Rita Renate Schönig

Düsteres Erbe


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siebenundsiebzig Jahre.

      Montag, 17. Juni 2013 – 1. Tag der Ermittlungen

      

      Das Haus war niedergerissen, die Bäume gefällt und das Buschwerk im Gartengrundstück entfernt. Jetzt stieß die breite gezackte Schaufel des Baggers in die Erde, die seit Jahren weder von einem Spatenstich noch von einer Hand, die Unkraut rupfte, in ihrer Ruhe gestört worden war.

      Lange Zeit hatten die Anwohner versucht, sich gegen diese Verschandelung ihrer Straße zu wehren. Dreistöckige Gebäude zwischen niedrigen Häusern von ihren Bewohnern mit Eifer und Aufopferung eigens gebaut – unvorstellbar. Aber selbst die Bürgerinitiative „Geliebte Altstadt“ kam nicht gegen die Bebauungspläne an. Der Erfolg tendierte schon deshalb zum Nullpunkt, weil es sich bei diesem Wohngebiet nicht direkt um den historischen Kern der Stadt handelte und etwa 100 Meter außerhalb der Stadtmauer lag.

      „Was machst de, wenn weeche der Arbeite dein Hof absackt oder Risse an deinem Haus auftauche?“, schrie Georg Lenz, genannt Schorsch, seinem Nachbarn, Karl Neumann, ins Ohr. Dessen Haus grenzte direkt links an das Grundstück an.

      Der Einwand war nicht von der Hand zu weisen, da keiner so genau wusste, welche Überraschungen im Erdreich lauerten.

      Im Mittelalter schützte ein tiefer Wassergraben auf seiner Westseite die Stadt gegen feindliche Überfälle; der Stadtgraben, ein Fuß und Radfahrweg, wies namentlich noch heute darauf hin. Erst vor Kurzem hatte es bei einem dort zuvor errichteten Mehrfamilienhaus wegen ständigem Wasserzulauf zu wochenlanger Bauverzögerung geführt. Natürlich konnte von der Baubehörde ein direkter Zusammenhang nicht eindeutig festgestellt werden. Zudem flossen bis vor einigen Jahrzehnten mehrere Bäche – wenn auch nur unterirdisch – durch die Altstadt. Demnach konnte es durchaus möglich sein, dass der Boden an verschiedenen Stellen noch immer in Unruhe war.

      „Also, ich würd’ die glatt verklage. Die müsse des bezahle.“ Mit die meinte Schorsch die Bauträgerfirma, die das Gelände aufgekauft hatte um einen modernen Wohnkomplex zwischen den Häusern, die fast alle vor dem Zweiten Weltkrieg erbaut worden waren, zu errichten.

      Karl Neumann antwortete nicht. Sein Blick richtete sich starr auf die unbarmherzige Baggerschaufel. Ebenso wie Herbert Walter und die allzeit redselige Gundela Krämer, deren Haus gegenüber anrainte. Auch sie hielt ihren Mund. Wobei jeder der drei aus verschiedenen Gründen die Arbeiten argwöhnisch beobachtete.

      Die Krämers Gundel bedauerte, dass der morgendliche Ausblick aus ihrem Küchenfenster nicht mehr so sein würde wie bisher. Keine wild blühenden Blumen auf einer ökologisch unberührten Wiese und keine Bäume mehr, in denen Vögel zwitscherten. Und wie die späteren Nachbarn sich anließen, stand sowieso auf einem ganz anderen Blatt.

      Zwar hatte Gundela Krämer mit den Häuslers, um deren Grundstück es sich handelte, kaum Kontakt gehabt, trotz ihrer stetigen Bemühungen mit Wilhelmine ins Gespräch zu kommen. Der Grund – ganz einfach: Gundula war evangelisch und somit in Johannes Häuslers Augen eine ketzerische Abtrünnige. Mit so einer gab sich der gestrenge Katholik nicht ab, was folgerichtig ebenso für seine Familie galt, die der Patriarch streng kontrollierte.

      Umso mehr Genugtuung bereitete es Gundel noch im Nachhinein, dass der Häusler offenbar keine Ahnung gehabt hatte was seine damals unmündige Tochter Edeltraud, vor einigen Jahrzehnten, in lauen Sommernächten im Garten getrieben hatte.

      Georg Lenz schaute eher ängstlich auf die Ausgrabungen. Und ohne aufzublicken wusste er, dass Josef Richter, sein langjähriger Freund und Nachbar, mit gleicher bedenklicher Miene auf seinem Balkon stand. Beide, Sepp wie er, hofften sie auf Gottes Barmherzigkeit und darauf, dass sich das Bibelwort Asche zu Asche und Staub zu Staub, über die Jahre hinweg gesehen, verwirklicht hatte.

