Rita Renate Schönig

Düsteres Erbe


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zu lassen.“

      „Er hat dich aber gewiss nicht beauftragt zuvor nach eventuellen Schwachstellen durch eine Probefahrt zu suchen, oder? Sieh zu, dass der Schlitten heute Nachmittag dort ist wo er hingehört.“

      Hansen erwiderte nichts. Tippte sich salutierend mit zwei Fingern an die Stirn und floh mit weit ausholenden Schritten zum Haus neben Karl Neumanns Grundstück, wo er dauerhaft seinen Daumen auf die Klingel drückte.

      ***

      Josef Richter schaute in den blauen Himmel über ihm. Trotz der wärmenden Sonnenstrahlen der Morgensonne zog ein kalter Schauer durch seinen Körper. Jetzt war eingetreten, was er in den letzten Jahrzehnten befürchtet und immer wieder verdrängt hatte. Seit bekannt wurde, dass das Grundstück verkauft war und ein neues Gebäude auf dem Anwesen der Häuslers errichtet werden sollte, wurde er täglich nervöser. Selbst sein eigens verordnetes Betthupferl, ein paar Gläschen Obstler, der ihm nachts wenigstens einige Stunden Schlaf ermöglichte, konnte an diesem Umstand nichts ändern. Jahrelang hatte er gebetet, diesen Tag nicht erleben zu müssen. Doch so einfach entkam man seiner Vergangenheit nicht und Gott ließ nicht mit sich pokern. Das wurde Sepp zur Stunde schmerzhaft bewusst.

      „Vadder!“, rief Elfriede aus dem Wohnzimmer. „Vadder, die Polizei ist hier. Sie will mit dir rede.“

      Sepp erschrak. So schnell hatte er nicht mit denen gerechnet. Ein uniformierter Polizeibeamter Josef Maier und ein weiterer Mann standen im Türrahmen.

      „Herr Richter, wir hätten ein paar Fragen an Sie.“ Der Mann hinter dem Polizisten kam einige Schritte näher und hob ihm eine Karte entgegen. „Weinert, Kriminalpolizei.“

      Sepp versuchte seine Furcht unter Kontrolle zu bekommen. „Eh was? Was hawe Sie gesacht?“

      „Sie müsse schon e bissje lauter rede. Mein Vadder hört net gut.“ Elfriede nahm Ihren Vater am Arm. „Mein Gott, du bist ja ganz kalt und zitterst. Komm ins Zimmer.“ Sie schloss die Balkontür und bat die Beamten, am Wohnzimmertisch Platz zu nehmen. Die Decke vom Kanapee legte sie Sepp um die Schultern. Der schüttelte sie unwillig wieder ab. „Loss des!“

      Harald holte tief Luft, um seiner Stimme die entsprechende Lautstärke zu geben. „Weinert ist mein Name. Herr Richter, ich bin von der Krimimalpolizei Offenbach. Oberkommissar Maier von der hiesigen Polizei kennen Sie vielleicht. Wir möchten Ihnen ein paar Fragen stellen.“

      „Warum schreie sie so? Ich bin nett taub. Ich heer nur schlecht.“

      Oberkommissar Maier verbiss sich ein Grinsen und Weinert startete einen neuen Versuch, eine Oktave niedriger. „Herr Richter, ich nehme an, sie haben mitbekommen, dass auf dem Grundstück ihrer Nachbarn eine Leiche gefunden wurde.“

      Sepp brummte irgendetwas von „net blind“.

      „Wie mir ihre Tochter sagte, kannten Sie die Häuslers gut. Deshalb können Sie uns …“

      „So wie mer halt soi Nachbern kenne tut“, unterbrach Richter ihn barsch und warf Elfi einen missmutigen Blick zu.

      „Sie wohnen fast ein ganzes Menschenalter in dieser Straße. Da kennt man seine Nachbarn mehr als nur gut. Besonders in so einem Ka …, eh einer Kleinstadt. Gab es vielleicht Streitigkeiten zwischen Ihnen und den Häuslers, oder weshalb …?“

      „Bleedsinn. Wenn des jemand behauptet hot, dann lücht der.“

      „Dann haben Sie sich also gut verstanden, mit den Häuslers?“

      „Hm“, brummte Sepp. „Des jetzt aach widder net. Der Hannes hot nie viel gered.“

      „Herr Richter.“ Harald bemerkte, wie er langsam die Geduld verlor. „Dort drüben“, er zeigte in die Richtung, in der das Haus der Häuslers gestanden hatte, „wurde vielleicht die Leiche eines amerikanischen Soldaten gefunden.“ Das wollte und durfte er eigentlich gar nicht sagen. Aber jetzt war es heraus. „Es wurde uns mitgeteilt, dass Maria Häusler, die Schwester von Herrn Johannes Häusler mit einem Amerikaner befreundet gewesen sein soll. Also, wenn Sie darüber etwas wissen, dann reden Sie.“

