Festlichkeiten.

      Miriam und Mordechai Schapira waren, so wie die Nachbarn und Eltern von Elias Holderlind, Josephs gleichaltrigem Freund, arme Verwandte der reichen Dynastien jüdischer Kaufleute in der Domstadt. Sie wohnten in einem Hinterhof der Judengasse, unweit zur Synagoge mit Blick auf den mächtigen Dom.

      «Heute gehen wir zur Christmette, der Gott der Christen wird geboren.»

      «Wieso? Gott lebt im Himmel und er ist immer dort.»

      «Ich weiß mein Jingele[Fußnote 1], doch die Leute hier glauben etwas anderes. Du hast vor zwei Wochen gehört, wie der Lehrer in der Synagoge aus dem Propheten Jesaja gelesen hat?»

      Joseph nickte, erinnerte sich aber an nichts, wie so oft war er eingedöst. Es war ihm langweilig und er wartete sehnsüchtig auf das Ende des Gottesdienstes.

      «Du hast gehört, wie er von der Geburt des Messias durch eine Jungfrau erzählt hat. Ihr Sohn mit Namen Immanuel, das heißt, Gott sei mit uns, soll der Retter sein, auf den wir warten.»

      «Das hab ich schon mal gehört!», freudig unterbrach er seinen Vater.

      «Die Christen meinen aber, dass der Sohn von Maria, der Messias sei. Wir glauben dies nicht und warten noch auf ihn.» Wieder nickte der Junge zustimmend, verstand nicht, von was Vater erzählte.

      «Vor vielen hundert Jahren wurde dieser Jesus von den Römern gekreuzigt, die Christen geben uns Juden die Schuld daran, darum hassen sie uns.»

      Mordechai nahm einen Schluck aus der Teeflasche und fuhr fort: «Er wird jedes Weihnachten neu geboren, dann zu Ostern wird er getötet. Du hast schon hinterm Dom das große Holzkreuz gesehen?»

      Joseph nickte.

      «So ein Kruzifix, wie man das Holz mit dem Mann nennt, soll auch ihm Dom stehen, nur viel herrlicher in Gold gefasst. Der Gott bei den Christen heißt Jesus. Aber so genau weiß ich das nicht, da fragst du den Rebbe[Fußnote 2] Menachem Mendel.»

      «Wohnt der Christengott im Dom?»

      «Ja, ich glaube schon, sie sagen, dies sei Gottes Haus.»

      «Aber Papa, hängt der immer am Kreuz und ist nicht im Himmel?»

      «Doch, irgendwie kommt er dann dort hin. Frag nicht so viel! Jetzt sei still die Leute kommen.» Er stimmte seine Geige und fing an zu fiedeln.

      Langsam kamen die Menschen aus der Kirche, auf die schneebedeckten Kopfsteinpflastergassen regnete es, es wurde spiegelblank.

      Joseph kuschelte sich an seinen Vater, er war müde und fror.

      «Drek Veter haynt[Fußnote 3], die Leute zieht es schnell nach Hause, keine gute Zeit für uns Bettler.»

      Untergehakt stützten sich die Gottesdienstbesucher, die aus der Christmette strömten. Einige rutschten und fielen hin, purzelten durcheinander.

      Joseph fing an zu kichern: «Papa, schau den Goi[Fußnote 4] hats auf den Arsch gehauen.»

      «Sei still, nicht Lachen! Komm, helfen wir ihm.»

      Sie rutschten die paar Schritte auf den Mann zu, wollten behilflich sein.

      «Nimm deine Finger von mir, dreckiger Jude!», fauchte sie der vornehm gekleidete Herr an.

      Der kleine quirlige Mordechai, der für jedermann ein Lächeln, ein nettes Wort hatte, packte abrupt seinen Sohnam Arm und zerrte ihn schweigend weg.

      «Wieso sagt der, dreckiger Jude? Ich habe mich heute extra gewaschen, bevor wir gegangen sind.»

      «Das verstehst du noch nicht, komm, wir gehen nach Hause, heute wird das hier nichts mehr.»

      Vorsichtig schlitterten sie den kurzen Weg bis in die Judengasse. Mutter hatte kräftig eingeheizt, sodass sich die beiden schnell aufwärmten.