      Noch gestern, bei einigen Gläschen Schnaps, hatten sie sich über die eventuell entstehenden Folgen unterhalten, kamen aber erneut zu dem Schluss, dass sie im Grunde genommen ja doch nichts damit zu tun hatten. Dennoch fühlten sie sich, auch nach einer halben Flasche Obstler, nicht besonders wohl in ihrer Haut.

      Die Gedanken des Karl Neumann, der seine Nachbarn um mindestens eine bis eineinhalb Kopflänge überragte, hingen ebenfalls in der Vergangenheit fest. Er erinnerte sich an die Zeit mit Edeltraud. Wie er ihr als sie Kinder waren, bei den Hausaufgaben half und später – fast erwachsen – sie sich in lauen Sommernächten im Garten und unter dem Apfelbaum liebten.

      Jäh verstummte der Lärm der Maschine und schlagartige Stille legte sich über das Areal. Der Chef der Bauträgerfirma auf der anderen Straßenseite, gerade noch vertieft im Gespräch mit dem Bauleiter, schaute erstaunt auf und drehte sich um.

      „Was ist los? Warum geht es nicht weiter?“

      Die Baggerschaufel taumelte über dem schon beachtlich tiefen Loch. Beide gingen sie die paar Schritte bis zum Absperrband, um zu sehen, was die Arbeiten unterbrach und – erschauderten. Auf dem sandigen Boden kullerte ein Schädel herum, bis er schließlich in einer kleinen Mulde liegen blieb.

      Nach nur einer kurzen Schreckenssekunde blaffte der Chef der Bauträgerfirma: „Wenn das ein Scherz sein soll, dann ist er kräftig danebengegangen.“ Erneut blickte er in die Runde der Nachbarn und anderen Schaulustigen. Aber in deren Augen lag ebenfalls nur blankes Entsetzen.

      „Verdammte Scheiße“, entfuhr es dem Bauleiter und zückte sein Handy, während er sich von dem grausigen Fund abwandte.

      Verstohlen hob Schorsch Lenz seinen Blick zu Sepp Richter, der mit kreidebleichem Gesicht auf seinem Balkon stand.

      Fünf Minuten später ertönte das Martinshorn des Notarztwagens, gefolgt von zwei Polizeifahrzeugen. Einer der Streifenwagen hielt direkt an der Stelle des Geschehens. Ein nachfolgendes Fahrzeug verstellte quer die Einfahrt zur Straße.

      „E bissje spät für die Sanis, tät ich meine“, stellte jemand der Zuschauer fest und kicherte.

      ***

      „Nicole! Nicooole!“ Helene Wagner pochte wild gegen die Tür und presste zusätzlich ihren Daumen auf die Klingel.

      Zum x-ten Mal schwor sich die Kriminalhauptkommissarin diesen durchdringenden Ton zu ändern. Sie schlurfte zur Tür und öffnete.

      „Um Gottes Willen, Helene, was ist denn passiert? Brennt das Haus?“

      „Papperlapapp, da wäre schon längst die Feuerwehr hier. Stell dir vor, die haben eine Leiche gefunden.“

      „Hä, was?“ Nicole sah ihrer Vermieterin hilflos nach, die schnurstracks an ihr vorbei in den Wohnraum rauschte.

      „Eine Lei-hei-che und mausetot.“

      „Sind sie meistens“, kommentierte Nicole gähnend und folgte Helene.

      „Ist das nicht aufregend?“

      Die Kriminalbeamtin zuckte mit den Schultern.

      „Ja, ja. Du hast ja tagtäglich damit zu tun. Für dich ist so etwas das Natürlichste der Welt.“

      „Natürlich ist das keineswegs und glücklicherweise habe ich nicht jeden Tag mit Toten zu tun“, widersprach Nicole. „Und außerdem…“

      „Sabbel nicht“, wurde sie unterbrochen. „Wir müssen zum Tatort!“

      „Ich bin im Urlaub. Schon vergessen? Außerdem bin ich gerade erst aufgestanden.“

      „Na umso besser, dann bist du ja ausgeschlafen. Also, komm in die Puschen, Deern.“

      Nicole ging zur Küchenzeile, ohne auf die Direktive ihrer Vermieterin einzugehen. „Willst du einen O-Saft oder ein Glas Milch?“

      Helene rümpfte die Nase und schielte in Richtung der blubbernden Kaffeemaschine. „Wenn schon, dann Kaffee.“

      „Glaubst du dein Blutdruck verträgt noch mehr Aufregung?“

      Helenes Blick ließ Nicole augenblicklich verstummen. Sie goss