Gabriele Ried-Hertlein

Karibikstrand


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von irgendeiner On-time-to-the-airport-Weck-Einstellung. Nichts! Egal wann, nur zeitig genug, um Herrn oder Frau Schwälbchen und uns mindestens eine halbe Stunde früher aus dem Bett zu holen für unseren Transfer zum Frankfurter Airport.

      Wie immer haben wir exakt dreißig Minuten Zeit für uns eingeplant bis zur Abholung. Rollläden hochziehen, schnell frühstücken, in die bereit gelegte Reisekleidung schlüpfen, ohne umständliches Duschen Gesicht und Haare stylen. Die Winterdaunen für die nächsten fünf Wochen im Bettkasten verstauen und die schicke Tchibo-Tagesdecke auf unser Bett werfen. Das Kaffeegeschirr von Hand spülen, Waschbecken trockenreiben und ein höchst kritischer Rundumblick, damit Waldi, unser korrekter Nachbar, nichts zu reklamieren hat, wenn er jeden Tag durchs Haus geht und unsere Rollläden bewegt. Zum Schluss den Haustürschlüssel in Leos Geldbeutel legen und die vier Gepäckstücke in den Windfang rollen für die Schwälbchens.

      Reicht prima. Keine Hektik, kein Leerlauf.

      Ein zusätzliches Zeitfenster für Staus, Unfälle und Schneckentempo, wie immer beim ersten Schnee auf der Autobahn, ist in Isas fein durchdachter Checkliste überhaupt nicht vorhanden.

      Bei sieben Grad minus drückt Herr Schwalb viertel nach sechs auf unsere Haustürklingel. Kein bisschen früher als in unserer E-Mail angegeben und per SMS gestern Abend noch einmal bestätigt. Munter und wie immer fast noch ein bisschen mehr in Urlaubvorfreude als wir, streckt er gleich die Arme nach vorn, um Leo mit dem Gepäck zu helfen. Leo winkt ab und rollt alle Kofferteile samt Tennisschlägertasche über die dicke Schneeschicht zum Schwalben-Kombi vor der Haustür. Und ich, im weißen Nadelstreifen-Hosenanzug, goldmetallic glänzenden Pumps, weißer Winterjacke und zweimal um den Hals gewickeltem Pashmina-Schal, schleiche vorsichtig um das Auto an der Heckklappe vorbei und springe mit einem Satz auf den Rücksitz hinter dem Fahrer.

      "Lia, unser Enkelkind, war über Nacht bei uns. Deswegen fahre ICH Sie zum Flughafen. Das nächste Mal wieder meine Frau. Sie hätte Sie gern gefahren."

      Ich nicke, verschränke die Arme und friere. Vor Nervosität.

      Wir haben fünf wundervolle Wochen am dominikanischen Traumstrand in unserem prachtvollen Fünfsterne-Palace-Hotel vor uns. Jetzt im Winter, wenn der Himmel hier grau ist, die Füße abends schnell kalt werden und mir bang wird, wenn die ersten Schneeflocken sich herunter wagen.

      Schnee engt mich ein. Bei Glätte kann ich nicht mit strammen, langen Schritten mit Leo durch den Mannheimer Waldpark laufen oder die Friedenshöhe im Oftersheimer Wald in flottem Tempo hochsteigen, bis die Wangen sich röten. Oder allein mit mir und meinen Gedanken über die Felder joggen. Die Mütze tief über die Stirn gezogen, schnell und rhythmisch, ungebremst.

      Spiegelglätte, eisgefrorene Fahrspuren ließen schon mein Herz rasen, als ich bis vor einem Jahr noch frühmorgens in mein hektisches Parteibüro fuhr und machten mich bei stockdunkler Schlitterheimfahrt bei Anbruch der Nacht noch zorniger. Leo liebt mich trotz meiner Schneephobie und kutschiert mich jetzt als Neurentnerin egal wie hoch der Schnee liegt überall hin. Sogar zu meiner alten Schulfreundin Karin im letzten Haus in der engen, ansteigenden Sackgasse, in die Always-Forget-Schneeräumdienst-Zone. Ich halte jedes Mal die Luft an, wenn er von der glatten Straße kunstvoll über den zugeschneiten Randstein hochrutscht und mit Effet exakt drei Schritte vor ihrem Bungalow abbremst und gefühlvoll über die hingeschaufelten Schneeberge im Wendehammer zurückgleitet. Elend abhängig fühle ich mich von ihm in diesen grauenhaften Glättetagen.

      "Winter adé, lieber Herr Schwalb!",

      triumphiere ich und atme tief durch, als er aus dem verschneiten Mannheim-Vorort herausfährt und auf die Schnellstraße zur Autobahn nach Frankfurt abbiegt.

