weiter weg warteten. Da Mutti den Auftrag hatte, die Haushälterin zu vernehmen, war sie es auch, die ihr den Durchsuchungsbeschluss für das Pfarrhaus eröffnen musste und sie dann so schonend wie möglich auf die Maßnahme vorbereiten sollte.
»Hast du schon mal bei einem Geistlichen eine Durchsuchung durchgeführt?«, fragte Irina leise ihre Lebensgefährtin. Sie fühlte sich nicht wohl in ihrer Haut. Ihre religiöse Erziehung war russisch-orthodox gewesen und sie empfand sich selbst als gläubig. Dabei war sie sich nicht sicher, ob ihr Glaube mehr auf der Erziehung beruhte oder sie wirklich im tiefsten Inneren glaubte. Sie hatte sich lange unwohl gefühlt, als sie erkannte, dass ihre sexuelle Präferenz bei Frauen lag. Mittlerweile vermutete sie, dass ihr Glaube durch den Realismus des Lebens abgeschwächt worden war.
»Nein, hab ich noch nicht«, antwortete Jenny und riss sie dadurch aus ihren Gedanken.
Irina kehrte wieder in die Realität zurück. »Ist dir nicht unwohl bei dem Gedanken, in dem Privatleben eines Geistlichen zu wühlen?«
Jenny schien in sich hineinzuhorchen und ihre wirklichen Empfindungen zu suchen.
»Wenn ich ehrlich bin ... eigentlich nicht. Ich bin nicht wirklich religiös, wie du weißt, und wenn ich so die Presseberichte der letzten Jahre über die Kirche bedenke, sehe ich auch keinen echten Grund dafür.«
Sie zuckte entschuldigend mit den Schultern und sah Irina dann sorgenvoll von der Seite an. »Aber dir scheint es nicht so richtig gut damit zu gehen, oder?«
Irina überlegte, ob das der richtige Moment war, Jenny über ihre religiösen Probleme zu berichten. Sie entschloss sich dazu, zumindest einen Teil des Problems offenzulegen. Sie standen noch immer auf dem Bürgersteig vor dem Haus, während Mutti die Haushälterin des Opfers auf das vorbereitete, was gleich geschehen würde.
»Ich bin in dem Glauben erzogen worden, dass Geistliche gute Menschen seien. Bis heute habe ich nur darüber gelesen, dass das nicht immer der Fall ist und ...«, sie machte eine Pause, »ich denke, ich habe Angst davor, heute zum ersten Mal persönlich bestätigt zu bekommen, wie wenig sich Geistliche von allen anderen Menschen unterscheiden.«
»Wäre das denn so schlimm?«, warf Jenny überrascht die Frage auf.
Irina machte ein säuerliches Gesicht, da sie bemerkte, dass die Diskussion über dieses Thema ein abendfüllendes Programm ergeben würde. Jetzt und hier waren aber weder der Ort noch die Zeit, dies alles zu besprechen.
»Lass uns das ein andermal vertiefen. Ich glaube, wir können jetzt rein, Mutti scheint der Haushälterin alles so weit erklärt zu haben.«
Ihr war klar, Jenny würde es nicht auf sich beruhen lassen, sondern das Thema bei der nächstbesten Gelegenheit wieder aufgreifen würde. Aber grundsätzlich war es ja genau das, was sie an ihrer Freundin liebte: Offenheit, Ehrlichkeit und keine Angst davor, auch heikle Sachverhalte bis ins kleinste Detail auszudiskutieren.
Gemeinsam näherten sie sich mit zwei Uniformierten, einer jungen Kollegin und einem älteren Kollegen, der Eingangstür. Im direkt hinter der Tür liegenden Vorraum übernahm Jenny, die schon länger als Irina bei der MK II war, wie selbstverständlich die Führung.
»Okay, ich schlage vor, wir teilen uns auf. Wer von euch kann besser zeichnen?«, richtete sie die Frage an die beiden Uniformierten. Die beiden sahen sich kurz an, und es wurde sofort klar, dass sie nicht das erste Mal bei einer Durchsuchung unterstützten.
»Das mit der Grundrisszeichnung übernehme ich«, erklärte sich die junge Beamtin sofort bereit.
Irina war sich sicher, dass sie wusste, worauf es ankam. Sie sollte weder eine technische Zeichnung noch einen Grundriss wie vom Architekten erstellen, lediglich eine Zeichnung, auf der für jedes Stockwerk ersichtlich war, welches Zimmer wo lag oder an welchen andern Raum angrenzte.
In diesem groben Plan würden alle Zimmer eine fortlaufende Nummer erhalten. Dann konnten alle eventuellen Funde mit einer eindeutigen Nummer versehen und in dem Plan eingezeichnet werden.