      Sepp fixierte das Muster der gestickten Tischdecke. „Die Amis lungerte doch üwerall hier rum. Die warn hinner jedem Rockzippel her und die Maria ...“ Er erkannte, dass er einen Fehler gemacht hatte. „Ach.“ Er winkte ab. „Des is doch alles schon so lang her. Wen intressiert des heut noch? Außerdem bin ich en alte Mann und moi Gedächtnis is aach net mehr des beste. Jetzt hab ich Hunger. Elfi, is des Esse schon ferdisch?“

      Maier und Weinert tauschten einen Blick. Beide waren sicher, dass Josef Richter viel mehr wusste, als er im Moment zugeben wollte. Darüber hinaus war bekannt, dass das Langzeitgedächtnis bei Leuten in seinem Alter erstaunlich gut funktionierte, während sie Dinge, die in naher Vergangenheit passierten häufig vergaßen. Aber heute würden sie hier nicht viel weiterkommen.

      ***

      „Bratkartoffel! Helenchen, du bist ein Schatz.“

      „Gut, dass du das einsiehst.“ Helene lächelte. „Und, was gibt es Neues?“

      „Bitte, bitte, ich habe einen Bärenhunger. Außerdem kann ich mit vollem Magen besser denken.“

      „Sag ich doch immer. Würdest du öfter etwas Ordentliches essen und nicht immer dieses furchtbare Zeug in dich hineinstopfen, dann könntest du deine Verbrecher noch schneller fangen.“ Helene stellte eine Schüssel mitten auf den Tisch und reichte Nicole einen Teller. „Matjes in Sahnesoße und Bratkartoffel in Schmalz gebacken. Lass es dir schmecken, min Deern!“

      Nach dem herzhaften Mittagsmahl fühlte Nicole sich ein wenig schläfrig. Sie überlegte, ob sie sich ein Stündchen aufs Ohr legen sollte, schließlich hatte sie Urlaub.

      „Jetzt erzähl schon. Handelt es sich bei dem Toten um den Amerikaner?“

      „Das wissen wir noch nicht und eigentlich dürfte ichmit dir ncht darüber reden, aber …“

      „Das Essen hat dir doch geschmeckt?“ Helene zeigte demonstrativ auf die leere Schüssel und Nicoles nahezu ausgeleckten Teller.

      „Ist ja gut“, seufzte die Kriminalbeamtin. „Vielleicht kannst du mir wirklich helfen. Ich meine, was die Charaktere der Nachbarn betrifft und ihr Verhältnis zu den Häuslers“, fügte sie schnell hinzu, als sie Helenes aufgeregten Gesichtsausdruck sah.

      „Eine Art Profiling, also?“

      „Du schaust definitiv zu viele Krimis.“ Nicole grinste. „Nicht ganz. Der Begriff Profiling bezeichnet allgemein die Erstellung, Aktualisierung und Verwendung von Profilen, beispielsweise zum Zweck der Identifikation, Optimierung, Überwachung oder Vorhersage.“ Nicole bemerkte, wie sie besserwisserisch rüberkam, und sagte deshalb: „Na ja, so ungefähr. Ich hole schnell meinen Laptop. Dann kann ich alles was du mir erzählst, gleich eingeben.“

      „Gut. Aber beeil dich!“, forderte Helene und wedelte mit den Händen.

      „Wieso, hast du noch etwas vor? Oder was soll die Hektik?“

      „Na du sagst doch immer, die ersten Stunden sind entscheidend bei der Klärung eines Falles.“

      „Schon, aber nur wenn die Leiche frisch ist. Was man hier ja nicht gerade behaupten kann.“

      „Stimmt auch wieder“, bestätigte Helene zu. „Trotzdem will ich später nochmal zum Tatort. Vielleicht schnappe ich etwas auf, was uns weiterhelfen kann. Bestimmt haben die Nachbarn dir nicht alles erzählt.“

      Da war es wieder – dieses UNS. Nicole seufzte erneut und rannte die Treppen hinauf in ihre Wohnung. Als sie mit ihrem Laptop unter dem Arm in Helenes Küche zurückkehrte, rutschte diese wie auf glühenden Kohlen sitzend auf ihrem Stuhl herum.

      „Ok, also dann“, sagte Nicole. „Beginnen wir mit Johannes Häusler. Erzähl mir alles, was dir über ihn und seine Familie einfällt.“

      „Hannes war Richter am Amtsgericht, Vorsitzender im Kirchenbeirat, Organist und Mitglied des Kirchenchors. Aber das weißt du ja schon. Er galt