      Ein paar Tage später, die Christen hatten schon das neue Jahr, 1793, begrüßt, berichtete der Nachbar seinem Freund: «Ich habe Elias zur Talmudschule[Fußnote 5] angemeldet und da meinte der Rebbe, du sollst Joseph auch zum Unterricht schicken.»

      «Das ist uns zu teuer, dafür haben wir kein Geld. Ich bin froh, wenn die Kinder genug zum Essen haben», er schüttelte mit dem Kopf.

      «Geh doch mal zum Rebbe Mendel, vielleicht gibt es eine Lösung.»

      Nach dem Gottesdienst am Samstag sprach Mordechai mit dem Rabbiner, der den Kaufmann und Ratsherren Levin Schapira dazu rief.

      «Herr Schapira, Ihr habt mich neulich darum gebeten, dass ich euch Bescheid gebe, wenn irgendwo die Armut zu groß ist, jetzt habe ich hier jemanden.» Mendel winkte Mordechai und Joseph heran.

      Misstrauisch blickte der Kaufmann von einem zum anderen.

      «Um wie viel geht es, Rabbi Mendel?»

      «Nicht viel, nur den Obolus für die Talmudschule.»

      «Ach so, ja meinetwegen. Wer sind sie?» Levin deutete auf die beiden neben ihm Stehenden.

      «Das ist Joseph mit seinem Vater Mordechai Schapira, sogar ein entfernter Verwandter von euch, so viel ich weiß.»

      «Mordechai? - Waren euer Großvater und meiner nicht Brüder?»

      «Ja Herr», Josephs Vater verbeugte sich respektvoll.

      «Also gut! Einverstanden, aber nach der Schule kommt der Junge zu mir ins Kontor und arbeitet die Unkosten ab. Dabei lernt er gleich etwas vom Tuchhandel.»

      Die beiden besiegelten die Vereinbarung mit Handschlag.

      Der aufgeweckte Joseph freute sich jedes Mal auf den Unterricht, der Rebbe erzählte vieles aus der weiten Welt und über ihre Heimatstadt.

      «Der Dom, im 11. Jahrhundert erbaut, diente einst als zentrale Grablege für die Kaiserdynastie der Salier. Das riesige Areal drumherum ist freies, kaiserlich verbrieftes Land und gehört der katholischen Kirche.

      Anfangs wurden wir Juden vom Kaiser und den Domherren gefördert, aber im Laufe der Jahre kam es immer wieder zu antisemitistischen Ausschreitungen, bis zum Niedergang unserer einst blühenden Gemeinde. Jüdische Häuser und Geschäfte wurden geplündert, man schlug uns grundlos, vergewaltigte die Frauen und vertrieb uns. Heute nennt man das seit neustem Pogrom[Fußnote 6]. Viele wanderten nach Frankreich aus.

      Nach einer ruhigen Zeit entstand in den letzten fünfzig Jahren wieder eine jüdische Gemeinde hier in Speyer. Zu den Zugewanderten gehörte auch die Familie Mosche Schapira, also deine Großeltern, Joseph», erklärte der Rebbe.

      Als der Junge von der Schule heimkam, fragte er den Vater nach seiner Familie aus.

      «Deine Großeltern meinten, die Zeiten haben sich geändert. Ihre Vorfahren stammten ursprünglich aus Speyer, deshalb dachten sie, hier lässt es sich wieder besser Leben. Aber wir waren und bleiben die armen Juden», erzählte Mordechai desillusioniert seinem Sohn.

      Joseph lernte fleißig, nicht nur in der Schule, sondern auch beim Tuchhändler Levin Schapira. Bald kannte er sich mit den Tuchballen und Stoffen sehr gut aus.

      Am Sabbat nach seinem dreizehnten Geburtstag, im März 1795, war Josephs großer Auftritt in der Synagoge, denn er wurde nun ein Bar Mizwa, ein Gebotsmündiger.

      Tagelang hatte der schlaksige hoch aufgeschossene und braungelockte Junge gelernt. Die Nacht davor war er so aufgeregt, dass er nicht einschlafen konnte. In seinem Bauch rumorte es fürchterlich. Er schlich sich mehrmals hinunter in den Hof auf das Aborthäuschen.

      Es gehörte zu seiner Aufgabe, die Segenssprüche über die Thora vorzutragen. Dabei umhüllte er sich zum ersten Mal mit einem Gebetsmantel, so wie ihn die erwachsenen