      Für den Finanzbuchhalter und Zweitjobber Ewald Schwalb das ermutigende Stichwort, jetzt endlich mit einem Abriss der Familienereignisse des letzten halben Jahres, seit er uns das letzte Mal gefahren hat, und geplante Urlaube mit und ohne Enkelkind durchstarten zu können. In den Momenten, wenn er im Schneegestöber einen LKW überholt oder Luft holt für den nächsten Satz, nenne ich ihm mit schräg nach rechts vorgebeugten Oberkörper und nur in kurzen Stichwörtern die neuesten Online-Buchungsportale, aktuelle Gepäckrichtlinien und Tarife bei Airlines.

      Nur Leo wird angesichts der tanzenden Flocken zunehmend still.

      Schwälbchen jedoch gönnt sich in der gleichen Art wie seine lebenspraktische Frau, die während der Fahrt noch mehr in die Familiendetails geht und uns vorbildlich über ihre Erfahrungen mit dem Internetportal 'wer-kennt-wen' auf dem Laufenden hält, immer noch keine Redepause.

      "Trifft ein Bayer einen Friesen, der zehn... "

      "BAUMSTÄMME!!!, Herr Schwalb, riesenlange Baum­stämme!!",

      während ich besorgt dem an der rechten Leitplanke klebenden LKW-Hänger nachschaue, der Baumstämme geladen hatte. Die heruntergerutscht auf langer Strecke meterlang die Außenspur und den Seitenstreifen blockieren.

      Und die Flocken tanzen. Schwälbchen verstummt.

      Gleich kriechen wir genauso langsam wie die beiden Polizeiautos, die mit blinkenden Warnlampen an uns vorbeischleichen.

      "Da vorn in der Biegung, mehrere hundert Meter unbewegliche rote Bremslichter und...",

      Leo neben mir schiebt seinen Kopf noch ein Stück weiter vor zwischen die Vordersitze,

      "...ne Menge blaue Blinklichter. Sieht ziemlich nach Unfall aus."

      "Keine Witze mehr, Herr Schwälbchen. BITTE!"

      "Terminal 1, Eingang E wie immer, Frau Stern?"

      "Stimmt, wie immer. Nur ziemlich zu spät diesmal."

      Mit ungeahnter Frequenz klopft mein Herz, als wir nach folterlangsamem Vorwärtstäppeln, Stand-Modus und beinahe nicht mehr wahrnehmbaren Atemzügen endlich vor dem Terminal 1 aus dem Transporter springen. Nicht mehr auf die Armbanduhr schauen, Schwälbchen zum Abschied schnell umarmen und mit den Koffern in die Halle rasen. Gleich nach links, mit ganz schmal gestellten Pupillen und weit nach vorn gerichtetem Tunnelblick. Zu den Condor-Schaltern ganz, ganz hinten am Ende der Halle.

      Warum poltert mein Herzschlag furios bis zum Anschlag, trommelt ein Orchesterpauken-Puls in meinen Ohren, ruft der Dirigent Leo mir zu, was ich längst mit Grauen immer deutlicher sehe? "MENSCHENLEER bei Condor!"

      Niemand mehr vor oder hinter den Countern. Ausgestorbenes Terrain, als wäre die Pest dort ausgebrochen.

      Leo mit wachem Blick wie vor dem letzten Matchpoint packt mich in unserem Galopp blitzschnell am Arm und dreht mich hastig nach rechts. 'Condor-Business Class' leuchten die blauen Buchstaben über dem Schalter! Direkt neben uns und noch eine halbe Hallenlänge entfernt zum ausgestorbenen Masse-Check-in und Drop-off-Schalter.

      "Punta Cana - 12:35 Uhr - wir haben Premium Economy gebucht!!", und ziehe blitzschnell die Pässe und Online-Bordkarten aus Leos Jackentasche.

      "Normalerweise..... ist kein Check In mehr!"

      "Wir haben zu Hause online eingecheckt und bereits die ausgedruckten Bordkarten!"

      "Oooooh Keehhhjj...", mit viel zu lahmem Blick auf ihren Monitor .

      "Reihe 1 H und K, und bezahlt ist auch schon alles und bestätigt. Hier, die PE-Reservierung! Und Übergepäck haben wir auch schon vorausbezahlt."

      Wie ein Blitz ziehe ich das gefaltete Stück Papier aus Leos Hand und zische es heftig auf den Schalter.

      "Brauche ich ....nicht", nervend ruhig und langsam, die Augen fest am Bildschirm festgesaugt. Eine Ewigkeit.

      "Gehen Sie ...zum Gate C 7..... Aber Sie müssen sich verdammt sputen! Haaaalt!!! Erst noch die Banderolen um Ihr Gepäck!"

      Im Laufschritt zu Body- und Passkontrollen, verfolgt von der nervenden Dauer-Lautsprecher-Durchsage. '"Mr. and Mrs. Stern! Last call for flight DE 4226 to Punta Cana".

      Und ohne Boardingkontrolle durch das Nobody-here-Gate. C 7 und direkt in den dicht besetzten Flughafenbus. Der augenblicklich losfährt in seiner schneegeräumten Spur.

      Beide Hände an der Haltestange der hin und her wabernden Busmittelachse, das Handgepäck eng zwischen die Beine gepresst, meinen