»Gut, danke«, fuhr Jenny fort, der beide Kollegen namentlich bekannt waren, »Sei du bitte so gut, Horst, nimm dir den Keller vor, ich fange im Erdgeschoss an und du, Irina, nimmst dir das Obergeschoss vor. Ich denke mal, wir werden vor keine unlösbare Aufgabe gestellt, so groß ist das Haus ja schließlich nicht.«
Bevor sie jedoch mit der eigentlichen Durchsuchung begannen, gingen sie alle Räumlichkeiten des Pfarrhauses ab, um sich gemeinsam einen Überblick zu verschaffen.
Das Erdgeschoss wies vier Räume auf, die unschwer als die Domäne der Haushälterin zu erkennen waren: Eine Küche, ein Esszimmer, einen Schlafraum und ein kleines Bad. Über eine sehr steile und schmale Treppe ging es in das Obergeschoss, wo das Schlafzimmer des Pfarrers, sein Büro sowie sein Badezimmer beheimatet waren.
Da sie unten begonnen hatten, trennten sie sich im Obergeschoss auf, ließen also Irina dort zunächst allein zurück. Vorher wies Jenny alle an, sich sofort zu melden, wenn sie etwas von Wichtigkeit finden würden.
Dabei hatte sie allerdings nicht gesagt, was in ihren Augen ›von Wichtigkeit‹ sein könnte, dachte Irina.
Als sie alleine war, fiel es ihr erstmals schwer, sich zu entscheiden, wo sie anfangen sollte.
Sie entschied sich dafür, zunächst in dem kleinen Büro mit ihrer Suche zu beginnen. Der zierliche Schreibtisch schien ordentlich und aufgeräumt zu sein, und zu ihrer Überraschung waren alle Schubladen unverschlossen. Sie wühlte in den darin gelagerten Papieren und konnte nichts entdecken, was ihr verdächtig oder ungewöhnlich vorkam. Überwiegend handelte es sich um kirchliche Unterlagen, Entwürfe von Predigten, Bibelstellen, Liedvorschläge für die verschiedenen Messen, Namenslisten von Kommunionkindern und Katecheten, Protokolle von Sitzungen des Pfarrgemeinderates und so weiter. Alles erschien ihr ohne großen Belang über das Berufliche hinaus zu sein. Nichts davon schien auch nur einen entfernten Hinweis auf einen möglichen Zusammenhang mit dem Ableben des Pfarrers zu enthalten. Dennoch versuchte sie sich zu merken, welche Unterlagen hier gelagert wurden, um zu einem späteren Zeitpunkt vielleicht darauf zurückgreifen zu können.
In einer anderen Schublade fand sie persönliche Dinge: Mitgliedsausweis des Tennisvereins, Beitragsquittungen und ... Bankunterlagen und Kontoauszüge!
Bereits ein kurzer Blick in die Kontounterlagen war enttäuschend. Keine außergewöhnlichen Kontobewegungen, keine großen Summen. Dennoch legte sie zwei Stapel Auszüge beiseite, um sie später ordentlich einzutüten.
Insgesamt erschienen ihr die Schubladen eher unergiebig.
Den mitten auf dem Schreibtisch stehenden Laptop hatte sie bisher ungeprüft gelassen. Nun klappte sie ihn auf und schaltete ihn ein. Dazu setzte sie sich auf den bequemen Bürodrehstuhl und wartete geduldig, dass der Rechner startete und das Betriebssystem hochfuhr. Ihre Befürchtung bestätigte sich, als der Startprozess abgeschlossen war und das Betriebssystem die Eingabe eines Passworts verlangte.
Na toll! Wieder mal was für Schmuddel. Hoffentlich bekommt er das Passwort geknackt.
Sie klappte den Laptop wieder zu und nahm sich vor, ihn mitzunehmen und später Schmuddel auszuhändigen.
An einer Seite des kleinen Büros befand sich noch eine Bücherwand. Da es keine anderen zu durchsuchender Behältnisse gab, sie in der folgenden Viertelstunde jedes Buch aus dem Regal und sah nach, ob eventuell darin oder dahinter etwas versteckt war. Frustriert schob sie zum Ende ihrer Durchsicht das letzte Buch wieder hinein, legte die Kontoauszüge auf den Laptop und wandte sich dem nächsten Zimmer zu - dem Schlafraum des Pfarrers.
Ihr erster Eindruck war, dass dieser Raum einen unordentlichen und ungepflegten Eindruck machte. Warum ist das wohl so? Wofür hat er eine Haushälterin, die doch für Ordnung und Sauberkeit sorgen sollte?, fragte sie sich verwundert. Das Zimmer enthielt nichts außer einem recht großen Bett, einem Kleiderschrank und einem Nachttisch neben dem Kopfende des Bettes. Der Boden des Zimmers bestand aus alten Dielen, auf denen ein billiger und abgewetzter Teppich lag.
Das Bett war zwar gemacht, aber es sah nicht so aus, als habe es jemand gemacht, der das gut konnte.
Wenn